Das Weihnachtsversprechen
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der neue Weihnachtskrimi von Anne Perry - in der Hardcover- Geschenkausstattung
Minnie Maude irrt weinend durch die kalten Straßen Londons. Ihr Onkel Alf wurde kurz vor Weihnachten tot aufgefunden, sein Esel Charlie ist verschwunden. Obwohl Minnie...
Minnie Maude irrt weinend durch die kalten Straßen Londons. Ihr Onkel Alf wurde kurz vor Weihnachten tot aufgefunden, sein Esel Charlie ist verschwunden. Obwohl Minnie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Weihnachtsversprechen “
Der neue Weihnachtskrimi von Anne Perry - in der Hardcover- Geschenkausstattung
Minnie Maude irrt weinend durch die kalten Straßen Londons. Ihr Onkel Alf wurde kurz vor Weihnachten tot aufgefunden, sein Esel Charlie ist verschwunden. Obwohl Minnie Maude verfolgt und bedroht wird, versucht das Mädchen, das Rätsel um Alfs Tod zu lösen. Doch dann verschwindet auch sie spurlos.
Minnie Maude irrt weinend durch die kalten Straßen Londons. Ihr Onkel Alf wurde kurz vor Weihnachten tot aufgefunden, sein Esel Charlie ist verschwunden. Obwohl Minnie Maude verfolgt und bedroht wird, versucht das Mädchen, das Rätsel um Alfs Tod zu lösen. Doch dann verschwindet auch sie spurlos.
Klappentext zu „Das Weihnachtsversprechen “
Der neue Weihnachtskrimi von Anne Perry - in der Hardcover- GeschenkausstattungMinnie Maude irrt weinend durch die kalten Straßen Londons. Ihr Onkel Alf wurde kurz vor Weihnachten tot aufgefunden, sein Esel Charlie ist verschwunden. Obwohl Minnie Maude verfolgt und bedroht wird, versucht das Mädchen, das Rätsel um Alfs Tod zu lösen. Doch dann verschwindet auch sie spurlos.
Lese-Probe zu „Das Weihnachtsversprechen “
Das Weihnachtsversprechen von Anne PerryAus dem Englischen von Regina Schirp
Schon eine Woche vor dem Fest war die
Luft erfüllt von weihnachtlichen Düften, und eine
Geschäftigkeit und festliche Unruhe bestimmten die
Tage. Vor den Metzgerläden hingen Gänse- und Kaninchenbraten,
und Stechpalmenzweige schmückten
die Haustüren. Die Postboten hatten alle Hände voll
zu tun. Das Wetter war, wie immer um diese Jahreszeit,
grau, der Wind schneidend kalt, und der Regen
ging langsam in Schneeregen über. Wäre es anders
gewesen, hätte etwas gefehlt.
Gracie Phipps war gerade unterwegs, um eine Besorgung
für ihre Großmutter zu erledigen. Sie sollte
möglichst günstig Kartoffeln kaufen, die dann mit
den Kohl- und Zwiebelresten daheim zu einem Eintopf
zum Abendessen verkocht werden sollten. Spike
und Finn schlangen zwar alles, was man ihnen vorsetzte,
wahllos herunter, aber dieses Gericht‚ »Bubble
and Squeak«, mochten sie besonders gerne. Noch besser
wäre es natürlich mit einem Stück Wurst gewesen,
aber dazu war jetzt kein Geld da. Es wurde alles für
Weihnachten gespart.
... mehr
Gracie lief jetzt etwas schneller gegen den Wind an
und zog ihr Schultertuch fester um sich. Im Einkaufsnetz
hatte sie die Kartoffeln und einen halben Kohlkopf.
An der Ecke Heneage Street und Brick Lane
sah sie bei den Kerzenziehern ein Mädchen stehen.
Ihr rötliches, helles Haar war vom Wind zerzaust, und
sie hatte die Arme eng um sich geschlungen, um sich
zu wärmen. Sie war etwa acht Jahre alt, fünf Jahre
jünger als Gracie, und klapperdürr. Sicher hatte sie
sich verirrt. Sie war nicht von hier, auch nicht aus der
Chicksand Street - eine Straße weiter. Gracie wohnte
in dieser Gegend, seit sie vom Land nach London
gekommen war, damals vor sechs Jahren, im Jahre
1877, als ihre Mutter gestorben war. Sie kannte jeden
hier.
»Hast dich wohl verlaufen?«, fragte sie, als sie bei
dem kleinen Mädchen angelangt war. »Das hier ist
die Heneage Street. Wo kommst du her?«
Das Mädchen sah sie mit weit aufgerissenen, grauen
Augen an und versuchte tapfer, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Thrawl Street«, antwortete sie. Die Straße
war zwei Straßen weiter westlich, auf der anderen
Seite der Brick Lane, in einer ganz anderen Gegend.
»Das ist da lang«, deutete Gracie ihr.
»Weiß schon, wo die is.« Das Mädchen machte keinerlei
Anstalten sich zu bewegen. »Onkel Alf is umgebracht
worden, und Charlie is weg. Muss ihn unbedingt
finden. Bestimmt friert er und hat Hunger und
Angst«, sagte sie in breitem Cockney-Akzent. Ihre
Augen füllten sich wieder mit Tränen, sie wischte sich
mit dem Ärmel übers Gesicht und schniefte. »Hast
du'n Esel gesehen? Einen, den du nich kennst? 'nen
grauen mit braunen Augen und 'nem hellen Fleck an
der Nase?« Sie sah Gracie plötzlich hoffnungsvoll an.
»Er is ungefähr so groß.« Sie hob ihre kleine, schmutzige
Hand.
Gracie hätte gerne geholfen, aber sie hatte keine
Tiere gesehen, außer dem Pferd vom Kohlenhändler
am Ende der Straße und ein paar streunende Hunde.
Selbst Pferdedroschken kamen äußerst selten in diesen
Teil des East Ends. In die Commercial Street oder
die Whitechapel Road vielleicht schon, wenn sie da
durch mussten. Sie blickte dem kleinen Mädchen in
das erwartungsvolle Gesicht und wurde ganz traurig.
»Wie heißt du denn?«, fragte sie.
»Minnie Maude Mudway«, antwortete die Kleine.
»Hab mich aber nich verirrt. Suche nur Charlie. Der
hat sich verlaufen, und vielleicht is ihm was passiert.
Hab dir ja schon gesagt, mein Onkel Alf is umgebracht
worden. War erst gestern, und jetzt is Charlie
weg. Der wär schon wiedergekommen, wenn er's
gekonnt hätte. Bestimmt hat er Hunger und friert,
und ich weiß nich, wo er is.«
Gracie war ganz außer sich. Die ganze Geschichte
ergab doch keinen Sinn. Warum sollte sich Minnie
Maude um einen verschwundenen Esel Gedanken
machen, wenn ihr Onkel gerade getötet worden war?
Sie konnte das Mädchen nicht einfach an der zugigen
Straßenecke stehen lassen. Gleich würde es dunkel
werden. Es war schon nach drei Uhr, und es sah nach
Regen aus. »Wo ist denn deine Mutter?«, fragte sie.
»Hab keine«, antwortete Minnie Maude. »Nur Tante
Bertha, aber die sagt, das macht nichts wegen Charlie.
