Dein Herz
Eine andere Organgeschichte
Ein Buch über das Herz, das von Herzen kommt.
Herz- und Kreislauferkrankungen sind bei uns Volksleiden und Todesursache Nr. 1! Prof. Dr. Grönemeyer macht deutlich, warum das so ist und was wir dagegen tun können:...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Dein Herz “
Ein Buch über das Herz, das von Herzen kommt.
Herz- und Kreislauferkrankungen sind bei uns Volksleiden und Todesursache Nr. 1! Prof. Dr. Grönemeyer macht deutlich, warum das so ist und was wir dagegen tun können:
- Funktionsweise des Herzes
- Bluthochdruck, Arteriosklerose, Herzinfarkt
- Diagnostik, Therapie, Prävention
- ganzheitlicher Ansatz: Herz und Seele
Klappentext zu „Dein Herz “
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer über unser wunderbares Lebens- und Sinnesorgan: Das HerzProf. Dr. Dietrich Grönemeyer nimmt sich des Volksleidens Nummer 1, der Herz- und Kreislaufkrankheiten, an. Für Grönemeyer ist das Herz mehr als ein zuckender Muskel, mehr als ein bloßes Organ. Sein Ansatz als Arzt wie als Autor ist ganzheitlich.
Dietrich Grönemeyer informiert anschaulich und fundiert von der Funktionsweise des gesunden Herzens über Herzkrankheiten wie Bluthochdruck, Infarkt und Arteriosklerose bis hin zu praktischen Tipps und Informationen zu Diagnostik, Therapie und vor allem Prävention. Doch der erfahrene Arzt schlägt auch Brücken zur Geistesgeschichte, zu Literatur, Poesie, Symbolik, Religion und dem uralten Wissen der Medizin anderer Kulturen. Er erzählt aus eigener Erfahrung als Patient und zeigt, welche Rolle die Seele bei Herzerkrankungen spielt und wie wichtig menschliche Wärme und Zuwendung sind, wenn das Herz sich meldet. Ein Buch über das Herz, das von Herzen kommt.
Lese-Probe zu „Dein Herz “
Dein Herz von Dietrich GrönemeyerStatt eines Vorworts
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Hilflos sitze ich am Bett meiner Tochter, innerlich aufgewühlt, kraft- und ratlos. Was soll nun, was muss geschehen? Kein Stein will mehr auf den anderen passen. »Ganz klein mit Hut« liegt meine Tochter im Bett, seit Tagen hat sie fast 41 Grad Fieber. Tapfer versucht sie, mit ihrer frechen Mütze cool zu bleiben. Erschrecken, Verwunderung, Angst verraten ihre Blicke. Eben haben uns die behandelnden Ärzte mitgeteilt: Verdacht auf Myokarditis - Herzmuskelentzündung. Ein Schock, von dem wir uns langsam erholen müssen, weiß ich doch aus eigener leiblicher Erfahrung, was die Diagnose bedeuten kann.
Meine Tochter war gerade aus Südamerika zurückgekehrt. Nach einer eitrigen Mandelentzündung entwickelte sich das Fieber, Tag für Tag, eine Woche lang. Keine Antibiotika zeigten Wirkung. Kurzfristige Entfieberung konnte nur durch fiebersenkende Mittel und Wadenwickel erzielt werden; eine nachhaltige und deutliche Fiebersenkung war erst durch Kortison in hohen Dosen zu erreichen.
Wie habe ich meine Tochter bewundert, wie sie tapfer kämpfend diese Fieberschübe mit beängstigendem Schüttelfrost und Schwitzen bei der Entfieberung durchgehalten hat, vier-, fünfmal am Tag. Dieses Leiden und die eigene Hilflosigkeit waren zum Weinen. Als Vater konnte ich die nötige ärztliche Distanz nur schwer, im Grunde gar nicht aufbringen. Ärzte unseres Vertrauens hatten die Behandlung mit Empathie, Gewissenhaftigkeit und Erfolg übernommen.
Die beginnende Herzmuskelentzündung wurde gestoppt, meine Tochter erst einmal zufrieden entlassen. Danach aber kamen die Fragen: Was ist eine Herzmuskelentzündung? Warum ist sie lebensbedrohlich? Welche Folgen kann sie haben? Was sind Herzrhythmusstörungen? Wie sieht eigentlich das Herz aus, und wie wird es versorgt? Wie ist das mit den Gefühlen und dem gelegentlich pochenden Herzen, den Angelegenheiten zwischen Herz und Seele? Welche Rolle spielen diese Zusammenhänge und besonders das Herz in der Gedankenwelt, der Philosophie, der Literatur, Kunst, Religion und Medizin unserer und anderer Kulturen?
Fragen über Fragen, die sich auch mir plötzlich auf eine ganz neue Weise stellten und auf die ich in diesem Buch nach Antworten suchen möchte. Dabei geht es mir nicht um eine Bereicherung der kardiologischen Fachliteratur und auch nicht der geisteswissenschaftlichen. Diesen Beitrag leisten andere, hochqualifizierte Wissenschaftler. Aber vielleicht kann meine durchaus persönliche Betrachtung dazu anregen, sich wieder etwas mehr und vor allem umfassender mit dem Herzen zu beschäftigen. Deshalb habe ich versucht, »eine andere Organgeschichte« zu erzählen, für mich und für alle, die ihr Herz verstehen wollen.
Wer aber einfach nur das ein oder andere nachschlagen möch te, kann in den dritten, vierten und fünften Teil des Buches schauen, wo einzelne Herzkrankheiten, Therapieansätze und Behandlungsmethoden noch einmal ausführlich erklärt werden. Auch Hinweise zur Selbsthilfe oder Verständnishilfen für das Lesen eines Beipackzettels fi nden sich dort. Auf die vielfältigste Weise will das Buch so immer wieder auftauchende Fragen beantworten. Und ganz bewusst werden dabei die Grenzen der medizinischen Wissensbereiche im engeren Sinne überschritten. Denn wer sich auf das Thema erst einmal einlässt, merkt schnell, dass es mit dem Herzen mehr auf sich hat, als wir Ärzte uns allein zu erklären vermögen. Auch als Therapeuten sollten wir uns psychologisch, philosophisch und kulturgeschichtlich beraten lassen, wenn wir verstehen möchten, was das heißt: In der Mitte ... das Herz.
