Versuchung der Nacht / Demonica Bd.4
Roman
Der Dämon Lore ist Auftragsmörder wider Willen. Um seine Freiheit zurückzuerlangen, muss er einen letzten Mord begehen. Allerdings stellt sich ihm die schöne Idess, in deren Adern das Blut eines Engels fließt, in den Weg - denn ihre Aufgabe ist es, den...
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Produktinformationen zu „Versuchung der Nacht / Demonica Bd.4 “
Klappentext zu „Versuchung der Nacht / Demonica Bd.4 “
Der Dämon Lore ist Auftragsmörder wider Willen. Um seine Freiheit zurückzuerlangen, muss er einen letzten Mord begehen. Allerdings stellt sich ihm die schöne Idess, in deren Adern das Blut eines Engels fließt, in den Weg - denn ihre Aufgabe ist es, den Menschen zu beschützen, den Lore töten soll. Doch obwohl sie eigentlich Feinde sind, erwacht zwischen Engel und Dämon eine unbezähmbare Leidenschaft.
Lese-Probe zu „Versuchung der Nacht / Demonica Bd.4 “
Demonica - Versuchung der Nacht von Larissa Ione2
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Idess war dem Ende nah. Sie konnte es fühlen. Konnte es praktisch schmecken, und wie sie da auf dem Gipfel des Mount Everest stand und in den Himmel emporblickte, konnte sie es sich in allen Einzelheiten ausmalen.
Ein eisiger Sturm wirbelte den Schnee um sie herum auf, aber sie bemerkte es nicht einmal, obwohl sie lediglich mit einer tief sitzenden Tarnhose mit abgeschnittenen Beinen, einem bauchfreien Tanktop und Wanderstiefeln bekleidet war. Als eine Memitim - die einzige Klasse von Engeln, die als solche geboren und nicht durch die Hand Gottes dazu gemacht wurden - war sie den Elementen gegenüber unempfindlich. Genauer gesagt war sie den meisten Dingen gegenüber unempfindlich, die anderen Schaden zufügen konnten. Und schon bald würden selbst diese wenigen Dinge, die sie jetzt noch verletzen oder töten konnten, keine Bedrohung mehr sein. Schon bald würde sie aufsteigen, würde sich ihre Flügel verdienen und sich zu ihrer Engelmutter, ihren Brüdern und Schwestern im Himmel, die die Aszension bereits hinter sich hatten, gesellen.
Nicht, dass sie sich unbedingt nach ihnen sehnte. Mit Ausnahme ihres Bruders Rami kannte sie nur wenige ihrer Geschwister gut, die meisten allerdings gar nicht. Aber sie konnte es kaum erwarten, Rami zu sehen, nachdem sie die letzten fünfhundert Jahre, seit er aszendiert war, einsam und allein verbracht hatte.
Die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie Kontakt mit anderen hatte, war, wenn sie einkaufen ging - eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen - und wenn sie sich nährte - ein notwendiges Übel, das sie verabscheute. »Uns nähren zu müssen, ist der Fluch unseres Vaters«, hatte Rami gesagt. »Es erinnert uns daran, dass niemand perfekt ist und dass wir den Versuchungen des Fleisches widerstehen müssen, um jeglicher Verderbtheit Einhalt zu gebieten, die unsere Seelen besudeln würde.«
Rami hatte gefürchtet, dass sie den körperlichen Kontakt genießen könnte, zu dem es notwendigerweise kam, wenn sie sich von den Primori nährte. Und dass sie allmählich der Sünde erliegen würde.
Er war zu Recht besorgt gewesen. Blut zu trinken, bedeutete weitaus mehr als nur die kurze Infusion von Energie, die Memitim benötigten, um ihre Fähigkeit, sich zu blitzen, aufrechtzuerhalten. Es bewirkte außerdem eine zeitweise psychische Verbindung zu ihrem Wirt, der die Memitim dazu zwang, über Stunden zu fühlen, was die Primori fühlten - sei es Wut, Trauer oder Lust.
