Das Windlied des Bären
Roman. Originalausgabe
Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter möchte die junge Carla Bergmann endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie herausfindet, dass er Indianer ist und in Kanada lebt, macht sie sich auf den Weg in die Fremde. Dort stößt sie auf ein...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Taschenbuch
9.90 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Windlied des Bären “
Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter möchte die junge Carla Bergmann endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie herausfindet, dass er Indianer ist und in Kanada lebt, macht sie sich auf den Weg in die Fremde. Dort stößt sie auf ein altes Familiengeheimnis, als dessen neue Hüterin sie sich behaupten muss, um das Land ihrer Ahnen vor Raubbau und Zerstörung zu bewahren. Der einfühlsame Lee Ghost Horse hilft Carla, ihre indianische Identität anzunehmen. Sie lernt, die Wildnis und das Leben fernab der Zivilisation zu lieben, und findet so nicht nur die Wurzeln ihrer Familie, sondern auch ihre eigenen.
Klappentext zu „Das Windlied des Bären “
Nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter möchte die junge Carla Bergmann endlich ihren Vater kennenlernen. Als sie herausfindet, dass er Indianer ist und in Kanada lebt, macht sie sich auf den Weg in die Fremde. Dort stößt sie auf ein altes Familiengeheimnis, als dessen neue Hüterin sie sich behaupten muss, um das Land ihrer Ahnen vor Raubbau und Zerstörung zu bewahren. Der einfühlsame Lee Ghost Horse hilft Carla, ihre indianische Identität anzunehmen. Sie lernt, die Wildnis und das Leben fernab der Zivilisation zu lieben, und findet so nicht nur die Wurzeln ihrer Familie, sondern auch ihre eigenen.Lese-Probe zu „Das Windlied des Bären “
Das Windlied des Bären von Sanna Seven DeersKapitel 1
Veränderungen
... mehr
Mutti, ich bin zu Hause!« Carla Bergmann ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Endlich
war Wochenende. Allein der Gedanke versetzte die junge Frau in Hochstimmung.
Schwungvoll hängte sie ihre Jacke an den Garderobenhaken und legte Handtasche und Schlüssel auf die Anrichte daneben. Ihr Blick fiel auf einen Stapel Post, den ihre Mutter Anna dort abgelegt hatte. Sie nahm die Briefe in die Hand und schaute sie flüchtig durch. Nichts Besonderes. Reklame, Rechnungen, eine Postkarte von Tante Margit aus der Schweiz, wo diese zurzeit mit ihrer Familie Urlaub machte. Carlas Miene verdunkelte sich, als sie die Zeilen auf der Kartenrückseite überflog. Wann immer Tante Margit von sich hören ließ, konnte man darauf setzen, dass ein kleiner Seitenhieb dabei war - selbst wenn sie aus dem Urlaub schrieb.
Carla seufzte leise. In ihren dreiundzwanzig Lebensjahren hatte sie es trotz aller Anstrengung nicht geschafft, Tante Margit und deren Familie, dazu gehörten Onkel Hans und Cousin Peter, zu mögen. Denn obwohl Margit und Anna Schwestern waren, so waren die beiden Frauen doch grundverschieden, und es fiel Carla oft schwer zu glauben, dass sie tatsächlich verwandt waren.
An diesen Unterschied erinnerte Tante Margit sie auch ständig. Carla und ihre Mutter konnten ihr einfach nichts recht machen und waren ihr zudem nicht akademisch genug. Margit war zehn Jahre älter als Anna und Ärztin mit eigener Praxis. Onkel Hans war ein erfolgreicher Anwalt, und Sohn Peter bereits verlobt und auf dem sicheren Wege, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Anna hingegen war lediglich eine Bankkauffrau, angestellt bei der hiesigen Sparkasse, und Carla war dem Beispiel ihrer Mutter gefolgt.
Das Schlimmste jedoch war, dass es bei den Bergmanns keinen Vater gab. Diese Tatsache veranlasste Margit Richter bei jedem Besuch zu allen nur erdenklichen Vorträgen über Moral und angemessenes Verhalten von Eltern. Carla brachte es jedes Mal zur Weißglut, hauptsächlich, weil ihre Mutter die Beleidigungen mit gesenktem Kopf hinnahm und auch Carla nie erlaubte, etwas zu entgegnen.