N'Esel is nur'n Esel.«
»Also, wenn dein Onkel tot ist, macht sie sich jetzt
um einen Esel bestimmt keine Gedanken.« Gracie
versuchte, vernünftig zu sein. »Was wird jetzt aus ihr
ohne ihn? Denk doch mal. Vielleicht hat sie Angst
oder so.«
Minnie Maude blinzelte. »Onkel Alf war ihr nich so
wichtig«, erklärte sie. »War nur der Bruder von meinem
Vater.« Sie schniefte jetzt noch mehr. »Onkel Alf
hat immer schöne Geschichten erzählt. Der is rumgekommen
und hat alles besser mitgekriegt wie alle
anderen. So wie die Leute wirklich sind, nich nur, was
du von außen siehst. Konnte in sie reinschaun. Er hat
mich immer zum Lachen gebracht.«
Minnies schlimmer Verlust rührte Gracie sehr.Vielleicht
suchte sie in Wirklichkeit nach ihrem Onkel Alf,
und die Suche nach Charlie war nur ein Vorwand, um
sich von dessen Tod abzulenken. Leute, die einen
zum Lachen brachten, waren etwas Besonderes.
»Tut mir leid«, sagte sie sanft. Es war noch gar nicht
so lange her, bis sie sich selbst eingestanden hatte,
dass ihre Mutter niemals zurückkommen würde.
»Er's umgebracht worden«, wiederholte Minnie
Maude. »Gestern.«
»Dann geh mal lieber schnell nach Hause«, sagte
Gracie mit Nachdruck. »Deine Tante fragt sich bestimmt
schon, ob dir was passiert ist.Vielleicht ist Charlie
ja auch schon von selbst nach Haus gekommen.«
So wie sie da im Wind stand und zitterte und mit
ihren Kräften fast am Ende war, sah Minnie Maude
einerseits sehr unglücklich, aber andererseits auch
trotzig aus. »Is er nich. Der weiß ja nich, wie er nach
Hause kommt, sonst wär er schon gestern da gewesen.
Er friert und hat Angst und is ganz allein. Nur er
und ich wissen, was mit Onkel Alf passiert is. Tante
Bertha sagt, er is wo runtergefallen, auf 'n Kopf geschlagen
und hat sich wahrscheinlich das Genick gebrochen.
Und Stan sagt, es is sowieso egal, weil tot is
tot, und wir sollen ihn anständig begraben, und dann
geht alles normal weiter. Keine Zeit zum Rumsitzen.
Stan is'n Kutscher, kommt überall rum. Der kriegt
aber nich so viel mit wie Onkel Alf. Der stolpert über
was und sieht nich richtig, was's is. Onkel Alf sagt, er
sieht schon, was's is, merkt aber nich, was es sein könnte!
Der hat nich gemerkt, dass'n Esel so gut wie'n
Pferd is.«
Allerdings nicht für eine Kutsche, dachte Gracie.
Wer hat schon mal gesehen, dass eine Kutsche von
einem Esel gezogen wird? Aber das sagte sie nicht.
»Und Tante Bertha kann nich mit Tieren. Mit Katzen
schon, wegen der Mäuse.« Sie schluckte und
wischte sich mit dem Ärmel noch mal die Nase.
»Hilfst du mir, Charlie zu finden? Bitte!«
Gracie kam sich ziemlich nutzlos vor. Warum nur
war sie nicht früher losgegangen, als ihre Oma sie mit
den Besorgungen beauftragt hatte. Dann wäre sie
jetzt nicht hier bei dem Mädchen, die etwas ganz und
gar Unmögliches von ihr verlangte. Sie war traurig
und fühlte sich schuldig, aber es war völlig ausgeschlossen,
jetzt im Dunkeln durch die nassen, winterlichen
Straßen zu ziehen, um nach einem Esel Ausschau
zu halten. Sie musste mit den Kartoffeln nach
Hause, damit ihre Oma das Abendessen machen
konnte, für sie und für die beiden hungrigen kleinen
Jungs, die ihr Sohn, Gracies Onkel, ihr hinterlassen
hatte, als er starb. Die beiden waren bald alt genug,
um ihr Geld selbst zu verdienen, aber im Moment
stellten sie noch eine große Belastung dar. Gracies
Großmutter konnte auch nicht mehr als Wäsche anderer
Leute zu waschen, jede wache Minute und
manchmal sogar, wenn sie sich kaum noch auf den
Beinen halten konnte. Gracie half ihr mit Besorgungen.
Sie war stets bemüht zu helfen, trug Sachen hierhin
und dorthin, kehrte, putzte, schrubbte. Aber sobald
Spike und Finn auf eigenen Füßen stehen
würden, würde auch sie, wie die anderen Mädchen,
zum Arbeiten in die Fabrik müssen.
»Das geht nicht«, sagte sie leise. »Ich muss mit den
Einkäufen nach Hause, sonst knabbern die Jungs
noch an den Stühlen. Außerdem muss ich meiner
Oma helfen.« Sie wollte sich entschuldigen, aber
wozu? Es würde sowieso nichts ändern.
Minnie Maude nickte, sie atmete tief ein und aus
und beruhigte sich ein wenig.
»Schon gut. Dann such ich Charlie eben alleine.«
Sie schniefte nochmals und machte sich auf den
Heimweg. Der Himmel wurde immer dunkler, und
im starken und kalten Wind fielen die ersten dicken
Regentropfen.
Als Gracie die Hintertüre zu der kleinen Wohnung,
die sie in der Heneage Street bewohnten, aufstieß,
stand ihre Großmutter schon vor einer Schüssel mit
Wasser, um die Kartoffeln zu waschen und zu
schälen. Sie sah erschöpft aus. Den ganzen Tag lang
hatten ihre Arme bis zu den Ellbogen in der heißen,
ätzenden Lauge gesteckt. Mit schmerzenden Schultern
hatte sie die nasse Bettwäsche anderer Leute
von einem Becken zum anderen gehievt, und ihr
Rücken hatte so wehgetan, dass sie sich kaum noch
rühren konnte. Dann musste sie die Laken wieder
hochheben, sie durch die Mangel drehen und das
Wasser herauspressen, damit sie schneller trocknen
konnten. Erst dann konnte sie die Wäsche zurück geben
und ihr Geld bekommen. Sie brauchten das
Geld dringend für die Miete, das Essen, Schuhwerk,
für ein paar Holzspäne und etwas Kohle zum Heizen,
und natürlich für Weihnachten.
Gracie wurden die Kleidungsstücke selten zu klein.
Sie schien bei einem Meter fünfzig mit dem Wachsen
aufgehört zu haben, und die abgetragenen Sachen
wurden immer wieder geflickt. Aber man konnte
buchstäblich zusehen, wie Spike und Finn wuchsen,
und das war auch kein Wunder, bei den Mengen, die
sie verschlangen.
Das Essen war gut, und alles wurde bis auf den letzten
Rest aufgegessen. Sie mussten sorgfältig haushalten,
und jeder Leckerbissen wurde für Weihnachten
aufgehoben. Spike und Finn zankten sich noch wie
üblich, gingen dann aber um sieben ganz brav ins
Bett. Es gab zwar keine Uhr, aber wenn man auf die
Geräusche der Straße achtete, auf die Schritte, die
kamen und gingen, auf die Stimmen der Leute, die
man kannte, dann hatte man eine ziemlich genaue
Ahnung von der Uhrzeit.