Oh, Idess konnte den Tag ihrer Aszension kaum noch erwarten. Dann wären derartige Intimitäten nicht mehr nötig. Unter den gegebenen Umständen verabscheute sie es dermaßen, sich nähren zu müssen, dass sie dazu neigte, es bis zum letztmöglichen Zeitpunkt aufzuschieben.
»Bald hat das ein Ende!«, schrie sie in den Himmel.
Der Wind verschluckte ihre Worte, doch sie wusste, dass sie gehört worden waren. Der Himmel hörte alles.
Bei diesem Gedanken fuhr ihr ein Stich der Angst ins Herz, denn in Wahrheit hoffte sie, dass es nicht der Fall war. Sie war nicht unbedingt ein ... Engel gewesen.
Dennoch stand sie kurz davor, einer zu werden. Sie musste nur zwei Primori bewachen, und einer von ihnen war die absolute Krönung.
Kynan Morgan war ein gezeichneter Hüter, ein Mensch, der von einem Engel gesegnet worden war. Hüter konnten nur von einem Wesen engelhaften Ursprungs verletzt oder getötet werden, was für gewöhnlich bedeutete, dass sie keine Memitim nötig hatten, die über sie wachten. Aber aus irgendeinem Grund war das bei ihm anders, und sie war auserwählt worden, ihn zu beschützen, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass jemand in der Lage war, seinen Segen zu umgehen. Andererseits war er unsterblich. Darum mussten sie ihn Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende Jahre überwachen.
Aber davon ging sie nicht aus. Ihr anderer Primori, ein Werwolf, war langlebig, aber nicht unsterblich, und wenn er erst einmal starb oder die Rolle gespielt hatte, die ihn für das Schicksal der Welt unverzichtbar machte, blieb nur noch Kynan übrig ... und jeder wusste doch, dass Memitim niemals nur einen einzigen Primori beschützten.
Sicherlich würde die Ehre, für Kynans Sicherheit zu sorgen, dann an eines ihrer Geschwister fallen, und sie würde sich endlich ihre Flügel verdienen, weil sie ihren Pflichten auf vorbildliche Weise nachgekommen war.
Sie konnte es kaum erwarten.
Die Erde war echt scheiße, wie die Menschen es heutzutage auszudrücken pflegten.
Sie seufzte. Dann stellte sie sich das Wohnzimmer ihrer italienischen Villa vor und blitzte sich von dem Berg in ihr Haus. Sie war ganz in der Nähe auf die Welt gekommen, und selbst nach Tausenden von Jahren spürte sie immer noch die Anziehungskraft, die sie Tag für Tag nach Hause führte.
Die Sohlen ihrer Stiefel klickten auf den beige- und goldfarbenen Fliesen, als sie auf die Küche zuging. Normalerweise würde sie jetzt die Anlage aufdrehen und sich ein bisschen Mozart zu Gemüte führen, aber die Aufregung versetzte ihr Blut in Wallung, und Hunger ließ ihren Magen knurren.
Sie musterte die Obstschüssel auf dem Esszimmertisch und den Teller voll feinster italienischer Pralinen auf dem Küchentresen. Nach kurzem Schwanken griff sie nach einem Granatapfel.
Obst ist ein Segen der Natur, wie Rami zu sagen pflegte. Wir sollten die Körper, die Gott uns schenkte, nicht mit geistigen Getränken und ungesunden Süßigkeiten entweihen.
Sicher, nichts davon vermochte ihr etwas anzuhaben, aber Rami war so gottesfürchtig und rein gewesen. Er war es sogar schon gewesen, bevor er im üblichen Alter von neunzehn aus seinem menschlichen Leben herausgeholt worden war, um Memitim zu werden. Und als ihr Lehrer in allem, was heilig war, hatte er sich als strenger Zuchtmeister erwiesen. Was, dachte sie, während sie sich eine Praline nahm, umso mehr Grund war, der Versuchung hin und wieder einmal nachzugeben. Genau genommen freute sie sich schon auf die Vorhaltungen, die er ihr machen würde, wenn sie ihn endlich wiedersah.