Auf Carlas Geburtsurkunde stand lediglich Vater unbekannt, und da es ihre Mutter zu quälen schien, darüber zu sprechen, hatte sie aufgehört nachzufragen.
Carla war schon immer anders gewesen, wie Tante Margit es ausdrückte. Das war denn auch der Grund, warum sie es nicht übers Herz brachte, aus der Mietwohnung, die sie noch immer mit ihrer Mutter teilte, auszuziehen.
Schon in der Grundschule hatten die anderen Kinder über Carla getuschelt. Was war das wohl für ein Mann, der ihr die hohen Wangenknochen, die großen, mandelförmigen Augen und die bronzefarbene Haut vererbt hatte? Kinder können sehr verletzend sein, und sobald es durchgesickert war, dass das ernste, zurückhaltende Mädchen lediglich die grau-grünen Augen ihrer blonden, aufgeschlossenen Mutter geerbt hatte und kein Vater da war, der das Rätsel lösen konnte, hatten die Sticheleien angefangen.
Carla hatte sich mehr und mehr in sich zurückgezogen. Und auch später, in der Pubertät und während der Ausbildung, hatte sie ihre Distanz und Unantastbarkeit beibehalten und war ihren eigenen Weg gegangen. Es störte sie nicht, ein Einzelgänger zu sein.
Oft hatte sie das Verhalten ihrer Gleichaltrigen als albern abgetan. Sie hatte Besseres mit ihrer Zeit zu tun, als irgendwo herumzuhängen, auf Partys zu gehen und über alles zu kichern.
Carla las für ihr Leben gern und befand sich oft in einer Traumwelt. Einer Welt, die ganz anders war als die Großstadtwelt in Norddeutschland, in der sie lebte. Einer Welt, die ihr entgegenkam, in die sie hineinpasste. Einer Welt mit Natur, mit Tieren und Pflanzen. Mit ihnen war Carla bereits von klein auf an gut zurechtgekommen, denn sie akzeptierten sie so, wie sie war. Sie hätte gern beruflich in diese Richtung etwas gemacht, aber der Mutter zuliebe war sie zur Bank gegangen.
Das Mitgefühl für ihre Mutter war Carlas schwacher Punkt. Anna war äußerlich ganz anders als sie, klein, hübsch und blond, gewann leicht Freunde. Aber Carla hatte schon als Kind erkannt, dass ihre Mutter sich hinter ihrer fröhlichen Fassade genauso verloren vorkam wie Carla sich hinter der ihren - vielleicht sogar mehr. Und im Gegensatz zu ihrer Tochter schien Anna Bergmann mit dieser Tatsache nicht gut zurechtzukommen.
Carla wusste nicht, was der Anlass für die tiefe Trauer war, die manchmal in den Augen ihrer Mutter zu lesen war, und es gab niemanden außer Tante Margit, den sie hätte fragen können. Ihre Großmutter war schon vor vielen Jahren gestorben, und andere Verwandte hatte sie nicht. So viel stand jedoch in Carlas treuem Herzen fest, sie würde die Mutter nie nach dem Grund fragen, und ihre Traurigkeit auch nie mit Absicht größer werden lassen.
Darum hatte sie keinen Widerspruch eingelegt, als sie nach Reitstunden gefragt und Anna abgelehnt hatte. Nicht etwa wegen der hohen Kosten, sondern wegen der Pferde. Sie hatte auch keine Einwände erhoben, als sie von der Idee, irgendetwas mit Pflanzen zu machen, auf eine Banklehre umgelenkt wurde. Carla liebte ihre Mutter sehr, war sie doch alles, was sie hatte. Ihr zuliebe absolvierte sie alle Dinge, die sie unternahm, mit Erfolg - aber nicht mit ganzem Herzen.
Diese und andere Dinge gingen Carla durch den Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie noch immer im Flur stand, die Postkarte ihrer Tante in der Hand, und dass ihre Mutter ihren Gruß nicht erwidert hatte. Sie legte die Post zurück auf die Anrichte, und erneut erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Wochenende! Und heute Abend würden sie beide ins Kino gehen.