Dietrich Grönemeyer
Das Herz fühlt - eine Lebenserfahrung
Ich erinnere mich noch gut, welches Jubelgefühl, welche herz- erfrischende Stimmung mich erfasste, als ich, ein kleiner
Junge, zum ersten Mal das Lied »Geh aus mein Herz und suche Freud« hörte. Geradezu hineingerissen wurde ich von dieser Melodie. Einzelne Passagen konnte ich nach kurzer Zeit mitsingen: »Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide«. Es war, als wenn diese Musik mein Herz füllen und streicheln würde. Alles vibrierte, flimmerte; ein Zauber, der bis heute nichts von seinem Reiz verloren hat. Ein flüchtiger Gedanke daran, und wohlige Stimmung macht sich breit. Erste Herzensfreude, herüberstrahlend aus der Kindheit!
Oder Jahre später. Jeder kennt es, dieses phantastische Herzrasen, die glückliche Aufgeregtheit, wenn man sich zum ersten Mal verliebt. Ein Blick, Bruchteile einer Sekunde haben genügt, ein Empfinden der Glückseligkeit zu wecken. Von den Augen mitten ins Herz. Berauschende Freude nach dem erwiderten Lächeln und dazu »Wackelpuddingbeine«, Schmetterlinge im Bauch, trockener Mund und feuchte Hände: ein wundervolles Gefühl mit »mentalem Herzfl immern«, unvergesslich fürs Leben - wieder so eine Erfahrung, die Bleibendes stiftet, weil sie uns das Herz spüren lässt.
Irgendwann, in späteren Jahren, müssen wir dann aber auch die ganz andere Herzenserfahrung machen, Beklemmung, Druck und Angst. Das Berufsleben zumeist bringt dies in der modernen Welt mit sich. Überforderung, Ungerechtigkeit, Betrug treffen uns so, dass es einem im wahrsten Sinne des Wortes das Herz abschnürt. Jahrelang haben wir an einem Projekt gearbeitet, und plötzlich müssen wir erleben, wie ein anderer, einer, dem wir womöglich vertrauten, die Erfolge unter seinem Namen präsentiert, während wir noch vergebens nach den verschwundenen Unterlagen suchen. Viele müssen solche und ähnliche Erfahrungen immer wieder machen; und nicht immer sind unsere Herzen dem gewachsen. Vielfach reagieren sie mit Beklemmung, mitunter auch mit Infarkt, krankhaftem Herzflimmern oder Herzmuskelentzündungen. Das meiste davon lässt sich heute glücklicherweise wieder ausheilen. Was aber bleibt, ist die Erinnerung an den Druck auf Herz und Seele, an das schmerzhafte Empfinden in der Brust.
Ohne die Erfahrung von Liebe und Leid ist unser Herz nicht zu verstehen. Als bloßer Muskel lässt es sich nicht behandeln. Auch als Ärzte werden wir immer wieder daran erinnert. Erschüttert denke ich daran, wie mein Vater schrie, nachdem mein Bruder, der zweite von uns dreien, in seinen Armen gestorben war. Vergebens hatten wir versucht, seine Leukämie zu besiegen. Der Medizin waren Grenzen gesetzt. Damals musste ich schweren Herzens erkennen und verstehen lernen, dass leben zu dürfen eine Gnade und Sterben unser ständiger Begleiter ist. Am Ende hat das mein Herz erleichtert und befreit. Das Herz meines Vaters aber blieb gebrochen. Der Verlust hinterließ bis zu seinem baldigen Tod einen flimmernden Herzschmerz. Erst allmählich konnten wir das verstehen.
Auch dank solcher Erfahrungen weiß ich heute, dass unser Herz nicht nur eine Pumpe ist, so wie wir es in der medizinischen Ausbildung lernen. Als ein sogenanntes psycho-somatisches Organ reagiert es auf seelische Erschütterungen, auf positiven oder negativen Stress. Es schlägt den Takt des Lebens in einem sehr viel umfassenderen Sinn. An ihm hängen Anfang und Ende, auch wenn uns das oft erst in der Not bewusst werden mag. Wer einmal am Bett eines Herzkranken gesessen hat, weiß, wie viele Fragen da plötzlich auftauchen und dass dem Patienten, dem Menschen, mit anatomischen Erklärungen allein nicht geholfen ist. Wenn jemand beispielsweise Tage um Tage mit 41 Fieber gerungen hat, weil er eine Herzmuskelentzündung hatte, will er danach nicht nur hören, dass es sich um eine Myokarditis handelte, nicht bloß erfahren, welche Ursachen und Folgen das haben könnte, er will auch wissen, was das Herz überhaupt ist, was es mit unserer Seele und den Gefühlen, dem Glück der Liebe und mit den Ängsten des Todes zu tun hat. Seit Jahrtausenden schon kreisen die Gedanken der Menschen um diese Fragen, in der Philosophie, in der Kunst sowie in der Literatur und natürlich in der Medizin. Keine Kultur, in der der Herz-Kult nicht eine zentrale Rolle spielt, in der das Herz nicht in die Mitte des Lebens rückte. Wer vom Herzen spricht, berührt immer das Ganze und den Einzelnen zugleich, Empfindung und Verstand zusammen.
Das Organ hat seine eigene Geschichte. Und wer sie verstehen will, der muss die Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten. Denn wir Menschen leben nicht nur vom Schlag unseres Herzens, wir fühlen es auch, wir spüren, dass es lachen und weinen, Purzelbäume schlagen oder zerreißen kann. Jeder erfährt das auf seine Weise durch Freude, Liebe, Schmerz und Leid. In zahllosen Kunstwerken, in Bildern, in Versen und Romanen ist diese Erkenntnis aufgehoben. Nur die Wissenschaft hat dies lange nicht wahrhaben wollen. Zum Glück aber gibt es unterdessen auch hierzu neueste Studien, die nun sogar naturwissenschaftlich beweisen: Das Herz fühlt!