Sie hatten zwei Zimmer, was eigentlich gar nicht so
schlecht war. Eine Küche mit einem Zinnwaschbecken,
einen Herd zum Kochen und Heizen und
einen Tisch mit drei Stühlen und einem Hocker. Und
dann gab es auch noch das Brett zum Kleinhacken,
Bügeln und gelegentlichen Backen. Vor der Hintertür
befand sich eine Abflussrinne, am Ende der
Straße ein Brunnen und hinten im Hof ein Toilettenhäuschen.
Im zweiten kleinen Zimmer standen die
Betten von Grace und ihrer Oma auf der einen Seite
und auf der anderen hatten sie so eine Art Schlaf-
platz für die Jungs eingerichtet. Darauf lagen sie jetzt,
jeweils an einem Ende.
Gracie konnte nicht gut schlafen, obwohl es ihr
warm genug war. Minnie Maude Mudway ging ihr
einfach nicht aus dem Kopf, wie sie da in der Däm-
merung ganz alleine an der Straßenecke gestanden
hatte, traurig wegen des Todes ihres Onkels und wegen
des Esels, der vielleicht verschwunden war, vielleicht
aber auch nicht. Das bewegte sie die ganze Nacht,
und als sie am trüben, eiskalten Morgen aufwachte,
fühlte sie sich immer noch ganz elend.
Sie stand auf, ohne die Großmutter zu stören, die
jede Minute Schlaf dringend brauchte. Sie zog sich
ganz schnell an, um sich vor der eiskalten Luft im
Zimmer zu schützen. Die Fenster waren innen und
außen mit Eis überzogen.
Auf Zehenspitzen ging sie in die Küche, zog ihre
Stiefel an und knüpfte sie zu. Sie fing an, die Asche
aus dem Küchenherd zu entfernen, damit sie ein
neues Feuer machen konnte, um das Wasser für den
Haferbrei zu erhitzen. Nicht jeder konnte sich so
etwas leisten, und sie freute sich jeden Tag erneut
darüber.
Der Tag war noch nicht ganz angebrochen, als
Spike und Finn in die Küche kamen, aber langsam
wurde der Himmel über den Dächern schon heller.
Sie waren gut gelaunt, dachten sich allerlei Unfug aus
und freuten sich über alles, was es zu essen gab: den
Haferbrei, den Brotkanten und den Klecks Schmalz.
Um halb neun waren die beiden weg, um für die Frau
im Eckladen Botengänge zu machen, und Großmutter,
von einer Tasse Tee gestärkt, versicherte, dass ihr
eine Tasse völlig reiche, und machte sich auf den Weg
zur Wäscherei.
Gracie erledigte die Hausarbeit, wusch das Geschirr
ab, kehrte und wischte Staub, goss das Abwasser
weg und holte frisches Wasser vom Brunnen am
Ende der Straße. Es war kalt, auf den Pflastersteinen
lag Raureif, und ein starker Ostwind kündigte
Schneeregen an.
So gegen neun Uhr hielt sie ihr schlechtes Gewissen
nicht mehr aus. Sie zog sich den wärmsten Umhang
aus festem graubraunen Tuch über und ging auf
die Straße hinaus, um an der Ecke nach Minnie
Maude Ausschau zu halten.
London war zusammengesetzt aus einer riesigen
Ansammlung einzelner Dörfer, die alle ineinander
übergingen. Einige waren reich, andere arm, aber
nichts war schäbiger als die Flower und die Dean
Street, die beide von verrotteten Behausungen gesäumt
waren, in denen manchmal acht bis zehn Personen
in einem Raum wohnten. Hier gab es überall
Prostituierte, Diebe, Betrüger, Einbrecher, Stern deuter,
Hehler, andere zwielichtige Gestalten und
jede Menge Taschendiebe.
Eigenartig, aber die Grenzen blieben bestehen. Jedes
Dorf hatte seine Merkmale und Eigenheiten,
seine eigene Rangordnung und unverwechselbare
Verhaltensregeln, bestimmte eigene Nationalitäten
und Religionen. Gleich auf der anderen Seite der
Commercial Street zum Beispiel wohnten vorwiegend
russische und polnische Juden. In der anderen
Richtung lag Whitechapel. Thrawl Street, wo Minnie
Maude sagte, dass sie wohnte, war außerhalb von
Gracies Bezirk. Nur etwas so Dummes wie ein Esel
würde einfach so von einem Viertel in das andere laufen,
als gäbe es keine Grenzen, auch wenn diese unsichtbar
waren. Charlie, das arme Tier, konnte man
nicht dafür verantwortlich machen, aber Minnie
Maude kannte die Grenzen und Gracie natürlich
auch.
An der Ecke pfiff der Wind noch stärker. Er fegte
durch die Straße, heulte über den Dachsimsen der
verwahrlosten Häuser, deren Außenmauern im Laufe
der Jahre abgeblättert und verwittert waren. Die
Regenrinnen waren kaputt, die Wände voller Wasserflecken,
feucht und schimmelig. Sie wusste, dass es
innen nach Moder roch, wie nach dreckigen Socken.
Sie rutschte mit ihren Stiefeln über das Eis, und
ihre Füße waren so kalt, dass sie die Zehen nicht
mehr spürte.
Die nächste Straße war sehr belebt, Männer, die zu
den Holzlagern und den Kohlehandlungen in die
Arbeit gingen, Mädchen, die auf dem Weg in die
Streichholzfabrik waren, die etwas weiter weg lag.
Ein Mädchen ging an ihr vorbei, und Gracie konnte
für einen kurzen Augenblick das Gesicht sehen, verunstaltet
von einer Beule, die man »Phossie-Kinn«
nannte, verursacht durch das Phosphor der Streichholzköpfe.
Eine alte Frau trug vornübergebeugt ein
Bündel Wäsche, zwei andere erzählten sich einen
Witz und lachten laut. An der gegenüberliegenden
Ecke stand ein Straßenhändler mit einem Bauchladen
voller belegter Brote, und ein Mann in einem
wallenden Mantel schlurfte die Straße entlang.
Ein Brauereiwagen fuhr vorbei, die Pferde trabten
majestätisch, die Hufe klapperten auf den Steinen,
und das Geschirr glänzte selbst in diesem trüben
Winterlicht. Es gab nichts Schöneres als ein Pferd,
stark und sanftmütig zugleich, die riesigen lang behaarten
Fesseln, die aussahen, als ob sie von einem
Seidenmantel umhüllt wären.
Ein paar Meter dahinter kam ein Straßenhändler in
einem Mantel mit Perlmuttknöpfen, der eine Karre
voller Gemüse schob. Er pfiff eine Melodie vor sich
hin, und Gracie erkannte, dass es ein Weihnachtslied
über fröhliche Gesellen war.
Sie ging schnell vorwärts, um dem Wind zu entkommen.
Um die Ecke würde es geschützter sein. Sie wusste,
welche Straße sie suchte. Sie erinnerte sich an den
Namen, aber sie konnte die Straßenschilder nicht
lesen. Sie würde wohl jemanden fragen müssen, auch
wenn ihr das gar nicht recht war. Es nahm ihr die Unabhängigkeit,
und sie kam sich dumm vor. Wenigstens
würde man Minnie Maude wohl kennen, zumal sich
erst kürzlich ein Todesfall in der Familie ereignet hatte.