»Mutti, wo bist du?«, rief sie und zog die Tickets aus der Tasche. Der Mutter würde die Abwechslung gefallen. Wo konnte sie nur stecken?
Carla ertappte sich dabei, ungeduldig zu werden. Sie schaute im Bad, in der Küche, im Wohnzimmer und auf dem Balkon nach. Nichts. Wahrscheinlich hatte die Mutter sich hingelegt.
Vorsichtig öffnete Carla die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Der Raum war abgedunkelt. Schon breitete sich ein wissendes Lächeln auf Carlas Gesicht aus. Doch das Bild, das sich ihr bot, als sie die Tür ein Stück weiter öffnete, ließ das Lächeln auf ihrem Gesicht gefrieren. Die Mutter lag nicht wie erwartet friedlich schlummernd auf ihrem Bett, sondern zusammengesackt und leblos auf dem Boden, die Übergardine, an der sie sich augenscheinlich hatte festhalten wollen, in der Hand.
Carlas Kehle schnürte sich zusammen, und für einen Augenblick war ihr, als würde sie nie wieder einen Laut über ihre Lippen bringen und nie wieder einen Schritt tun. Doch dann riss sie sich zusammen und stürzte mit einem heiseren, hilflosen »Mama!« zu ihrer Mutter, deren leblose Augen sie, wie in einem Alptraum, anstarrten.
Tage später noch fragte Carla sich, wie sie die Kraft aufgebracht hatte, nicht in Panik auszubrechen, sondern den Notarzt anzurufen. Sie konnte sich an die Einzelheiten nicht genau erinnern, nur daran, dass sie weinend neben ihrer Mutter gekniet hatte, bis der Notarzt eingetroffen war und erklärt hatte, dass nichts mehr getan werden könnte. Anna Bergmann war an Herzversagen gestorben, mit nur fünfundvierzig Jahren. Sie war tot, nicht mehr da, und Carla war allein auf der Welt.
Aber auf was für einer Welt? Carlas Welt war zusammengebrochen, existierte nicht mehr.
Ihre Chefin war vorbeigekommen, nachdem Carla am Montag nicht zur Arbeit erschienen und auch nicht ans Telefon gegangen war. Frau Kranz hatte sich ihrer angenommen, sie aus ihrer Starrheit zurück ins Leben geholt und ihr mit allen nötigen Formalitäten geholfen. Carla wusste nichts über Beerdigungen und Erbschaften. Als ihre Großmutter gestorben war, war sie zu klein gewesen, und ihre Mutter und Tante Margit hatten alles geregelt. Doch jetzt gab es nur Carla. Tante Margit war irgendwo in der Schweiz und davon abgesehen auch der letzte Mensch, den sie im Augenblick um sich haben wollte.
Carla hatte geweint, zwei Tage lang, dann waren ihre Tränen versiegt, und sie war in eine Art Stumpfsinn verfallen. Seit dem Besuch von Frau Kranz ging es ihr körperlich besser. Sie konnte essen und wieder klar denken. Und ihr Überlebensinstinkt gab ihr die Kraft, an sich selbst und ihre Zukunft zu denken. Innerlich aber fühlte sie sich gebrochen.
Die Trauer hing auch jetzt noch, vier Tage später, wie eine bleierne Decke über Carla. Nachts schlief sie unruhig, aber tagsüber konnte sie wenigstens Dinge erledigen und ruhig mit Leuten sprechen. Sie tat diese Dinge mechanisch und stellte fest, dass es ihr half, den Alltag wieder zu bewältigen. Sie war beurlaubt und ging, auf den Vorschlag von Frau Kranz hin, die Sachen ihrer Mutter durch, um herauszufinden, ob es ein Testament, offene Rechnungen und Ähnliches gab. Hauptsächlich aber, um sich zu beschäftigen.
Die Beerdigung würde stattfinden, nachdem Tante Margit und Onkel Hans samt Peter und Verlobter aus dem Urlaub zurückgekehrt wären. Sie war auf den folgenden Samstag festgelegt worden.