Teil I
In der Mitte das Herz
Alles kommt vom Herzen her
Die Funktionsweise des gesunden Herzens
Das Herz ist die leibliche und die psychische, auch die mythische Mitte unseres Lebens, der Motor des Daseins, das gefühlte Zentrum des Ichs, der Seele und der Leidenschaft. Herz und Gefühl, Liebe, Freude und Schmerz gehören für uns zusammen. Über alle Grenzen hinweg besteht hier ein seltener Gleichklang der Kulturen seit Anbeginn. Seit jeher hat das Herz die Phantasie der Menschen beschäftigt, galt es ihnen als Symbol des Lebens und der Stärke. Bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien finden wir symbolische Andeutungen des Herzens, zum Beispiel im spanischen Altamira auf der Höhlenzeichnung eines Stieres oder auf den Fresken von El Pindal.
Schon in der Frühgeschichte und bei den Naturvölkern rankten sich Mythen und magische Rituale um das Herz, gab es erste Worte für das treibende Organ des Lebens. Die Indianer aus dem Mato Grosso in Brasilien sollen sogar über zwei verschiedene Worte für das Herz verfügt haben, über eines für das eigene und ein zweites für das Herz der anderen. Menschliche Beziehungen wurden als Herzensangelegenheit begriffen. Bei Freunden konnte man von der Kraft des Herzens profitieren, bei Feinden musste man sie fürchten und besiegen. Deshalb zelebrierten Naturvölker wie die Sioux-Indianer oder die Aschanti in Westafrika rituelle »Herzmahlzeiten«. Um die eigene Kraft, die körperliche und die geistige, zu verdoppeln, wurden die Herzen der Gegner verzehrt. Künstlerisch sublimiert, ohne den kannibalischen Vollzug, lässt sich dieser mythische Gehalt noch in der christlich-abendländischen Kultur finden. Siegfried etwa, auch der strahlende Held des »Nibelungenlieds«, kann die Sprache der Vögel erst verstehen, nachdem er das Herz des Drachen Fafnir verschlungen hat, wie man in der nordischen »Edda« lesen kann.
Wer das Herz hat, dem gehört das Leben; und was er tut, das liegt ihm nachher auch »auf dem Herzen«, wie wir heute noch sagen. Philosophisch begründet wurde die Vorstellung schon von den alten Ägyptern. Für sie war das Organ nicht nur ein Muskel, sondern das Zentrum der Gefühle, der Vernunft sowie der Schuld, die man womöglich auf sich geladen hatte. Als herzlos galt, wer nichts von Wahrheit und Gerechtigkeit wissen wollte. Bei der Mumifizierung wurde das Herz, anders als die übrigen inneren Organe, dem Toten mit auf die Reise ins Jenseits gegeben. Vor dem Eintritt in die Ewigkeit sollte es von dem Totenrichter Osiris gewogen werden. War es zu schwer mit Schuld beladen, drohten Strafen in der Unterwelt: ein Mythos, den nachfolgende Kulturen auf vielfältige Weise adaptierten. Noch in der mittelalterlichen christlichen Volksreligion wurde der Brauch des »Seelenwiegens« gepflegt. Auch in den uralten Veden, den religiösen Dichtungen der Inder, ebenso wie in Homers »Ilias« oder den Glaubensvorstellungen verschiedener Kulturen, im Judentum, im Islam, im Buddhismus, in den unterschiedlichsten Denkmodellen und Welterklärungsversuchen wird unser Bewusstsein, das menschliche Selbstverständnis, mit dem Herzen verbunden. Deshalb auch ließen seit dem frühen Mittelalter Aristokraten über viele Jahrhunderte ihren Körper und das Herz getrennt bestatten. In Deutschland geschah das zum letzten Mal 1954 nach dem Tod der bayerischen Kronprinzessin Antonie von Luxemburg, deren Herz in Altötting begraben liegt. Geradezu nationalmythische Bedeutung erlangte im 19. Jahrhundert die Heimholung des Herzens von Frédéric Chopin (1818-1849): Während sein Körper auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris begraben ist, ruht sein Herz in der Warschauer Heiligkreuzkirche.
Die Gehirne berühmter Menschen werden nach ihrem Tod bisweilen präpariert, um sie für die Forschung aufzubewahren. Mit dem Herzen dagegen pflegt die Nachwelt einen eher rituellen Umgang. Denn, so sagt Arthur Schopenhauer (1788-1860): »Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf.« Das »primum mobile« des Organismus, wie es Schopenhauer nennt, ist zur Metapher des Menschseins schlechthin geworden. Aus ihm beziehen wir die menschliche Orientierung, lange bevor der Kopf, die Ratio, unser Handeln und Verhalten zu bestimmen vermag. »Selbst in dem Leibe des Menschen / Gilt das Herz vor der Hand; die belebende Kraft ist im Herzen«, heißt es in den »Metamorphosen« des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.). Anders gesagt: Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Herz, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Oft unterscheiden die Philosophen daher die Logik des Herzens vom scharfen Verstand. Selbst der Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804), Präzeptor der kritischen Vernunft, schrieb, dass »das Herz dem Verstande die Vorschrift« gibt.
Hippokrates (um 460-370 v. Chr.), dem wir als Ärzte bis heute durch unseren Eid verpflichtet sind, hatte um 400 v. Chr. das Gehirn als das Organ des Verstandes ausgemacht, nachdem es zuvor als bloßes Füllwerk, als eine müllartige Absonderung anderer Organe angesehen worden war, doch war damit der Ort der Seele noch nicht bestimmt - nicht unter den Ärzten. Dieses Problem bedurfte philosophischer Lösung, etwa durch Platon (427-348/47 v. Chr.), der einen Kompromiss fand, indem er die niederen seelischen Eigenschaften in Bauch und Unterleib, die Vernunft und unsterbliche Seele im Kopf, den Mut und die Gefühlswelt aber im Herzen verortete. Diese Drei-Seelen-Lehre wurde erst durch seinen Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr) modifiziert. Der griechische Rationalist machte das Herz zum existentiellen Mittelpunkt des Menschen, wo wir bis heute den Sitz der Seele vermuten.