Sie wurde misstrauisch beäugt, und fünf Minuten
später stand sie auf dem schmalen Bürgersteig vor
einem heruntergekommenen Ziegelhaus, dessen
graue Holztüre fest geschlossen war, um dem eisigen
Wind standzuhalten.
Bis jetzt hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht,
was sie sagen würde, um ihr Kommen zu erklären.
Sie konnte wohl kaum erzählen, dass sie gekommen
war, um Minnie Maude bei der Suche nach
Charlie zu helfen, denn das hätte sie ihr schon gestern
anbieten können. Ihre Ausrede, zum Abendessen
nach Hause zu müssen, war auch nicht gerade die
beste gewesen. Und überhaupt, Tante Bertha hatte
ja schon gesagt, dass es ihr egal sei, und das schien
Gracie, was immer Minnie Maude davon hielt, durchaus
vernünftig zu sein. Die arme Frau hatte einen
schmerzlichen Verlust erlitten und war wahrscheinlich
ganz außer sich vor Sorge, wie sie jetzt, ohne
einen Ernährer, der Geld nach Hause brachte, über
die Runden kommen sollten. Die Beerdigung musste
ja auch noch bezahlt werden. Da interessierte es sie
bestimmt wenig, einen dummen Esel zu suchen, der
ausgerissen war. Außer vielleicht, er wäre ein paar
Schillinge wert, wenn sie ihn verkaufte.
Wahrscheinlich hatten sie das sowieso schon getan
und wollten Minnie Maude nichts davon sagen. Sie
war zu jung, um die Härten des Lebens ganz zu verstehen.
So wird's gewesen sein, und das war sicher
besser so. Wenn es so wäre, bräuchte sie sich keine
Sorgen mehr zu machen, dass er sich verirrt hatte und
ganz alleine und ängstlich draußen im Regen stand.
Sie stand immer noch unschlüssig auf der Straße,
wechselte von einem Fuß auf den anderen und zitterte
vor Kälte, als plötzlich die Türe aufging und ein
großer Mann mit gewölbtem Brustkorb und O-Beinen
herauskam und seine Hände zusammenschlug,
als wären sie schon taub vor Kälte.
»Mister!« Gracie trat ihm in den Weg. »Wohnt Minnie
Maude hier?«
Er sah sie verblüfft an. »Hab dich noch nie hier
gesehen. Wer bist du?«, wollte er wissen.
»Bin auch noch nie hier gewesen«, sagte sie ganz
vernünftig. »Weiß darum auch nicht, ob sie hier
wohnt.«
Er musterte sie von oben bis unten, die ganzen ein
Meter fünfzig rauf und runter, ihren Umhang, ihr
blasses, kluges kleines Gesicht, ihre dürre Gestalt, bis
zu den abgelaufenen Stiefeln, an denen ein paar
Knöpfe fehlten. »Was willste denn von unsrer Minnie
Maude?«, fragte er misstrauisch.
Gracie sagte einfach das Erste, was ihr in den Sinn
kam. »Hab eine Besorgung für sie. Zwei Pence, wenn
sie's gut macht. Alleine kann ich's nicht machen«,
fügte sie noch hinzu, damit das Angebot nicht zu
großzügig erschien.
»Na, dann hol ich sie mal«, erwiderte er umgehend,
machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus
zurück. Kurz darauf erschien er wieder, mit Minnie
Maude im Schlepptau. »Da is sie.« Er schubste sie
vor. »Dann mach dich mal nützlich«, sagte er ganz
schnell, als ob sie unwillig wäre.
Minnie Maude sah Gracie mit weit geöffneten,
überraschten Augen voller Dankbarkeit an, was in
keinem Verhältnis zu dem Zweipencejob stand, zumal
der ja auch den ganzen Tag dauern könnte. Für
eine Achtjährige waren zwei Pence sehr viel. Gracie
war dreizehn, und das war mehr Geld als sie selbst
hatte. Aber sie musste ein gutes Angebot machen, damit
der Mann es Minnie Maude überhaupt sagte und
damit sie es annehmen durfte. Sie würde sich später
darum kümmern, wo sie die zwei Pence herbrächte.
»Dann mal los!«, sagte sie laut, schnappte sich
Minnie Maudes Arm und zog sie von dem Mann mit
den O-Beinen weg und so schnell die Straße entlang,
wie es auf dem Eis möglich war.
»Hilfst du mir jetzt, Charlie zu finden?«, fragte
Minnie Maude ganz außer Atem. Mit Müh und Not
konnte sie auf der rutschigen Straße mit Gracie
Schritt halten.
Jetzt war es zu spät zum Ablehnen. »Ja«, willigte
Gracie ein. »Wird wohl auch nicht lange dauern.
Irgendjemand wird ihn schon gesehen haben. Hat
vielleicht nur Angst gekriegt und ist weggerannt.
Früher oder später kommt er bestimmt wieder nach
Hause. Was ist denn eigentlich mit deinem Onkel Alf
passiert?« Jetzt, wo sie um die Ecke gebogen und
wieder in der Brick Lane waren, ging sie etwas
langsamer.
»Weiß auch nich«, sagte Minnie Maude ganz unglücklich.
»Haben ihn in der Richard Street, in Mile
End gefunden. Lag da mit 'nem Loch im Kopf und
lauter blutigen Verletzungen überall. Sie haben ge-
sagt, er is vom Karren gefallen. Aber Charlie wär nie
einfach weggegangen und hätt ihn so da liegen lassen.
Hätt er auch gar nich können. Er war ja an der
Deichsel festgemacht.«
»Wo ist dann der Karren?«, fragte Gracie nüchtern.
»Das is's ja!«, rief Minnie Maude aus und blieb abrupt
stehen. »Der is weg! Verschwunden. Deshalb
weiß ich ja, dass sie ihn fertiggemacht haben.«
Gracie schüttelte den Kopf und blieb neben ihr stehen.
»Wer soll das denn gewesen sein? Was war denn
auf'm Karren drauf? Milch? Kohle? Kartoffeln?« Sie
hatte immer mehr das Gefühl, dass sich Minnie Mau-
de statt in der Wirklichkeit in ihrer eigenen Welt
voller Trauer und Verlust befand. »Wer bringt schon
jemand wegen einem Karren voller Kartoffeln um?
Er ist einfach so gestorben, der Arme, wahrscheinlich
vom Karren gefallen. Dann hat ihm irgend so ein verkommener
Rumtreiber den Karren mit allem drauf
geklaut und Charlie gleich mit. Aber auch wenn's
Mistkerle waren«, fügte sie noch schnell hinzu, »werden
die sich um Charlie kümmern, weil er was wert is.
Esel kann man brauchen.«
»Es war aber keine Milch oder so auf'm Wagen«,
sagte Minnie Maude und ging jetzt langsamer neben
Gracie her. »Er war'n Lumpensammler, aber manchmal
hatte er richtig schöne Sachen, echte Schätze.
Alles Mögliche.« Was, sagte sie nicht.
Gracie sah Minnie von der Seite an. Sie war ungefähr
zehn Zentimeter kleiner als Gracie, aber genau
so dünn. Ihre mit Sommersprossen übersäte Nase
kniff sie jetzt vor lauter Sorgen zusammen. Gracie
überkam plötzlich heftiges Mitleid für sie.
»Vielleicht kommt er ja von allein wieder«, sagte
sie so ermutigend wie möglich. »Wenn er nicht irgendwo
in einem schönen Stall steht und nicht rauskann.