Carla saß auf dem Fußboden im Schlafzimmer ihrer Mutter über Schubladen, die Annas private Dinge und Papiere enthielten und die sie zuvor nie angerührt hatte. Eine blasse, späte Märzsonne schien zum Fenster herein und tauchte einen Teil des Zimmers in goldenes Licht.
Alte Briefe, Fotos und Andenken glitten durch Carlas Hände, während Tränen wieder und wieder versuchten, ihr die Sicht zu nehmen. Als Letztes öffnete sie eine Schachtel mit Heftern und Papieren. Überraschenderweise wiesen die Kontoauszüge ihrer Mutter ein, wenn auch geringes, Minus auf. Und Carla stellte fest, dass die Prämien für Annas Lebensversicherung schon seit geraumer Zeit nicht mehr gezahlt worden waren. Sie stutzte. Wie oft hatte ihre Mutter über diese Lebensversicherung gesprochen. Carlas Absicherung für den schlimmsten Fall. Warum hatte sie die Zahlungen eingestellt? Bei ihrem guten Gehalt und sparsamen Lebensstil hätte eigentlich noch einiges übrig sein müssen. Auch das Sparkonto war leer. Wo war das Geld ihrer Mutter geblieben?
Carlas Neugier und Argwohn waren geweckt. Sie schob die Schubladen zur Seite und sah sich nach anderen Möglichkeiten um, wo ihre Mutter Papiere hätte ablegen können. Ihr Blick fiel auf das Bett. Die restlichen Orte hatte sie bereits durchforstet. Sie hob die Matratze an einer Ecke hoch. Fast kam sie sich lächerlich vor. Nur Leute, die etwas zu verbergen hatten, packten Dinge an solche Stellen. Ihre Mutter hatte wahrlich nicht zu ihnen gehört.
Wie sehr Carla sich irrte! Unter der Matratze befand sich ein schmaler Hefter mit Papieren. Carla zog ihn vorsichtig hervor und ließ die Matratze zurückgleiten. Erstaunt setzte sie sich auf das Bett und öffnete den Hefter. Zahllose Wettscheine, Lotterie- und Rubbellose kamen zum Vorschein. Die Beträge waren erheblich.
Carla schloss die Augen und presste fassungslos eine Hand an ihre Stirn. Ihre Mutter eine Glücksspielerin? Sie konnte es nicht fassen. Doch sie hielt alle Beweise in den Händen.
Es dauerte einige Minuten, bis Carla in der Lage war, die Scheine aus den Händen zu legen und die restlichen Papiere durchzusehen. Ihre Mutter war erst seit so kurzer Zeit tot, und doch begann sich Carlas Bild von ihr bereits wie von selbst zu wandeln. Sie biss sich auf die Lippe. Sie wollte ihre Mutter in guter Erinnerung behalten. Natürlich wusste sie, dass Anna Bergmann ihre Fehler gehabt hatte. Wer hatte keine? Aber das? Es handelte sich um eine Seite ihrer Mutter, die nicht ins übrige Bild passte.
Aber damit war es nicht genug. Die nächsten Papiere warfen Carla beinahe zurück in die Starrheit. Ganz oben lag ein offiziell aussehendes Papier in englischer Sprache. Sie schaute genauer hin. Das Papier war in British Columbia, Kanada, ausgestellt und gab an, dass Anna Bergmann dort ein Grundstück besaß. Genaueres konnte Carla dem Wortlaut nicht entnehmen.
Aufgewühlt griff sie nach dem nächsten Papier, eine Heiratsurkunde, ebenfalls ausgestellt in British Columbia. Und der Name der Braut lautete Anna Bergmann.
Carla erstarrte und ließ das Papier sinken. Das konnte nicht sein! Ihre Mutter war nie verheiratet gewesen. Und doch stand ihr Name auf dem Papier. Die Urkunde bezeugte, dass Anna Bergmann aus Deutschland einen Charles Ward aus Vancouver geheiratet hatte, fast zwei Jahre vor Carlas Geburt.
Die Gedanken in Carlas Kopf wirbelten umher wie Sandkörner in einem heftigen Sturm. Wenn nun ... was, wenn ... könnte es sein, dass ...? Hastig griff Carla nach einer Fotografie in dem Hefter. Sie sprang auf und hielt das Foto ins Sonnenlicht. Sie erschrak so sehr, dass sie beinahe aufgeschrien hätte.