Ein plötzlicher Schmerz an ihrem rechten Handgelenk ließ sie zusammenzucken. Seltsam. Sie verdrehte den Arm, um sich die beiden Primori-Male von der Größe eines Vierteldollars auf der Unterseite anzusehen. Chases heraldi befand sich schon seit acht Jahren dort; es hatte dieselbe Farbe wie ihre Haut, und die zarten Linien waren leicht erhaben, wie ein Brandmal oder der Umriss eines frischen Tattoos. Doch Kynans war neu, erst drei Wochen alt, und sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, es zu sehen. Sie musterte es mit gerunzelter Stirn. Die Ränder waren rötlich verfärbt ... und schwollen zusehends an ... es begann zu brennen, zu glühen, und sie ließ die Schokolade mit einem Aufschrei fallen.
Kynan, einer der wenigen unantastbaren Menschen auf der Erde, befand sich in Gefahr.
Lore stand mit geballten Fäusten an der Eingangstür zu einer Villa im Norden des Bundesstaats New York und beobachtete Kynan. Der war dabei, das riesige, protzige Wohnzimmer zu durchsuchen, das s-förmige S'teng in der einen Hand, Weihwasser in der anderen. Offensichtlich hatten sich ein paar Hocker-Dämonen häuslich eingerichtet, und Kynan hatte vor, ihnen den Garaus zu machen, ehe die reiche Familie, die dort lebte, ausplaudern konnte, was vor sich ging. Und ehe jemand verletzt wurde.
Die Aegis - dein Freund und Helfer.
Ein Haufen heuchlerischer, selbstgerechter Weltretter. Lore hatte die Wächter noch nie besonders gemocht, aber vor zwei Jahrzehnten hatte sich diese Abneigung in regelrechten Hass verwandelt: Eines seiner Zielobjekte war ein Wächter gewesen, der sich mit dem falschen Dämon angelegt hatte. Und dieser Wächter hatte sein Handwerk so gut verstanden, dass er den Spieß fast umgedreht hätte.
Doch beinahe selbst zum Opfer geworden zu sein, war es nicht, was Lore so verärgert hatte - das hatte er verdient, weil er nicht gut genug aufgepasst hatte. Was Lore wirklich sauer gemacht hatte, war die Tatsache, dass die Wächter ein paar ziemlich hinterlistige, schäbige Methoden angewandt hatten, um Dämonen anzulocken und zu töten. Eine davon war, Dämonenbabys in einem Käfig gefangen zu halten und zu foltern, bis Erwachsene kamen, um die Kleinen zu retten.
Lore hatte nicht sehr viel für Dämonen übrig, aber es gab ein paar Dinge, die man einfach nicht machte. Ähm ... na ja. Das sagte gerade der Richtige. Einige der Dinge, die man nicht machte, hatte Lore während seiner Höllenjahre als Assassine selbst getan. Er warf Kynan einen Blick zu. Okay, er hatte jedenfalls keine Gewissensbisse, diesen Kerl auszuschalten. Sie waren Feinde, seit sie im anderen einen Konkurrenten um die Zuneigung derselben Frau erkannt hatten. Also seit dem ersten Augenblick. Damals hatte Lore auf eine Gelegenheit gehofft, dem Kerl seinen hässlichen Kopf abzureißen. Das ließ die Tatsache, dass Lore Kynan ins Leben zurückgeholt hatte, nachdem dieser verblutet war, besonders ironisch erscheinen. Andererseits hatte er Kynan ja auch nur wiederbelebt, weil er gesehen hatte, wie sehr Gem litt.
Dieses Mal würde er es nicht sehen müssen.
Das Sklavenmal auf Lores Brust pulsierte - es maß die Zeit bis zum Ablauf seiner Frist wie ein Countdown -, und es hatte keinen Sinn zu warten. Lore betrat das Gebäude. Seine Stiefel trafen lautstark auf den schwarzen, rotgeäderten Marmor und verkündeten seine Gegenwart ohne jedes Feingefühl. Lore war noch nie besonders zartfühlend gewesen.
Augenblicklich fuhr Kynan herum. »Was zum Teufel machst du denn hier?« Seine Stimme war eine Mischung aus Argwohn und wütendem Knurren. O ja, sie waren einander wirklich nicht grün.