Die Überzeugung von der gestaltenden Kraft des Herzens gehört sozusagen zu den weltanschaulichen Prämissen der Menschheit. Jede Epoche, jede Kultur hat dieser aus der Erfahrung erwachsenen Erkenntnis auf ihre Weise Ausdruck verliehen. Weiter noch als die Ägypter, für die das Herz der Knoten war, der das Jenseits, das Göttliche und die Menschen verbindet, dachten die Inder, wenn sie glaubten, das Herz sei ein unendlicher Raum, in dem »der Herr des Weltalls« wohne und die See - le die Welt schaffen würde. Das Gleiche drückte auch Augustinus (354-430) in einem ganz anderen Kulturkreis aus, als er davon sprach, dass »die Liebe und das Licht Gottes in unsere Herzen« gegossen sei. In einem Gemälde von Stefan Lochner hält der Kirchenvater symbolisch »das Herz der Liebe« in der Hand.
Da wie dort, bei den Denkern des Altertums wie bei denen der jüngeren Geistesgeschichte, wurde und wird dem Herzen die höhere Vernunft, die Offenbarung des Menschlichen, die eigentliche, die »Herzensbildung« zugeschrieben. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), ein Zeitgenosse Kants, ging bei seinen Überlegungen davon aus, dass das fühlende Herz, insbesondere die Liebe und Leidenschaft, der »theoretischen Vernunft« überlegen sei. Das Prinzip sittlicher Orientierung sei nicht durch Morallehren erkennbar, sondern angeboren. Gott verlangt das Diktat des Herzens. Ganz ähnlich Voltaire (1694-1778), der seinem Leser zurief: »Bedenke, dass die ewige Weisheit des Allerhöchsten mit eigener Hand deinem innersten Herzen die natürliche Religion eingeprägt hat.«
Wesentliche Impulse unseres Handelns kommen nach den Vorstellungen vieler Kulturen aus dem zentralen Organ des Lebens, aus dem denkenden sowie aus dem fühlenden Herzen. Diese Einheit ist existenzbestimmend vom Anfang bis zum Ende, individuell und in unserem Verhältnis zueinander. Das Herz als Organ hat eine Bedeutung, die weit über das naturwissenschaftlich Fassbare hinausgeht. Reagierte es doch ständig und bisweilen durchaus bedrohlich auf emotionale Reize. Dass da nicht nur symbolische Verbindungen bestehen, haben Ärzte und Psychologen wie Sigmund Freud (1856-1934) oder C. G. Jung (1875-1971) Anfang des vorigen Jahrhunderts herausgefunden. Nicht zuletzt mit den Mitteln der Psychoanalyse konnten sie nachweisen, dass Gefühle und Gedanken oder gar traumatische Ereignisse, selbst wenn sie aus der Kindheit herrühren, sowohl das Bewusstsein als auch das Unbewusste beeinflussen und seelische sowie körperliche Reaktionen auslösen - negative, die der Behandlung bedürfen, aber auch positive, die wir uns viel zu selten bewusst machen.
Wenn wir ein anderes Herz direkt schlagen hören, regelmäßig und unbeirrbar, wenn wir es gar Haut an Haut spüren können, beruhigt uns das ungemein und schafft sofort ein Gefühl der Nähe und Geborgenheit. Als Fötus lagen wir unter dem Herzen der Mutter, geschützt und in Sicherheit; nach der Geburt lagen wir ihr am Herzen. Die emotionale Erinnerung dar - an begleitet uns ein Leben lang. Und immer dann, wenn wir jemandem so nahe kommen - körperlich oder seelisch -, dass wir seinen Herzschlag spüren oder hören, fühlen wir uns plötzlich wieder geborgen und froh, wie immer es uns sonst eben gehen mag. Überschäumende Fröhlichkeit erfasst uns in den Momenten glücklicher Verliebtheit, wenn unsere Herzen synchron zu schlagen beginnen, die Seelen im Gleichklang schwingen, zwei Menschen »ein Herz und eine Seele« sind.
Nur das eigene Herz, das kann man selbst nie schlagen hören, auch wenn man manchmal meint, es klopfe einem »bis zum Hals«. Was es mit diesen Tönen auf sich hat, ob und wann sie Anlass zur Sorge geben sollten, muss der Arzt mit dem geräuschverstärkenden Stethoskop heraushören, auskultieren, wie wir in der Medizin sagen. Bei keiner Untersuchung sonst lässt sich unmittelbarer erfassen, was uns erweckt und am Leben erhält. Dabei hatte sich der Anstoß zur Entwicklung dieses nützlichen Geräts eher zufällig ergeben, aus der Prüderie des 19. Jahrhunderts. Damals nämlich war es keineswegs üblich, dass man Patienten, geschweige denn Frauen, nackt untersuchte. In Pariser Krankenhäusern schüttelte man die Patienten und klopfte ihnen heftig auf die Brust bei Verdacht auf Wasseransammlung in der Lunge oder legte bei intensiver Lungenuntersuchung vielleicht einmal das Ohr auf den Rücken und den seitlichen Brustkorb. So geriet der französische Arzt René Théophile Laennec 1816 in eine Zwickmühle, als er eine hübsche junge Frau mit großem Busen auf Herz und Lunge untersuchen musste. Ihre Oberweite und das darüber liegende Leinenhemd machten eine Klopfschalluntersuchung (Perkussion) des Herzens, wie sie seit 1761, erfunden von dem Wiener Arzt Leopold Auenbrugger (1722-1809), üblich war, unmöglich. Laennec selbst umschrieb die Situation später sehr diplomatisch: »Da sie [die Patientin] recht beleibt war, ließen sich mit dem Abklopfen des Brustraumes mit der Hand keine Erkenntnisse gewinnen. Das Alter und Geschlecht der Patientin erlaubten es mir nicht, die von mir oben beschriebene Untersuchung durchzuführen. Doch fi el mir in dieser Situation ein bekanntes akustisches Phänomen ein: dass man nämlich, wenn man das Ohr an das Ende eines Holzbalkens legt, noch das leise Kratzen einer Nadel am anderen Ende hören kann. So verfi el ich darauf, dass dieses physikalische Phänomen mir im vorliegenden Falle von Nutzen sein könnte.« Da er sein Ohr nicht einfach auf die Brust der Dame legen konnte - das wäre schlicht ein Skandal gewesen -, rollte Laennec ein Papierheft zum Trichter: Das Stethoskop, wörtlich übersetzt »Brustspion«, war erfunden. Schnell wurde dann das Papier durch einen Glaszylinder ersetzt
und später mit einer Scheibe, einer Membran und zwei Schläuchen zum Weiterleiten des Schalls ausgestattet. Heute gehört das Stethoskop zu den Statussymbolen der Ärzte, ist es zum Zeichen ihrer medizinischen Kunst geworden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Hilflos sitze ich am Bett meiner Tochter, innerlich aufgewühlt, kraft- und ratlos. Was soll nun, was muss geschehen? Kein Stein will mehr auf den anderen passen. »Ganz klein mit Hut« liegt meine Tochter im Bett, seit Tagen hat sie fast 41 Grad Fieber. Tapfer versucht sie, mit ihrer frechen Mütze cool zu bleiben. Erschrecken, Verwunderung, Angst verraten ihre Blicke. Eben haben uns die behandelnden Ärzte mitgeteilt: Verdacht auf Myokarditis - Herzmuskelentzündung. Ein Schock, von dem wir uns langsam erholen müssen, weiß ich doch aus eigener leiblicher Erfahrung, was die Diagnose bedeuten kann.