Aus der Aufnahme blickten ihr zwei vor Glück strahlende Menschen entgegen, deren Gesichter sie nur zu gut kannte. Das eine gehörte ihrer Mutter und das andere, so schien es jedenfalls, Carla selbst. Ihr Gesicht glich, in weiblicher Form, dennoch unverkennbar, dem des Mannes auf dem Foto. Sie schaute auf das Hochzeitsfoto ihrer Eltern und in das ebenmäßige, edle Gesicht von Charles Ward, ihrem Vater.
...
Mutti, ich bin zu Hause!« Carla Bergmann ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Endlich
war Wochenende. Allein der Gedanke versetzte die junge Frau in Hochstimmung.
Schwungvoll hängte sie ihre Jacke an den Garderobenhaken und legte Handtasche und Schlüssel auf die Anrichte daneben. Ihr Blick fiel auf einen Stapel Post, den ihre Mutter Anna dort abgelegt hatte. Sie nahm die Briefe in die Hand und schaute sie flüchtig durch. Nichts Besonderes. Reklame, Rechnungen, eine Postkarte von Tante Margit aus der Schweiz, wo diese zurzeit mit ihrer Familie Urlaub machte. Carlas Miene verdunkelte sich, als sie die Zeilen auf der Kartenrückseite überflog. Wann immer Tante Margit von sich hören ließ, konnte man darauf setzen, dass ein kleiner Seitenhieb dabei war - selbst wenn sie aus dem Urlaub schrieb.
Carla seufzte leise. In ihren dreiundzwanzig Lebensjahren hatte sie es trotz aller Anstrengung nicht geschafft, Tante Margit und deren Familie, dazu gehörten Onkel Hans und Cousin Peter, zu mögen. Denn obwohl Margit und Anna Schwestern waren, so waren die beiden Frauen doch grundverschieden, und es fiel Carla oft schwer zu glauben, dass sie tatsächlich verwandt waren.
An diesen Unterschied erinnerte Tante Margit sie auch ständig. Carla und ihre Mutter konnten ihr einfach nichts recht machen und waren ihr zudem nicht akademisch genug. Margit war zehn Jahre älter als Anna und Ärztin mit eigener Praxis. Onkel Hans war ein erfolgreicher Anwalt, und Sohn Peter bereits verlobt und auf dem sicheren Wege, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Anna hingegen war lediglich eine Bankkauffrau, angestellt bei der hiesigen Sparkasse, und Carla war dem Beispiel ihrer Mutter gefolgt.
Das Schlimmste jedoch war, dass es bei den Bergmanns keinen Vater gab. Diese Tatsache veranlasste Margit Richter bei jedem Besuch zu allen nur erdenklichen Vorträgen über Moral und angemessenes Verhalten von Eltern. Carla brachte es jedes Mal zur Weißglut, hauptsächlich, weil ihre Mutter die Beleidigungen mit gesenktem Kopf hinnahm und auch Carla nie erlaubte, etwas zu entgegnen.
Auf Carlas Geburtsurkunde stand lediglich Vater unbekannt, und da es ihre Mutter zu quälen schien, darüber zu sprechen, hatte sie aufgehört nachzufragen.
Carla war schon immer anders gewesen, wie Tante Margit es ausdrückte. Das war denn auch der Grund, warum sie es nicht übers Herz brachte, aus der Mietwohnung, die sie noch immer mit ihrer Mutter teilte, auszuziehen.
Schon in der Grundschule hatten die anderen Kinder über Carla getuschelt. Was war das wohl für ein Mann, der ihr die hohen Wangenknochen, die großen, mandelförmigen Augen und die bronzefarbene Haut vererbt hatte? Kinder können sehr verletzend sein, und sobald es durchgesickert war, dass das ernste, zurückhaltende Mädchen lediglich die grau-grünen Augen ihrer blonden, aufgeschlossenen Mutter geerbt hatte und kein Vater da war, der das Rätsel lösen konnte, hatten die Sticheleien angefangen.