Ich glaube, jemand hat sich den Karren geschnappt,
weil da was Brauchbares drauf war. Aber
ein Esel ist nicht dumm.« Eigentlich kannte sie gar
keinen Esel, aber dafür das Pferd vom Kohlenhändler,
und das war richtig klug. Es fand immer heraus,
wo die Karotte war, egal, in welche Tasche man sie
hineinsteckte.
Minnie Maude zwang sich zu einem Lächeln.
»Klar«, sagte sie tapfer. »Wir müssen nur suchen, bevor
er sich ganz verläuft und den Weg zurück nich
mehr findet. Ich weiß gar nich, wie weit er schon rum-
gekommen ist. Wahrscheinlich weiter als wie ich.«
»Na dann los.« Gracie gab ihren gesunden Menschenverstand
für einen schwachen Augenblick des
Mitleids auf. Minnie Maude war ein starkes kleines
Mädchen, aber auch völlig durcheinander. Wer weiß,
was passieren würde, wenn man sie alleine ließe.
Gracie würde sich ein oder zwei Stunden auf das
Ganze einlassen, soviel Zeit hatte sie. Vielleicht war
Charlie bis dahin schon zurück.
»Danke«, sagte Minnie Maude anerkennend. »Wo
fangen wir an?« Sie blickte Gracie hoffnungsvoll
an.
Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2010
Copyright © 2009 by Anne Perry
Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe
Random House GmbH
Printed in Germany 2010
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie
Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Motivs
von © The Bridgeman Art Library/GettyImages
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-43532-2
www.heyne.de
Gracie lief jetzt etwas schneller gegen den Wind an
und zog ihr Schultertuch fester um sich. Im Einkaufsnetz
hatte sie die Kartoffeln und einen halben Kohlkopf.
An der Ecke Heneage Street und Brick Lane
sah sie bei den Kerzenziehern ein Mädchen stehen.
Ihr rötliches, helles Haar war vom Wind zerzaust, und
sie hatte die Arme eng um sich geschlungen, um sich
zu wärmen. Sie war etwa acht Jahre alt, fünf Jahre
jünger als Gracie, und klapperdürr. Sicher hatte sie
sich verirrt. Sie war nicht von hier, auch nicht aus der
Chicksand Street - eine Straße weiter. Gracie wohnte
in dieser Gegend, seit sie vom Land nach London
gekommen war, damals vor sechs Jahren, im Jahre
1877, als ihre Mutter gestorben war. Sie kannte jeden
hier.
»Hast dich wohl verlaufen?«, fragte sie, als sie bei
dem kleinen Mädchen angelangt war. »Das hier ist
die Heneage Street. Wo kommst du her?«
Das Mädchen sah sie mit weit aufgerissenen, grauen
Augen an und versuchte tapfer, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Thrawl Street«, antwortete sie. Die Straße
war zwei Straßen weiter westlich, auf der anderen
Seite der Brick Lane, in einer ganz anderen Gegend.
»Das ist da lang«, deutete Gracie ihr.
»Weiß schon, wo die is.« Das Mädchen machte keinerlei
Anstalten sich zu bewegen. »Onkel Alf is umgebracht
worden, und Charlie is weg. Muss ihn unbedingt
finden. Bestimmt friert er und hat Hunger und
Angst«, sagte sie in breitem Cockney-Akzent. Ihre
Augen füllten sich wieder mit Tränen, sie wischte sich
mit dem Ärmel übers Gesicht und schniefte. »Hast
du'n Esel gesehen? Einen, den du nich kennst? 'nen
grauen mit braunen Augen und 'nem hellen Fleck an
der Nase?« Sie sah Gracie plötzlich hoffnungsvoll an.
»Er is ungefähr so groß.« Sie hob ihre kleine, schmutzige
Hand.
Gracie hätte gerne geholfen, aber sie hatte keine
Tiere gesehen, außer dem Pferd vom Kohlenhändler
am Ende der Straße und ein paar streunende Hunde.
Selbst Pferdedroschken kamen äußerst selten in diesen
Teil des East Ends. In die Commercial Street oder
die Whitechapel Road vielleicht schon, wenn sie da
durch mussten. Sie blickte dem kleinen Mädchen in
das erwartungsvolle Gesicht und wurde ganz traurig.
»Wie heißt du denn?«, fragte sie.
»Minnie Maude Mudway«, antwortete die Kleine.
»Hab mich aber nich verirrt. Suche nur Charlie. Der
hat sich verlaufen, und vielleicht is ihm was passiert.
Hab dir ja schon gesagt, mein Onkel Alf is umgebracht
worden. War erst gestern, und jetzt is Charlie
weg. Der wär schon wiedergekommen, wenn er's
gekonnt hätte. Bestimmt hat er Hunger und friert,
und ich weiß nich, wo er is.«
Gracie war ganz außer sich. Die ganze Geschichte
ergab doch keinen Sinn. Warum sollte sich Minnie
Maude um einen verschwundenen Esel Gedanken
machen, wenn ihr Onkel gerade getötet worden war?
Sie konnte das Mädchen nicht einfach an der zugigen
Straßenecke stehen lassen. Gleich würde es dunkel
werden. Es war schon nach drei Uhr, und es sah nach
Regen aus. »Wo ist denn deine Mutter?«, fragte sie.
»Hab keine«, antwortete Minnie Maude. »Nur Tante
Bertha, aber die sagt, das macht nichts wegen Charlie.
N'Esel is nur'n Esel.«
»Also, wenn dein Onkel tot ist, macht sie sich jetzt
um einen Esel bestimmt keine Gedanken.« Gracie
versuchte, vernünftig zu sein. »Was wird jetzt aus ihr
ohne ihn? Denk doch mal. Vielleicht hat sie Angst
oder so.«
Minnie Maude blinzelte. »Onkel Alf war ihr nich so
wichtig«, erklärte sie. »War nur der Bruder von meinem
Vater.« Sie schniefte jetzt noch mehr. »Onkel Alf
hat immer schöne Geschichten erzählt. Der is rumgekommen
und hat alles besser mitgekriegt wie alle
anderen. So wie die Leute wirklich sind, nich nur, was
du von außen siehst. Konnte in sie reinschaun. Er hat
mich immer zum Lachen gebracht.«
Minnies schlimmer Verlust rührte Gracie sehr.Vielleicht
suchte sie in Wirklichkeit nach ihrem Onkel Alf,
und die Suche nach Charlie war nur ein Vorwand, um
sich von dessen Tod abzulenken. Leute, die einen
zum Lachen brachten, waren etwas Besonderes.
»Tut mir leid«, sagte sie sanft. Es war noch gar nicht
so lange her, bis sie sich selbst eingestanden hatte,
dass ihre Mutter niemals zurückkommen würde.
»Er's umgebracht worden«, wiederholte Minnie
Maude. »Gestern.«
»Dann geh mal lieber schnell nach Hause«, sagte
Gracie mit Nachdruck. »Deine Tante fragt sich bestimmt
schon, ob dir was passiert ist.Vielleicht ist Charlie
ja auch schon von selbst nach Haus gekommen.«
So wie sie da im Wind stand und zitterte und mit
ihren Kräften fast am Ende war, sah Minnie Maude
einerseits sehr unglücklich, aber andererseits auch
trotzig aus. »Is er nich. Der weiß ja nich, wie er nach
Hause kommt, sonst wär er schon gestern da gewesen.