Lore zog seine Handschuhe nicht aus - zu offensichtlich. Er würde seinen speziellen Todesstoß durch das Leder hindurch ausführen. »Ich möchte einen Waffenstillstand ausrufen.«
Kynan schnaubte. »Ich wusste ja noch gar nicht, dass die Hölle zugefroren ist.«
Was für ein Spaßvogel. Beinahe bereute Lore es, ihn umbringen zu müssen. Beinahe. »Aber es stimmt. Ich geh mal davon aus, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden, wenn ich meine Brüder jetzt ein bisschen besser kennenlerne. Und ich glaube, Handgreiflichkeiten werden bei Familienpicknicks gar nicht gern gesehen.«
»Offensichtlich hast du keine Ahnung von deinen Brüdern«, sagte Kynan trocken.
Lore überkam ein seltsames Gefühl ... als könnte er den Menschen möglicherweise unter den richtigen Umständen doch ganz gut leiden.
Erbarmungslos schob er diese schlappschwänzigen Gefühlsduseleien beiseite und riss sich zusammen. Immerhin stand das Leben seiner Schwester auf dem Spiel. »Na ja, das ist ja auch der Grund, wieso ich mehr Zeit mit ihnen verbringen will.« Nicht, dass das passieren würde. Er hatte Sin etwas versprochen, und diesmal würde er sie nicht enttäuschen. »Und - was meinst du?«
Kynans jeansblaue Augen blickten skeptisch drein, und Lores Hände wurden nass von Schweiß. »Ich hab dir noch gar nicht dafür gedankt, dass du mir das Leben gerettet hast.«
»Musst du auch nicht.« Eigentlich wäre so ein bisschen Schleimerei durchaus angebracht, angesichts der Schmerzen, denen Deth Lore dafür unterzogen hatte, dass er seine Wiederauferstehungskräfte eingesetzt hatte.
»Red keinen Scheiß.« Kynan rammte sein S'teng in den Waffenharnisch, der sich über seinem Brustkorb kreuzte, und das Geräusch von Metall, das flüssig in die Lederscheide glitt, hallte laut durch den riesigen Raum. »Das wirst du mir ganz bestimmt nicht bis in alle Ewigkeit vorhalten können. Ich werde dir danken und irgendwie dafür sorgen, dass wir quitt sind.«
Sie würden quitt sein, sobald Kynan der Ehrengast bei seiner eigenen Totenwache war. Augenblick mal ... Ewigkeit? Was zur Hölle meinte er denn mit Ewigkeit? Lore beäugte die goldene Kette, die um Kynans Hals hing. Die, die sich Lore schnappen sollte, nachdem er ihn getötet hatte. Wraith hatte ihm das kristallene Amulett gegeben ... verlieh es seinem Träger etwa magischen Schutz oder ein besonders langes Leben?
Tja, es gab nur einen Weg, wie er das herausfinden konnte. »Na gut, dann akzeptiere ich deinen Dank. Frieden?« Lore bot ihm die Hand dar, während er seine Gabe gleichzeitig mit so viel Energie versorgte, dass sein Arm vom obersten Symbol an der Halsbeuge bis zu seinen Fingerspitzen hinab brannte. Wenn er jetzt die Jacke auszog, würde jede Glyphe glutrot aufleuchten.
Eine ganze Weile stand Kynan einfach nur da. Nimm sie, nimm sie ... Lore krümmte die Finger in einer auffordernden Geste, in der Hoffnung, der Kerl würde endlich zur Sache kommen. Schließlich nickte Kynan.
Und dann streckte er ebenfalls die Hand aus. »Frieden.«
Idess materialisierte sich in einem Haus, einem ziemlich kostspieligen Haus, der Ausstattung nach zu schließen. Noch im selben Augenblick spürte sie einen stechenden Schmerz zwischen ihren Schulterblättern an den identischen Malen, an denen eines Tages einmal ihre Flügel wachsen würden. Diese Male waren eine Art Dämonensensor, und in diesem Moment schlugen beide Alarm.