Carla hatte sich mehr und mehr in sich zurückgezogen. Und auch später, in der Pubertät und während der Ausbildung, hatte sie ihre Distanz und Unantastbarkeit beibehalten und war ihren eigenen Weg gegangen. Es störte sie nicht, ein Einzelgänger zu sein.
Oft hatte sie das Verhalten ihrer Gleichaltrigen als albern abgetan. Sie hatte Besseres mit ihrer Zeit zu tun, als irgendwo herumzuhängen, auf Partys zu gehen und über alles zu kichern.
Carla las für ihr Leben gern und befand sich oft in einer Traumwelt. Einer Welt, die ganz anders war als die Großstadtwelt in Norddeutschland, in der sie lebte. Einer Welt, die ihr entgegenkam, in die sie hineinpasste. Einer Welt mit Natur, mit Tieren und Pflanzen. Mit ihnen war Carla bereits von klein auf an gut zurechtgekommen, denn sie akzeptierten sie so, wie sie war. Sie hätte gern beruflich in diese Richtung etwas gemacht, aber der Mutter zuliebe war sie zur Bank gegangen.
Das Mitgefühl für ihre Mutter war Carlas schwacher Punkt. Anna war äußerlich ganz anders als sie, klein, hübsch und blond, gewann leicht Freunde. Aber Carla hatte schon als Kind erkannt, dass ihre Mutter sich hinter ihrer fröhlichen Fassade genauso verloren vorkam wie Carla sich hinter der ihren - vielleicht sogar mehr. Und im Gegensatz zu ihrer Tochter schien Anna Bergmann mit dieser Tatsache nicht gut zurechtzukommen.
Carla wusste nicht, was der Anlass für die tiefe Trauer war, die manchmal in den Augen ihrer Mutter zu lesen war, und es gab niemanden außer Tante Margit, den sie hätte fragen können. Ihre Großmutter war schon vor vielen Jahren gestorben, und andere Verwandte hatte sie nicht. So viel stand jedoch in Carlas treuem Herzen fest, sie würde die Mutter nie nach dem Grund fragen, und ihre Traurigkeit auch nie mit Absicht größer werden lassen.
Darum hatte sie keinen Widerspruch eingelegt, als sie nach Reitstunden gefragt und Anna abgelehnt hatte. Nicht etwa wegen der hohen Kosten, sondern wegen der Pferde. Sie hatte auch keine Einwände erhoben, als sie von der Idee, irgendetwas mit Pflanzen zu machen, auf eine Banklehre umgelenkt wurde. Carla liebte ihre Mutter sehr, war sie doch alles, was sie hatte. Ihr zuliebe absolvierte sie alle Dinge, die sie unternahm, mit Erfolg - aber nicht mit ganzem Herzen.
Diese und andere Dinge gingen Carla durch den Kopf, als ihr bewusst wurde, dass sie noch immer im Flur stand, die Postkarte ihrer Tante in der Hand, und dass ihre Mutter ihren Gruß nicht erwidert hatte. Sie legte die Post zurück auf die Anrichte, und erneut erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Wochenende! Und heute Abend würden sie beide ins Kino gehen.
»Mutti, wo bist du?«, rief sie und zog die Tickets aus der Tasche. Der Mutter würde die Abwechslung gefallen. Wo konnte sie nur stecken?
Carla ertappte sich dabei, ungeduldig zu werden. Sie schaute im Bad, in der Küche, im Wohnzimmer und auf dem Balkon nach. Nichts. Wahrscheinlich hatte die Mutter sich hingelegt.
Vorsichtig öffnete Carla die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Der Raum war abgedunkelt. Schon breitete sich ein wissendes Lächeln auf Carlas Gesicht aus. Doch das Bild, das sich ihr bot, als sie die Tür ein Stück weiter öffnete, ließ das Lächeln auf ihrem Gesicht gefrieren. Die Mutter lag nicht wie erwartet friedlich schlummernd auf ihrem Bett, sondern zusammengesackt und leblos auf dem Boden, die Übergardine, an der sie sich augenscheinlich hatte festhalten wollen, in der Hand.