Meine Tochter war gerade aus Südamerika zurückgekehrt. Nach einer eitrigen Mandelentzündung entwickelte sich das Fieber, Tag für Tag, eine Woche lang. Keine Antibiotika zeigten Wirkung. Kurzfristige Entfieberung konnte nur durch fiebersenkende Mittel und Wadenwickel erzielt werden; eine nachhaltige und deutliche Fiebersenkung war erst durch Kortison in hohen Dosen zu erreichen.
Wie habe ich meine Tochter bewundert, wie sie tapfer kämpfend diese Fieberschübe mit beängstigendem Schüttelfrost und Schwitzen bei der Entfieberung durchgehalten hat, vier-, fünfmal am Tag. Dieses Leiden und die eigene Hilflosigkeit waren zum Weinen. Als Vater konnte ich die nötige ärztliche Distanz nur schwer, im Grunde gar nicht aufbringen. Ärzte unseres Vertrauens hatten die Behandlung mit Empathie, Gewissenhaftigkeit und Erfolg übernommen.
Die beginnende Herzmuskelentzündung wurde gestoppt, meine Tochter erst einmal zufrieden entlassen. Danach aber kamen die Fragen: Was ist eine Herzmuskelentzündung? Warum ist sie lebensbedrohlich? Welche Folgen kann sie haben? Was sind Herzrhythmusstörungen? Wie sieht eigentlich das Herz aus, und wie wird es versorgt? Wie ist das mit den Gefühlen und dem gelegentlich pochenden Herzen, den Angelegenheiten zwischen Herz und Seele? Welche Rolle spielen diese Zusammenhänge und besonders das Herz in der Gedankenwelt, der Philosophie, der Literatur, Kunst, Religion und Medizin unserer und anderer Kulturen?
Fragen über Fragen, die sich auch mir plötzlich auf eine ganz neue Weise stellten und auf die ich in diesem Buch nach Antworten suchen möchte. Dabei geht es mir nicht um eine Bereicherung der kardiologischen Fachliteratur und auch nicht der geisteswissenschaftlichen. Diesen Beitrag leisten andere, hochqualifizierte Wissenschaftler. Aber vielleicht kann meine durchaus persönliche Betrachtung dazu anregen, sich wieder etwas mehr und vor allem umfassender mit dem Herzen zu beschäftigen. Deshalb habe ich versucht, »eine andere Organgeschichte« zu erzählen, für mich und für alle, die ihr Herz verstehen wollen.
Wer aber einfach nur das ein oder andere nachschlagen möch te, kann in den dritten, vierten und fünften Teil des Buches schauen, wo einzelne Herzkrankheiten, Therapieansätze und Behandlungsmethoden noch einmal ausführlich erklärt werden. Auch Hinweise zur Selbsthilfe oder Verständnishilfen für das Lesen eines Beipackzettels fi nden sich dort. Auf die vielfältigste Weise will das Buch so immer wieder auftauchende Fragen beantworten. Und ganz bewusst werden dabei die Grenzen der medizinischen Wissensbereiche im engeren Sinne überschritten. Denn wer sich auf das Thema erst einmal einlässt, merkt schnell, dass es mit dem Herzen mehr auf sich hat, als wir Ärzte uns allein zu erklären vermögen. Auch als Therapeuten sollten wir uns psychologisch, philosophisch und kulturgeschichtlich beraten lassen, wenn wir verstehen möchten, was das heißt: In der Mitte ... das Herz.
Dietrich Grönemeyer
Das Herz fühlt - eine Lebenserfahrung
Ich erinnere mich noch gut, welches Jubelgefühl, welche herz- erfrischende Stimmung mich erfasste, als ich, ein kleiner
Junge, zum ersten Mal das Lied »Geh aus mein Herz und suche Freud« hörte. Geradezu hineingerissen wurde ich von dieser Melodie. Einzelne Passagen konnte ich nach kurzer Zeit mitsingen: »Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide«. Es war, als wenn diese Musik mein Herz füllen und streicheln würde. Alles vibrierte, flimmerte; ein Zauber, der bis heute nichts von seinem Reiz verloren hat. Ein flüchtiger Gedanke daran, und wohlige Stimmung macht sich breit. Erste Herzensfreude, herüberstrahlend aus der Kindheit!
Oder Jahre später. Jeder kennt es, dieses phantastische Herzrasen, die glückliche Aufgeregtheit, wenn man sich zum ersten Mal verliebt. Ein Blick, Bruchteile einer Sekunde haben genügt, ein Empfinden der Glückseligkeit zu wecken. Von den Augen mitten ins Herz. Berauschende Freude nach dem erwiderten Lächeln und dazu »Wackelpuddingbeine«, Schmetterlinge im Bauch, trockener Mund und feuchte Hände: ein wundervolles Gefühl mit »mentalem Herzfl immern«, unvergesslich fürs Leben - wieder so eine Erfahrung, die Bleibendes stiftet, weil sie uns das Herz spüren lässt.