Mitten in einem reich dekorierten, überaus großzügigen Raum stand Kynan einem hochgewachsenen Mann gegenüber, der in schwarzes Leder gekleidet war. Der Mann musste ein Dämon sein, und irgendwie auch die Quelle der Bedrohung, deren Schwingungen durch sie hindurchsummten, als hätte sie die Hände auf eine Stromleitung gelegt. Aber wie konnte er für Kynan eine Bedrohung darstellen? Der Mann war kein gefallener Engel, das würde sie spüren.
Dennoch versengte ihr Kynans heraldi den Arm, und das bedeutete, dass das Unmögliche in dieser Situation keine Rolle spielte. Sie blitzte sich zwischen die beiden Männer und nutzte das Überraschungselement und ihre überlegene Stärke, um dem Fremden beide Handflächen gegen den massiven Brustkorb zu rammen und ihn durchs ganze Zimmer zu schleudern.
»Was zum - « Er knallte krachend gegen die Wand. Der Aufprall war so gewaltig, dass der Putz abbröckelte und er in eine Staubwolke gehüllt wurde. Er schüttelte den Kopf, sodass ihm lauter weiße Krümel aus dem kurzen, beinahe schwarzen Haar rieselten.
Idess beschwor eine Sense herbei, die typische Waffe der Memitim und überaus nützlich, wenn es darum ging, einen Kopf von einem Körper abzutrennen. Sie hasste es zu töten - als Tochter eines Engels war sie von Natur aus eine Quelle und Beschützerin des Lebens -, aber sie würde alles tun, um die Sicherheit ihres Primori zu gewährleisten. Alles, dank der etwas gewalttätigeren Gene, die ihr ihr Vater vererbt hatte.
Sie schwang die Waffe in einem anmutigen Bogen - da prallte Kynan von hinten gegen sie, und ihr Schlag ging fehl, während sie zu Boden geschleudert wurde.
»Idiot!«, fauchte sie.
Offenbar war Kynan nicht klar, dass sie zu seinem Schutz da war. War ja klar, dass er ausgerechnet dem Mann zu Hilfe kommen musste, der gekommen war, um ihn zu töten. Sie rollte sich herum und sah gerade noch das S'teng aufblitzen, als es auf sie herabfuhr, spürte das Wispern von Metall, als es ihre Schulter streifte.
Und dann war auch schon der Dämon da, und seine behandschuhte Faust sauste mit solcher Geschwindigkeit auf sie herab, dass ihr kaum genug Zeit blieb, sich mit einer Drehung in Sicherheit zu bringen. Es gelang ihr, den nächsten Schlag abzufangen; sie sprang auf die Füße, streckte das Bein aus und traf ihn am Schienbein. Er stöhnte kurz auf, ging aber nicht zu Boden.
Kynan griff sie von der Seite an und platzierte einen Treffer, der einem Menschen das Knie gebrochen hätte. Verflixt noch mal, gegen beide Männer zugleich zu kämpfen, war wirklich ein bisschen zu viel. Sie wirbelte herum und knockte Kynan mit einem mächtigen, aber wohlüberlegten Schlag aus. In seinen Augen flackerte es, ehe sie nach oben wegrutschten, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Er brach zusammen.
Sogleich drehte sie sich zu dem verbleibenden Mann um. Er schlug nach ihr. Sie blockte ab. Hieb mit der Sense zu. Traf ihn mit einem Karatetritt, der ihn nach hinten taumeln ließ, wenn auch nur eine Sekunde lang. Er war kräftig gebaut, bewegte sich aber wie ein Panther und tänzelte leichtfüßig um sie herum. Jeder Schlag war wohlüberlegt, und die meisten Hiebe landeten auch tatsächlich auf ihrem Körper.
Von seinem Geschick überrascht, verlor sie an Schwung, und mit einer ganzen Reihe beeindruckender Moves brachte er ihr Rückgrat dazu, Bekanntschaft mit der Wand zu schließen. Den Unterarm gegen ihre Kehle gedrückt, hielt er sie dort mit seinem gut zwei Meter großen Körper fest. Seine Finger umfassten ihr Handgelenk und hielten es an ihrer Hüfte fest, sodass ihre Waffe nutzlos war. Für den Moment.
»Wer bist du?« In den ebenholzschwarzen Augen des Mannes, umrahmt von langen, üppigen Wimpern, für die jede Frau töten würde, funkelten wütende goldene Punkte.