Er friert und hat Angst und is ganz allein. Nur er
und ich wissen, was mit Onkel Alf passiert is. Tante
Bertha sagt, er is wo runtergefallen, auf 'n Kopf geschlagen
und hat sich wahrscheinlich das Genick gebrochen.
Und Stan sagt, es is sowieso egal, weil tot is
tot, und wir sollen ihn anständig begraben, und dann
geht alles normal weiter. Keine Zeit zum Rumsitzen.
Stan is'n Kutscher, kommt überall rum. Der kriegt
aber nich so viel mit wie Onkel Alf. Der stolpert über
was und sieht nich richtig, was's is. Onkel Alf sagt, er
sieht schon, was's is, merkt aber nich, was es sein könnte!
Der hat nich gemerkt, dass'n Esel so gut wie'n
Pferd is.«
Allerdings nicht für eine Kutsche, dachte Gracie.
Wer hat schon mal gesehen, dass eine Kutsche von
einem Esel gezogen wird? Aber das sagte sie nicht.
»Und Tante Bertha kann nich mit Tieren. Mit Katzen
schon, wegen der Mäuse.« Sie schluckte und
wischte sich mit dem Ärmel noch mal die Nase.
»Hilfst du mir, Charlie zu finden? Bitte!«
Gracie kam sich ziemlich nutzlos vor. Warum nur
war sie nicht früher losgegangen, als ihre Oma sie mit
den Besorgungen beauftragt hatte. Dann wäre sie
jetzt nicht hier bei dem Mädchen, die etwas ganz und
gar Unmögliches von ihr verlangte. Sie war traurig
und fühlte sich schuldig, aber es war völlig ausgeschlossen,
jetzt im Dunkeln durch die nassen, winterlichen
Straßen zu ziehen, um nach einem Esel Ausschau
zu halten. Sie musste mit den Kartoffeln nach
Hause, damit ihre Oma das Abendessen machen
konnte, für sie und für die beiden hungrigen kleinen
Jungs, die ihr Sohn, Gracies Onkel, ihr hinterlassen
hatte, als er starb. Die beiden waren bald alt genug,
um ihr Geld selbst zu verdienen, aber im Moment
stellten sie noch eine große Belastung dar. Gracies
Großmutter konnte auch nicht mehr als Wäsche anderer
Leute zu waschen, jede wache Minute und
manchmal sogar, wenn sie sich kaum noch auf den
Beinen halten konnte. Gracie half ihr mit Besorgungen.
Sie war stets bemüht zu helfen, trug Sachen hierhin
und dorthin, kehrte, putzte, schrubbte. Aber sobald
Spike und Finn auf eigenen Füßen stehen
würden, würde auch sie, wie die anderen Mädchen,
zum Arbeiten in die Fabrik müssen.
»Das geht nicht«, sagte sie leise. »Ich muss mit den
Einkäufen nach Hause, sonst knabbern die Jungs
noch an den Stühlen. Außerdem muss ich meiner
Oma helfen.« Sie wollte sich entschuldigen, aber
wozu? Es würde sowieso nichts ändern.
Minnie Maude nickte, sie atmete tief ein und aus
und beruhigte sich ein wenig.
»Schon gut. Dann such ich Charlie eben alleine.«
Sie schniefte nochmals und machte sich auf den
Heimweg. Der Himmel wurde immer dunkler, und
im starken und kalten Wind fielen die ersten dicken
Regentropfen.
Als Gracie die Hintertüre zu der kleinen Wohnung,
die sie in der Heneage Street bewohnten, aufstieß,
stand ihre Großmutter schon vor einer Schüssel mit
Wasser, um die Kartoffeln zu waschen und zu
schälen. Sie sah erschöpft aus. Den ganzen Tag lang
hatten ihre Arme bis zu den Ellbogen in der heißen,
ätzenden Lauge gesteckt. Mit schmerzenden Schultern
hatte sie die nasse Bettwäsche anderer Leute
von einem Becken zum anderen gehievt, und ihr
Rücken hatte so wehgetan, dass sie sich kaum noch
rühren konnte. Dann musste sie die Laken wieder
hochheben, sie durch die Mangel drehen und das
Wasser herauspressen, damit sie schneller trocknen
konnten. Erst dann konnte sie die Wäsche zurück geben
und ihr Geld bekommen. Sie brauchten das
Geld dringend für die Miete, das Essen, Schuhwerk,
für ein paar Holzspäne und etwas Kohle zum Heizen,
und natürlich für Weihnachten.
Gracie wurden die Kleidungsstücke selten zu klein.
Sie schien bei einem Meter fünfzig mit dem Wachsen
aufgehört zu haben, und die abgetragenen Sachen
wurden immer wieder geflickt. Aber man konnte
buchstäblich zusehen, wie Spike und Finn wuchsen,
und das war auch kein Wunder, bei den Mengen, die
sie verschlangen.
Das Essen war gut, und alles wurde bis auf den letzten
Rest aufgegessen. Sie mussten sorgfältig haushalten,
und jeder Leckerbissen wurde für Weihnachten
aufgehoben. Spike und Finn zankten sich noch wie
üblich, gingen dann aber um sieben ganz brav ins
Bett. Es gab zwar keine Uhr, aber wenn man auf die
Geräusche der Straße achtete, auf die Schritte, die
kamen und gingen, auf die Stimmen der Leute, die
man kannte, dann hatte man eine ziemlich genaue
Ahnung von der Uhrzeit.
Sie hatten zwei Zimmer, was eigentlich gar nicht so
schlecht war. Eine Küche mit einem Zinnwaschbecken,
einen Herd zum Kochen und Heizen und
einen Tisch mit drei Stühlen und einem Hocker. Und
dann gab es auch noch das Brett zum Kleinhacken,
Bügeln und gelegentlichen Backen. Vor der Hintertür
befand sich eine Abflussrinne, am Ende der
Straße ein Brunnen und hinten im Hof ein Toilettenhäuschen.
Im zweiten kleinen Zimmer standen die
Betten von Grace und ihrer Oma auf der einen Seite
und auf der anderen hatten sie so eine Art Schlaf-
platz für die Jungs eingerichtet. Darauf lagen sie jetzt,
jeweils an einem Ende.
Gracie konnte nicht gut schlafen, obwohl es ihr
warm genug war. Minnie Maude Mudway ging ihr
einfach nicht aus dem Kopf, wie sie da in der Däm-
merung ganz alleine an der Straßenecke gestanden
hatte, traurig wegen des Todes ihres Onkels und wegen
des Esels, der vielleicht verschwunden war, vielleicht
aber auch nicht. Das bewegte sie die ganze Nacht,
und als sie am trüben, eiskalten Morgen aufwachte,
fühlte sie sich immer noch ganz elend.
Sie stand auf, ohne die Großmutter zu stören, die
jede Minute Schlaf dringend brauchte. Sie zog sich
ganz schnell an, um sich vor der eiskalten Luft im
Zimmer zu schützen. Die Fenster waren innen und
außen mit Eis überzogen.
Auf Zehenspitzen ging sie in die Küche, zog ihre
Stiefel an und knüpfte sie zu. Sie fing an, die Asche
aus dem Küchenherd zu entfernen, damit sie ein
neues Feuer machen konnte, um das Wasser für den
Haferbrei zu erhitzen. Nicht jeder konnte sich so
etwas leisten, und sie freute sich jeden Tag erneut
darüber.