Irgendwann, in späteren Jahren, müssen wir dann aber auch die ganz andere Herzenserfahrung machen, Beklemmung, Druck und Angst. Das Berufsleben zumeist bringt dies in der modernen Welt mit sich. Überforderung, Ungerechtigkeit, Betrug treffen uns so, dass es einem im wahrsten Sinne des Wortes das Herz abschnürt. Jahrelang haben wir an einem Projekt gearbeitet, und plötzlich müssen wir erleben, wie ein anderer, einer, dem wir womöglich vertrauten, die Erfolge unter seinem Namen präsentiert, während wir noch vergebens nach den verschwundenen Unterlagen suchen. Viele müssen solche und ähnliche Erfahrungen immer wieder machen; und nicht immer sind unsere Herzen dem gewachsen. Vielfach reagieren sie mit Beklemmung, mitunter auch mit Infarkt, krankhaftem Herzflimmern oder Herzmuskelentzündungen. Das meiste davon lässt sich heute glücklicherweise wieder ausheilen. Was aber bleibt, ist die Erinnerung an den Druck auf Herz und Seele, an das schmerzhafte Empfinden in der Brust.
Ohne die Erfahrung von Liebe und Leid ist unser Herz nicht zu verstehen. Als bloßer Muskel lässt es sich nicht behandeln. Auch als Ärzte werden wir immer wieder daran erinnert. Erschüttert denke ich daran, wie mein Vater schrie, nachdem mein Bruder, der zweite von uns dreien, in seinen Armen gestorben war. Vergebens hatten wir versucht, seine Leukämie zu besiegen. Der Medizin waren Grenzen gesetzt. Damals musste ich schweren Herzens erkennen und verstehen lernen, dass leben zu dürfen eine Gnade und Sterben unser ständiger Begleiter ist. Am Ende hat das mein Herz erleichtert und befreit. Das Herz meines Vaters aber blieb gebrochen. Der Verlust hinterließ bis zu seinem baldigen Tod einen flimmernden Herzschmerz. Erst allmählich konnten wir das verstehen.
Auch dank solcher Erfahrungen weiß ich heute, dass unser Herz nicht nur eine Pumpe ist, so wie wir es in der medizinischen Ausbildung lernen. Als ein sogenanntes psycho-somatisches Organ reagiert es auf seelische Erschütterungen, auf positiven oder negativen Stress. Es schlägt den Takt des Lebens in einem sehr viel umfassenderen Sinn. An ihm hängen Anfang und Ende, auch wenn uns das oft erst in der Not bewusst werden mag. Wer einmal am Bett eines Herzkranken gesessen hat, weiß, wie viele Fragen da plötzlich auftauchen und dass dem Patienten, dem Menschen, mit anatomischen Erklärungen allein nicht geholfen ist. Wenn jemand beispielsweise Tage um Tage mit 41 Fieber gerungen hat, weil er eine Herzmuskelentzündung hatte, will er danach nicht nur hören, dass es sich um eine Myokarditis handelte, nicht bloß erfahren, welche Ursachen und Folgen das haben könnte, er will auch wissen, was das Herz überhaupt ist, was es mit unserer Seele und den Gefühlen, dem Glück der Liebe und mit den Ängsten des Todes zu tun hat. Seit Jahrtausenden schon kreisen die Gedanken der Menschen um diese Fragen, in der Philosophie, in der Kunst sowie in der Literatur und natürlich in der Medizin. Keine Kultur, in der der Herz-Kult nicht eine zentrale Rolle spielt, in der das Herz nicht in die Mitte des Lebens rückte. Wer vom Herzen spricht, berührt immer das Ganze und den Einzelnen zugleich, Empfindung und Verstand zusammen.
Das Organ hat seine eigene Geschichte. Und wer sie verstehen will, der muss die Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten. Denn wir Menschen leben nicht nur vom Schlag unseres Herzens, wir fühlen es auch, wir spüren, dass es lachen und weinen, Purzelbäume schlagen oder zerreißen kann. Jeder erfährt das auf seine Weise durch Freude, Liebe, Schmerz und Leid. In zahllosen Kunstwerken, in Bildern, in Versen und Romanen ist diese Erkenntnis aufgehoben. Nur die Wissenschaft hat dies lange nicht wahrhaben wollen. Zum Glück aber gibt es unterdessen auch hierzu neueste Studien, die nun sogar naturwissenschaftlich beweisen: Das Herz fühlt!
Teil I
In der Mitte das Herz
Alles kommt vom Herzen her
Die Funktionsweise des gesunden Herzens
Das Herz ist die leibliche und die psychische, auch die mythische Mitte unseres Lebens, der Motor des Daseins, das gefühlte Zentrum des Ichs, der Seele und der Leidenschaft. Herz und Gefühl, Liebe, Freude und Schmerz gehören für uns zusammen. Über alle Grenzen hinweg besteht hier ein seltener Gleichklang der Kulturen seit Anbeginn. Seit jeher hat das Herz die Phantasie der Menschen beschäftigt, galt es ihnen als Symbol des Lebens und der Stärke. Bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien finden wir symbolische Andeutungen des Herzens, zum Beispiel im spanischen Altamira auf der Höhlenzeichnung eines Stieres oder auf den Fresken von El Pindal.
Schon in der Frühgeschichte und bei den Naturvölkern rankten sich Mythen und magische Rituale um das Herz, gab es erste Worte für das treibende Organ des Lebens. Die Indianer aus dem Mato Grosso in Brasilien sollen sogar über zwei verschiedene Worte für das Herz verfügt haben, über eines für das eigene und ein zweites für das Herz der anderen. Menschliche Beziehungen wurden als Herzensangelegenheit begriffen. Bei Freunden konnte man von der Kraft des Herzens profitieren, bei Feinden musste man sie fürchten und besiegen. Deshalb zelebrierten Naturvölker wie die Sioux-Indianer oder die Aschanti in Westafrika rituelle »Herzmahlzeiten«. Um die eigene Kraft, die körperliche und die geistige, zu verdoppeln, wurden die Herzen der Gegner verzehrt. Künstlerisch sublimiert, ohne den kannibalischen Vollzug, lässt sich dieser mythische Gehalt noch in der christlich-abendländischen Kultur finden. Siegfried etwa, auch der strahlende Held des »Nibelungenlieds«, kann die Sprache der Vögel erst verstehen, nachdem er das Herz des Drachen Fafnir verschlungen hat, wie man in der nordischen »Edda« lesen kann.