Carlas Kehle schnürte sich zusammen, und für einen Augenblick war ihr, als würde sie nie wieder einen Laut über ihre Lippen bringen und nie wieder einen Schritt tun. Doch dann riss sie sich zusammen und stürzte mit einem heiseren, hilflosen »Mama!« zu ihrer Mutter, deren leblose Augen sie, wie in einem Alptraum, anstarrten.
Tage später noch fragte Carla sich, wie sie die Kraft aufgebracht hatte, nicht in Panik auszubrechen, sondern den Notarzt anzurufen. Sie konnte sich an die Einzelheiten nicht genau erinnern, nur daran, dass sie weinend neben ihrer Mutter gekniet hatte, bis der Notarzt eingetroffen war und erklärt hatte, dass nichts mehr getan werden könnte. Anna Bergmann war an Herzversagen gestorben, mit nur fünfundvierzig Jahren. Sie war tot, nicht mehr da, und Carla war allein auf der Welt.
Aber auf was für einer Welt? Carlas Welt war zusammengebrochen, existierte nicht mehr.
Ihre Chefin war vorbeigekommen, nachdem Carla am Montag nicht zur Arbeit erschienen und auch nicht ans Telefon gegangen war. Frau Kranz hatte sich ihrer angenommen, sie aus ihrer Starrheit zurück ins Leben geholt und ihr mit allen nötigen Formalitäten geholfen. Carla wusste nichts über Beerdigungen und Erbschaften. Als ihre Großmutter gestorben war, war sie zu klein gewesen, und ihre Mutter und Tante Margit hatten alles geregelt. Doch jetzt gab es nur Carla. Tante Margit war irgendwo in der Schweiz und davon abgesehen auch der letzte Mensch, den sie im Augenblick um sich haben wollte.
Carla hatte geweint, zwei Tage lang, dann waren ihre Tränen versiegt, und sie war in eine Art Stumpfsinn verfallen. Seit dem Besuch von Frau Kranz ging es ihr körperlich besser. Sie konnte essen und wieder klar denken. Und ihr Überlebensinstinkt gab ihr die Kraft, an sich selbst und ihre Zukunft zu denken. Innerlich aber fühlte sie sich gebrochen.
Die Trauer hing auch jetzt noch, vier Tage später, wie eine bleierne Decke über Carla. Nachts schlief sie unruhig, aber tagsüber konnte sie wenigstens Dinge erledigen und ruhig mit Leuten sprechen. Sie tat diese Dinge mechanisch und stellte fest, dass es ihr half, den Alltag wieder zu bewältigen. Sie war beurlaubt und ging, auf den Vorschlag von Frau Kranz hin, die Sachen ihrer Mutter durch, um herauszufinden, ob es ein Testament, offene Rechnungen und Ähnliches gab. Hauptsächlich aber, um sich zu beschäftigen.
Die Beerdigung würde stattfinden, nachdem Tante Margit und Onkel Hans samt Peter und Verlobter aus dem Urlaub zurückgekehrt wären. Sie war auf den folgenden Samstag festgelegt worden.
Carla saß auf dem Fußboden im Schlafzimmer ihrer Mutter über Schubladen, die Annas private Dinge und Papiere enthielten und die sie zuvor nie angerührt hatte. Eine blasse, späte Märzsonne schien zum Fenster herein und tauchte einen Teil des Zimmers in goldenes Licht.
Alte Briefe, Fotos und Andenken glitten durch Carlas Hände, während Tränen wieder und wieder versuchten, ihr die Sicht zu nehmen. Als Letztes öffnete sie eine Schachtel mit Heftern und Papieren. Überraschenderweise wiesen die Kontoauszüge ihrer Mutter ein, wenn auch geringes, Minus auf. Und Carla stellte fest, dass die Prämien für Annas Lebensversicherung schon seit geraumer Zeit nicht mehr gezahlt worden waren. Sie stutzte. Wie oft hatte ihre Mutter über diese Lebensversicherung gesprochen. Carlas Absicherung für den schlimmsten Fall. Warum hatte sie die Zahlungen eingestellt? Bei ihrem guten Gehalt und sparsamen Lebensstil hätte eigentlich noch einiges übrig sein müssen. Auch das Sparkonto war leer. Wo war das Geld ihrer Mutter geblieben?