Der Tag war noch nicht ganz angebrochen, als
Spike und Finn in die Küche kamen, aber langsam
wurde der Himmel über den Dächern schon heller.
Sie waren gut gelaunt, dachten sich allerlei Unfug aus
und freuten sich über alles, was es zu essen gab: den
Haferbrei, den Brotkanten und den Klecks Schmalz.
Um halb neun waren die beiden weg, um für die Frau
im Eckladen Botengänge zu machen, und Großmutter,
von einer Tasse Tee gestärkt, versicherte, dass ihr
eine Tasse völlig reiche, und machte sich auf den Weg
zur Wäscherei.
Gracie erledigte die Hausarbeit, wusch das Geschirr
ab, kehrte und wischte Staub, goss das Abwasser
weg und holte frisches Wasser vom Brunnen am
Ende der Straße. Es war kalt, auf den Pflastersteinen
lag Raureif, und ein starker Ostwind kündigte
Schneeregen an.
So gegen neun Uhr hielt sie ihr schlechtes Gewissen
nicht mehr aus. Sie zog sich den wärmsten Umhang
aus festem graubraunen Tuch über und ging auf
die Straße hinaus, um an der Ecke nach Minnie
Maude Ausschau zu halten.
London war zusammengesetzt aus einer riesigen
Ansammlung einzelner Dörfer, die alle ineinander
übergingen. Einige waren reich, andere arm, aber
nichts war schäbiger als die Flower und die Dean
Street, die beide von verrotteten Behausungen gesäumt
waren, in denen manchmal acht bis zehn Personen
in einem Raum wohnten. Hier gab es überall
Prostituierte, Diebe, Betrüger, Einbrecher, Stern deuter,
Hehler, andere zwielichtige Gestalten und
jede Menge Taschendiebe.
Eigenartig, aber die Grenzen blieben bestehen. Jedes
Dorf hatte seine Merkmale und Eigenheiten,
seine eigene Rangordnung und unverwechselbare
Verhaltensregeln, bestimmte eigene Nationalitäten
und Religionen. Gleich auf der anderen Seite der
Commercial Street zum Beispiel wohnten vorwiegend
russische und polnische Juden. In der anderen
Richtung lag Whitechapel. Thrawl Street, wo Minnie
Maude sagte, dass sie wohnte, war außerhalb von
Gracies Bezirk. Nur etwas so Dummes wie ein Esel
würde einfach so von einem Viertel in das andere laufen,
als gäbe es keine Grenzen, auch wenn diese unsichtbar
waren. Charlie, das arme Tier, konnte man
nicht dafür verantwortlich machen, aber Minnie
Maude kannte die Grenzen und Gracie natürlich
auch.
An der Ecke pfiff der Wind noch stärker. Er fegte
durch die Straße, heulte über den Dachsimsen der
verwahrlosten Häuser, deren Außenmauern im Laufe
der Jahre abgeblättert und verwittert waren. Die
Regenrinnen waren kaputt, die Wände voller Wasserflecken,
feucht und schimmelig. Sie wusste, dass es
innen nach Moder roch, wie nach dreckigen Socken.
Sie rutschte mit ihren Stiefeln über das Eis, und
ihre Füße waren so kalt, dass sie die Zehen nicht
mehr spürte.
Die nächste Straße war sehr belebt, Männer, die zu
den Holzlagern und den Kohlehandlungen in die
Arbeit gingen, Mädchen, die auf dem Weg in die
Streichholzfabrik waren, die etwas weiter weg lag.
Ein Mädchen ging an ihr vorbei, und Gracie konnte
für einen kurzen Augenblick das Gesicht sehen, verunstaltet
von einer Beule, die man »Phossie-Kinn«
nannte, verursacht durch das Phosphor der Streichholzköpfe.
Eine alte Frau trug vornübergebeugt ein
Bündel Wäsche, zwei andere erzählten sich einen
Witz und lachten laut. An der gegenüberliegenden
Ecke stand ein Straßenhändler mit einem Bauchladen
voller belegter Brote, und ein Mann in einem
wallenden Mantel schlurfte die Straße entlang.
Ein Brauereiwagen fuhr vorbei, die Pferde trabten
majestätisch, die Hufe klapperten auf den Steinen,
und das Geschirr glänzte selbst in diesem trüben
Winterlicht. Es gab nichts Schöneres als ein Pferd,
stark und sanftmütig zugleich, die riesigen lang behaarten
Fesseln, die aussahen, als ob sie von einem
Seidenmantel umhüllt wären.
Ein paar Meter dahinter kam ein Straßenhändler in
einem Mantel mit Perlmuttknöpfen, der eine Karre
voller Gemüse schob. Er pfiff eine Melodie vor sich
hin, und Gracie erkannte, dass es ein Weihnachtslied
über fröhliche Gesellen war.
Sie ging schnell vorwärts, um dem Wind zu entkommen.
Um die Ecke würde es geschützter sein. Sie wusste,
welche Straße sie suchte. Sie erinnerte sich an den
Namen, aber sie konnte die Straßenschilder nicht
lesen. Sie würde wohl jemanden fragen müssen, auch
wenn ihr das gar nicht recht war. Es nahm ihr die Unabhängigkeit,
und sie kam sich dumm vor. Wenigstens
würde man Minnie Maude wohl kennen, zumal sich
erst kürzlich ein Todesfall in der Familie ereignet hatte.
Sie wurde misstrauisch beäugt, und fünf Minuten
später stand sie auf dem schmalen Bürgersteig vor
einem heruntergekommenen Ziegelhaus, dessen
graue Holztüre fest geschlossen war, um dem eisigen
Wind standzuhalten.
Bis jetzt hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht,
was sie sagen würde, um ihr Kommen zu erklären.
Sie konnte wohl kaum erzählen, dass sie gekommen
war, um Minnie Maude bei der Suche nach
Charlie zu helfen, denn das hätte sie ihr schon gestern
anbieten können. Ihre Ausrede, zum Abendessen
nach Hause zu müssen, war auch nicht gerade die
beste gewesen. Und überhaupt, Tante Bertha hatte
ja schon gesagt, dass es ihr egal sei, und das schien
Gracie, was immer Minnie Maude davon hielt, durchaus
vernünftig zu sein. Die arme Frau hatte einen
schmerzlichen Verlust erlitten und war wahrscheinlich
ganz außer sich vor Sorge, wie sie jetzt, ohne
einen Ernährer, der Geld nach Hause brachte, über
die Runden kommen sollten. Die Beerdigung musste
ja auch noch bezahlt werden. Da interessierte es sie
bestimmt wenig, einen dummen Esel zu suchen, der
ausgerissen war. Außer vielleicht, er wäre ein paar
Schillinge wert, wenn sie ihn verkaufte.
Wahrscheinlich hatten sie das sowieso schon getan
und wollten Minnie Maude nichts davon sagen. Sie
war zu jung, um die Härten des Lebens ganz zu verstehen.
So wird's gewesen sein, und das war sicher
besser so. Wenn es so wäre, bräuchte sie sich keine
Sorgen mehr zu machen, dass er sich verirrt hatte und
ganz alleine und ängstlich draußen im Regen stand.