Wer das Herz hat, dem gehört das Leben; und was er tut, das liegt ihm nachher auch »auf dem Herzen«, wie wir heute noch sagen. Philosophisch begründet wurde die Vorstellung schon von den alten Ägyptern. Für sie war das Organ nicht nur ein Muskel, sondern das Zentrum der Gefühle, der Vernunft sowie der Schuld, die man womöglich auf sich geladen hatte. Als herzlos galt, wer nichts von Wahrheit und Gerechtigkeit wissen wollte. Bei der Mumifizierung wurde das Herz, anders als die übrigen inneren Organe, dem Toten mit auf die Reise ins Jenseits gegeben. Vor dem Eintritt in die Ewigkeit sollte es von dem Totenrichter Osiris gewogen werden. War es zu schwer mit Schuld beladen, drohten Strafen in der Unterwelt: ein Mythos, den nachfolgende Kulturen auf vielfältige Weise adaptierten. Noch in der mittelalterlichen christlichen Volksreligion wurde der Brauch des »Seelenwiegens« gepflegt. Auch in den uralten Veden, den religiösen Dichtungen der Inder, ebenso wie in Homers »Ilias« oder den Glaubensvorstellungen verschiedener Kulturen, im Judentum, im Islam, im Buddhismus, in den unterschiedlichsten Denkmodellen und Welterklärungsversuchen wird unser Bewusstsein, das menschliche Selbstverständnis, mit dem Herzen verbunden. Deshalb auch ließen seit dem frühen Mittelalter Aristokraten über viele Jahrhunderte ihren Körper und das Herz getrennt bestatten. In Deutschland geschah das zum letzten Mal 1954 nach dem Tod der bayerischen Kronprinzessin Antonie von Luxemburg, deren Herz in Altötting begraben liegt. Geradezu nationalmythische Bedeutung erlangte im 19. Jahrhundert die Heimholung des Herzens von Frédéric Chopin (1818-1849): Während sein Körper auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris begraben ist, ruht sein Herz in der Warschauer Heiligkreuzkirche.
Die Gehirne berühmter Menschen werden nach ihrem Tod bisweilen präpariert, um sie für die Forschung aufzubewahren. Mit dem Herzen dagegen pflegt die Nachwelt einen eher rituellen Umgang. Denn, so sagt Arthur Schopenhauer (1788-1860): »Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf.« Das »primum mobile« des Organismus, wie es Schopenhauer nennt, ist zur Metapher des Menschseins schlechthin geworden. Aus ihm beziehen wir die menschliche Orientierung, lange bevor der Kopf, die Ratio, unser Handeln und Verhalten zu bestimmen vermag. »Selbst in dem Leibe des Menschen / Gilt das Herz vor der Hand; die belebende Kraft ist im Herzen«, heißt es in den »Metamorphosen« des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.). Anders gesagt: Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Herz, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Oft unterscheiden die Philosophen daher die Logik des Herzens vom scharfen Verstand. Selbst der Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804), Präzeptor der kritischen Vernunft, schrieb, dass »das Herz dem Verstande die Vorschrift« gibt.
Hippokrates (um 460-370 v. Chr.), dem wir als Ärzte bis heute durch unseren Eid verpflichtet sind, hatte um 400 v. Chr. das Gehirn als das Organ des Verstandes ausgemacht, nachdem es zuvor als bloßes Füllwerk, als eine müllartige Absonderung anderer Organe angesehen worden war, doch war damit der Ort der Seele noch nicht bestimmt - nicht unter den Ärzten. Dieses Problem bedurfte philosophischer Lösung, etwa durch Platon (427-348/47 v. Chr.), der einen Kompromiss fand, indem er die niederen seelischen Eigenschaften in Bauch und Unterleib, die Vernunft und unsterbliche Seele im Kopf, den Mut und die Gefühlswelt aber im Herzen verortete. Diese Drei-Seelen-Lehre wurde erst durch seinen Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr) modifiziert. Der griechische Rationalist machte das Herz zum existentiellen Mittelpunkt des Menschen, wo wir bis heute den Sitz der Seele vermuten.
Die Überzeugung von der gestaltenden Kraft des Herzens gehört sozusagen zu den weltanschaulichen Prämissen der Menschheit. Jede Epoche, jede Kultur hat dieser aus der Erfahrung erwachsenen Erkenntnis auf ihre Weise Ausdruck verliehen. Weiter noch als die Ägypter, für die das Herz der Knoten war, der das Jenseits, das Göttliche und die Menschen verbindet, dachten die Inder, wenn sie glaubten, das Herz sei ein unendlicher Raum, in dem »der Herr des Weltalls« wohne und die See - le die Welt schaffen würde. Das Gleiche drückte auch Augustinus (354-430) in einem ganz anderen Kulturkreis aus, als er davon sprach, dass »die Liebe und das Licht Gottes in unsere Herzen« gegossen sei. In einem Gemälde von Stefan Lochner hält der Kirchenvater symbolisch »das Herz der Liebe« in der Hand.