Carlas Neugier und Argwohn waren geweckt. Sie schob die Schubladen zur Seite und sah sich nach anderen Möglichkeiten um, wo ihre Mutter Papiere hätte ablegen können. Ihr Blick fiel auf das Bett. Die restlichen Orte hatte sie bereits durchforstet. Sie hob die Matratze an einer Ecke hoch. Fast kam sie sich lächerlich vor. Nur Leute, die etwas zu verbergen hatten, packten Dinge an solche Stellen. Ihre Mutter hatte wahrlich nicht zu ihnen gehört.
Wie sehr Carla sich irrte! Unter der Matratze befand sich ein schmaler Hefter mit Papieren. Carla zog ihn vorsichtig hervor und ließ die Matratze zurückgleiten. Erstaunt setzte sie sich auf das Bett und öffnete den Hefter. Zahllose Wettscheine, Lotterie- und Rubbellose kamen zum Vorschein. Die Beträge waren erheblich.
Carla schloss die Augen und presste fassungslos eine Hand an ihre Stirn. Ihre Mutter eine Glücksspielerin? Sie konnte es nicht fassen. Doch sie hielt alle Beweise in den Händen.
Es dauerte einige Minuten, bis Carla in der Lage war, die Scheine aus den Händen zu legen und die restlichen Papiere durchzusehen. Ihre Mutter war erst seit so kurzer Zeit tot, und doch begann sich Carlas Bild von ihr bereits wie von selbst zu wandeln. Sie biss sich auf die Lippe. Sie wollte ihre Mutter in guter Erinnerung behalten. Natürlich wusste sie, dass Anna Bergmann ihre Fehler gehabt hatte. Wer hatte keine? Aber das? Es handelte sich um eine Seite ihrer Mutter, die nicht ins übrige Bild passte.
Aber damit war es nicht genug. Die nächsten Papiere warfen Carla beinahe zurück in die Starrheit. Ganz oben lag ein offiziell aussehendes Papier in englischer Sprache. Sie schaute genauer hin. Das Papier war in British Columbia, Kanada, ausgestellt und gab an, dass Anna Bergmann dort ein Grundstück besaß. Genaueres konnte Carla dem Wortlaut nicht entnehmen.
Aufgewühlt griff sie nach dem nächsten Papier, eine Heiratsurkunde, ebenfalls ausgestellt in British Columbia. Und der Name der Braut lautete Anna Bergmann.
Carla erstarrte und ließ das Papier sinken. Das konnte nicht sein! Ihre Mutter war nie verheiratet gewesen. Und doch stand ihr Name auf dem Papier. Die Urkunde bezeugte, dass Anna Bergmann aus Deutschland einen Charles Ward aus Vancouver geheiratet hatte, fast zwei Jahre vor Carlas Geburt.
Die Gedanken in Carlas Kopf wirbelten umher wie Sandkörner in einem heftigen Sturm. Wenn nun ... was, wenn ... könnte es sein, dass ...? Hastig griff Carla nach einer Fotografie in dem Hefter. Sie sprang auf und hielt das Foto ins Sonnenlicht. Sie erschrak so sehr, dass sie beinahe aufgeschrien hätte.
Aus der Aufnahme blickten ihr zwei vor Glück strahlende Menschen entgegen, deren Gesichter sie nur zu gut kannte. Das eine gehörte ihrer Mutter und das andere, so schien es jedenfalls, Carla selbst. Ihr Gesicht glich, in weiblicher Form, dennoch unverkennbar, dem des Mannes auf dem Foto. Sie schaute auf das Hochzeitsfoto ihrer Eltern und in das ebenmäßige, edle Gesicht von Charles Ward, ihrem Vater.
...
... weniger
Autoren-Porträt von Sanna Seven Deers
Sanna Seven Deers ist geborene Hamburgerin. Sie heiratete einen kanadischen Indianer und zog mit ihm in die Wildnis der Rocky Mountains. Dort leben die beiden mit ihren vier Kindern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sanna Seven Deers
- 2012, 4. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548282962
- ISBN-13: 9783548282961
- Erscheinungsdatum: 07.03.2012
Kommentar zu "Das Windlied des Bären"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das Windlied des Bären“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Windlied des Bären".
Kommentar verfassen