Sie stand immer noch unschlüssig auf der Straße,
wechselte von einem Fuß auf den anderen und zitterte
vor Kälte, als plötzlich die Türe aufging und ein
großer Mann mit gewölbtem Brustkorb und O-Beinen
herauskam und seine Hände zusammenschlug,
als wären sie schon taub vor Kälte.
»Mister!« Gracie trat ihm in den Weg. »Wohnt Minnie
Maude hier?«
Er sah sie verblüfft an. »Hab dich noch nie hier
gesehen. Wer bist du?«, wollte er wissen.
»Bin auch noch nie hier gewesen«, sagte sie ganz
vernünftig. »Weiß darum auch nicht, ob sie hier
wohnt.«
Er musterte sie von oben bis unten, die ganzen ein
Meter fünfzig rauf und runter, ihren Umhang, ihr
blasses, kluges kleines Gesicht, ihre dürre Gestalt, bis
zu den abgelaufenen Stiefeln, an denen ein paar
Knöpfe fehlten. »Was willste denn von unsrer Minnie
Maude?«, fragte er misstrauisch.
Gracie sagte einfach das Erste, was ihr in den Sinn
kam. »Hab eine Besorgung für sie. Zwei Pence, wenn
sie's gut macht. Alleine kann ich's nicht machen«,
fügte sie noch hinzu, damit das Angebot nicht zu
großzügig erschien.
»Na, dann hol ich sie mal«, erwiderte er umgehend,
machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus
zurück. Kurz darauf erschien er wieder, mit Minnie
Maude im Schlepptau. »Da is sie.« Er schubste sie
vor. »Dann mach dich mal nützlich«, sagte er ganz
schnell, als ob sie unwillig wäre.
Minnie Maude sah Gracie mit weit geöffneten,
überraschten Augen voller Dankbarkeit an, was in
keinem Verhältnis zu dem Zweipencejob stand, zumal
der ja auch den ganzen Tag dauern könnte. Für
eine Achtjährige waren zwei Pence sehr viel. Gracie
war dreizehn, und das war mehr Geld als sie selbst
hatte. Aber sie musste ein gutes Angebot machen, damit
der Mann es Minnie Maude überhaupt sagte und
damit sie es annehmen durfte. Sie würde sich später
darum kümmern, wo sie die zwei Pence herbrächte.
»Dann mal los!«, sagte sie laut, schnappte sich
Minnie Maudes Arm und zog sie von dem Mann mit
den O-Beinen weg und so schnell die Straße entlang,
wie es auf dem Eis möglich war.
»Hilfst du mir jetzt, Charlie zu finden?«, fragte
Minnie Maude ganz außer Atem. Mit Müh und Not
konnte sie auf der rutschigen Straße mit Gracie
Schritt halten.
Jetzt war es zu spät zum Ablehnen. »Ja«, willigte
Gracie ein. »Wird wohl auch nicht lange dauern.
Irgendjemand wird ihn schon gesehen haben. Hat
vielleicht nur Angst gekriegt und ist weggerannt.
Früher oder später kommt er bestimmt wieder nach
Hause. Was ist denn eigentlich mit deinem Onkel Alf
passiert?« Jetzt, wo sie um die Ecke gebogen und
wieder in der Brick Lane waren, ging sie etwas
langsamer.
»Weiß auch nich«, sagte Minnie Maude ganz unglücklich.
»Haben ihn in der Richard Street, in Mile
End gefunden. Lag da mit 'nem Loch im Kopf und
lauter blutigen Verletzungen überall. Sie haben ge-
sagt, er is vom Karren gefallen. Aber Charlie wär nie
einfach weggegangen und hätt ihn so da liegen lassen.
Hätt er auch gar nich können. Er war ja an der
Deichsel festgemacht.«
»Wo ist dann der Karren?«, fragte Gracie nüchtern.
»Das is's ja!«, rief Minnie Maude aus und blieb abrupt
stehen. »Der is weg! Verschwunden. Deshalb
weiß ich ja, dass sie ihn fertiggemacht haben.«
Gracie schüttelte den Kopf und blieb neben ihr stehen.
»Wer soll das denn gewesen sein? Was war denn
auf'm Karren drauf? Milch? Kohle? Kartoffeln?« Sie
hatte immer mehr das Gefühl, dass sich Minnie Mau-
de statt in der Wirklichkeit in ihrer eigenen Welt
voller Trauer und Verlust befand. »Wer bringt schon
jemand wegen einem Karren voller Kartoffeln um?
Er ist einfach so gestorben, der Arme, wahrscheinlich
vom Karren gefallen. Dann hat ihm irgend so ein verkommener
Rumtreiber den Karren mit allem drauf
geklaut und Charlie gleich mit. Aber auch wenn's
Mistkerle waren«, fügte sie noch schnell hinzu, »werden
die sich um Charlie kümmern, weil er was wert is.
Esel kann man brauchen.«
»Es war aber keine Milch oder so auf'm Wagen«,
sagte Minnie Maude und ging jetzt langsamer neben
Gracie her. »Er war'n Lumpensammler, aber manchmal
hatte er richtig schöne Sachen, echte Schätze.
Alles Mögliche.« Was, sagte sie nicht.
Gracie sah Minnie von der Seite an. Sie war ungefähr
zehn Zentimeter kleiner als Gracie, aber genau
so dünn. Ihre mit Sommersprossen übersäte Nase
kniff sie jetzt vor lauter Sorgen zusammen. Gracie
überkam plötzlich heftiges Mitleid für sie.
»Vielleicht kommt er ja von allein wieder«, sagte
sie so ermutigend wie möglich. »Wenn er nicht irgendwo
in einem schönen Stall steht und nicht rauskann.
Ich glaube, jemand hat sich den Karren geschnappt,
weil da was Brauchbares drauf war. Aber
ein Esel ist nicht dumm.« Eigentlich kannte sie gar
keinen Esel, aber dafür das Pferd vom Kohlenhändler,
und das war richtig klug. Es fand immer heraus,
wo die Karotte war, egal, in welche Tasche man sie
hineinsteckte.
Minnie Maude zwang sich zu einem Lächeln.
»Klar«, sagte sie tapfer. »Wir müssen nur suchen, bevor
er sich ganz verläuft und den Weg zurück nich
mehr findet. Ich weiß gar nich, wie weit er schon rum-
gekommen ist. Wahrscheinlich weiter als wie ich.«
»Na dann los.« Gracie gab ihren gesunden Menschenverstand
für einen schwachen Augenblick des
Mitleids auf. Minnie Maude war ein starkes kleines
Mädchen, aber auch völlig durcheinander. Wer weiß,
was passieren würde, wenn man sie alleine ließe.
Gracie würde sich ein oder zwei Stunden auf das
Ganze einlassen, soviel Zeit hatte sie. Vielleicht war
Charlie bis dahin schon zurück.
»Danke«, sagte Minnie Maude anerkennend. »Wo
fangen wir an?« Sie blickte Gracie hoffnungsvoll
an.
Vollständige deutsche Erstausgabe 11/2010
Copyright © 2009 by Anne Perry
Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe
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Printed in Germany 2010
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie
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Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-43532-2
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Perry, AnneDie Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane zeichnen ein lebendiges Bild des spätviktorianischen Englands und begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2010, 157 Seiten, Maße: 12,4 x 19,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schirp, Regina
- Übersetzer: Regina Schirp
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345343532X
- ISBN-13: 9783453435322
- Erscheinungsdatum: 11.10.2010
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