Da wie dort, bei den Denkern des Altertums wie bei denen der jüngeren Geistesgeschichte, wurde und wird dem Herzen die höhere Vernunft, die Offenbarung des Menschlichen, die eigentliche, die »Herzensbildung« zugeschrieben. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), ein Zeitgenosse Kants, ging bei seinen Überlegungen davon aus, dass das fühlende Herz, insbesondere die Liebe und Leidenschaft, der »theoretischen Vernunft« überlegen sei. Das Prinzip sittlicher Orientierung sei nicht durch Morallehren erkennbar, sondern angeboren. Gott verlangt das Diktat des Herzens. Ganz ähnlich Voltaire (1694-1778), der seinem Leser zurief: »Bedenke, dass die ewige Weisheit des Allerhöchsten mit eigener Hand deinem innersten Herzen die natürliche Religion eingeprägt hat.«
Wesentliche Impulse unseres Handelns kommen nach den Vorstellungen vieler Kulturen aus dem zentralen Organ des Lebens, aus dem denkenden sowie aus dem fühlenden Herzen. Diese Einheit ist existenzbestimmend vom Anfang bis zum Ende, individuell und in unserem Verhältnis zueinander. Das Herz als Organ hat eine Bedeutung, die weit über das naturwissenschaftlich Fassbare hinausgeht. Reagierte es doch ständig und bisweilen durchaus bedrohlich auf emotionale Reize. Dass da nicht nur symbolische Verbindungen bestehen, haben Ärzte und Psychologen wie Sigmund Freud (1856-1934) oder C. G. Jung (1875-1971) Anfang des vorigen Jahrhunderts herausgefunden. Nicht zuletzt mit den Mitteln der Psychoanalyse konnten sie nachweisen, dass Gefühle und Gedanken oder gar traumatische Ereignisse, selbst wenn sie aus der Kindheit herrühren, sowohl das Bewusstsein als auch das Unbewusste beeinflussen und seelische sowie körperliche Reaktionen auslösen - negative, die der Behandlung bedürfen, aber auch positive, die wir uns viel zu selten bewusst machen.
Wenn wir ein anderes Herz direkt schlagen hören, regelmäßig und unbeirrbar, wenn wir es gar Haut an Haut spüren können, beruhigt uns das ungemein und schafft sofort ein Gefühl der Nähe und Geborgenheit. Als Fötus lagen wir unter dem Herzen der Mutter, geschützt und in Sicherheit; nach der Geburt lagen wir ihr am Herzen. Die emotionale Erinnerung dar - an begleitet uns ein Leben lang. Und immer dann, wenn wir jemandem so nahe kommen - körperlich oder seelisch -, dass wir seinen Herzschlag spüren oder hören, fühlen wir uns plötzlich wieder geborgen und froh, wie immer es uns sonst eben gehen mag. Überschäumende Fröhlichkeit erfasst uns in den Momenten glücklicher Verliebtheit, wenn unsere Herzen synchron zu schlagen beginnen, die Seelen im Gleichklang schwingen, zwei Menschen »ein Herz und eine Seele« sind.
Nur das eigene Herz, das kann man selbst nie schlagen hören, auch wenn man manchmal meint, es klopfe einem »bis zum Hals«. Was es mit diesen Tönen auf sich hat, ob und wann sie Anlass zur Sorge geben sollten, muss der Arzt mit dem geräuschverstärkenden Stethoskop heraushören, auskultieren, wie wir in der Medizin sagen. Bei keiner Untersuchung sonst lässt sich unmittelbarer erfassen, was uns erweckt und am Leben erhält. Dabei hatte sich der Anstoß zur Entwicklung dieses nützlichen Geräts eher zufällig ergeben, aus der Prüderie des 19. Jahrhunderts. Damals nämlich war es keineswegs üblich, dass man Patienten, geschweige denn Frauen, nackt untersuchte. In Pariser Krankenhäusern schüttelte man die Patienten und klopfte ihnen heftig auf die Brust bei Verdacht auf Wasseransammlung in der Lunge oder legte bei intensiver Lungenuntersuchung vielleicht einmal das Ohr auf den Rücken und den seitlichen Brustkorb. So geriet der französische Arzt René Théophile Laennec 1816 in eine Zwickmühle, als er eine hübsche junge Frau mit großem Busen auf Herz und Lunge untersuchen musste. Ihre Oberweite und das darüber liegende Leinenhemd machten eine Klopfschalluntersuchung (Perkussion) des Herzens, wie sie seit 1761, erfunden von dem Wiener Arzt Leopold Auenbrugger (1722-1809), üblich war, unmöglich. Laennec selbst umschrieb die Situation später sehr diplomatisch: »Da sie [die Patientin] recht beleibt war, ließen sich mit dem Abklopfen des Brustraumes mit der Hand keine Erkenntnisse gewinnen. Das Alter und Geschlecht der Patientin erlaubten es mir nicht, die von mir oben beschriebene Untersuchung durchzuführen. Doch fi el mir in dieser Situation ein bekanntes akustisches Phänomen ein: dass man nämlich, wenn man das Ohr an das Ende eines Holzbalkens legt, noch das leise Kratzen einer Nadel am anderen Ende hören kann. So verfi el ich darauf, dass dieses physikalische Phänomen mir im vorliegenden Falle von Nutzen sein könnte.« Da er sein Ohr nicht einfach auf die Brust der Dame legen konnte - das wäre schlicht ein Skandal gewesen -, rollte Laennec ein Papierheft zum Trichter: Das Stethoskop, wörtlich übersetzt »Brustspion«, war erfunden. Schnell wurde dann das Papier durch einen Glaszylinder ersetzt
und später mit einer Scheibe, einer Membran und zwei Schläuchen zum Weiterleiten des Schalls ausgestattet. Heute gehört das Stethoskop zu den Statussymbolen der Ärzte, ist es zum Zeichen ihrer medizinischen Kunst geworden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Dietrich H. W. Grönemeyer
Dietrich Grönemeyer, geb. 1952, ist einer der renommiertesten Ärzte Deutschlands und gilt als "Vater der Mikrotherapie". Der Rückenspezialist ist Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten/Herdecke und Leiter des Grönemeyer Instituts in Bochum. Als Arzt und Autor setzt er sich in Publikationen und Vorträgen für eine neue Wahrnehmung der Medizin ein sowie für eine undogmatische interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedensten Disziplinen zwischen HighTech und Naturheilkunde, zum Wohle der Patienten. Seit Jahren plädiert er für die Einführung von Gesundheitsunterricht an Schulen. Weltweite Gastprofessuren und Vorträge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dietrich H. W. Grönemeyer
- 2010, 2. Aufl., 383 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. FISCHER
- ISBN-10: 3100273052
- ISBN-13: 9783100273055
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