»Angesichts der Tatsache, dass du ein Mörder bist, würde ich sagen, du hast nicht das geringste Recht, den Empörten zu spielen.«
»Angesichts der Tatsache, dass ich dich ohne Weiteres töten könnte, wenn ich auch nur ein kleines bisschen mehr Druck auf deinen Kehlkopf ausübe, würde ich sagen, dass es ganz schön dumm von dir ist, den Klugscheißer zu geben.« Er beugte sich noch ein wenig weiter vor, sodass seine Brust ihre Brüste berührte und seine Lippen ihre Wange streiften. »Aber du bist heiß, und ich wette, du fickst, wie du kämpfst. Darum vergebe ich dir deinen Mangel an Hirn.«
Dieser Schwachkopf war - wie drückte man das heutzutage gleich noch aus - erledigt? Ja, dieser Schwachkopf war so was von erledigt. »Ich werde es genießen, dich zu töten.«
Sein Griff um ihr Handgelenk wurde noch fester. »Wer schickt dich?«
»Gott.« Sie riss das Knie hoch, aber er wich aus, sodass sie seinen Unterleib nur streifte. Trotzdem sog er harsch die Luft ein. Nicht schlecht.
»Böses Mädchen«, knurrte er. Er trat ihr von hinten die Beine unter dem Leib weg und beförderte sie mit einem festen Stoß gegen den Hals auf den Boden.
Gleich darauf ließ er sich ebenfalls fallen und landete auf ihr. Ein einziger Gedanke und die rasche Bewegung ihrer Hand verwandelten die Sense in einen Dolch. Sie holte aus und traf ihn an der Schulter. Er zischte laut und zuckte zur Seite, als die Klinge durch die Lederjacke hindurch in sein Fleisch eindrang.
Eins zu null für das böse Mädchen. Sie rollte sich unter ihm weg, wobei sie ihn auch noch in den Oberschenkel stach. Der metallische Geruch von Blut füllte ihre Nase - ein verlockender Duft für jenen Teil von ihr, der sich einmal im Monat nähren musste. Aber viel wichtiger war, dass er ihr verriet, dass dieser Mann sowohl menschlicher als auch dämonischer Abstammung war.
Die Dämonenspezies erkannte sie nicht, aber angesichts seines unglaublich guten Aussehens würde sie auf eine Inkubus-Rasse tippen.
Sie stürzte sich auf ihn, um gleich noch einmal zuzustechen, aber er warf sich mit katzengleicher Geschwindigkeit zu Boden. Damit hatte er sich eine hässliche Stichwunde erspart, doch seine Lage verschaffte ihr zugleich die Möglichkeit, aufzuspringen und ihm eine Ferse in den Brustkorb zu rammen. Sie spürte Knochen unter ihrem Stiefel nachgeben, und er stieß ein schmerzerfülltes Grunzen aus, als er ihren Knöchel mit beiden Händen umfasste.
»Was ist bloß mit euch Frauen los, dass ihr mir in letzter Zeit andauernd an den Kragen wollt?«
»Das sagt doch eine ganze Menge über dich aus, meinst du nicht auch?« Mit einem Hauch von Bedauern, ein so wunderbares Exemplar von Mann vernichten zu müssen, schwang sie den Dolch nach unten.
Eine Vorahnung ließ ihre Haut einen Sekundenbruchteil lang prickeln, ehe das unverkennbare Klicken einer abgefeuerten Armbrust die Luft durchdrang. Idess schwankte, als etwas ihren Rücken traf. Es fühlte sich an wie eine Kanonenkugel. Blut explodierte in einem feinen Nebel aus ihrer Brust, und Dampf stieg zischend aus dem Loch gleich unter ihrem Brustbein auf, wo der Bolzen sie durchschlagen hatte.
Die Schmerzen waren in ihrer Intensität einzigartig und drohten sie von innen zu zerreißen. Sie schmeckte bittere Galle. Blut. Wer hatte so etwas tun können? Idess schnappte nach Luft, während sie sich taumelnd zu der Frau umwandte, die die Armbrust hielt. Sie war in blutrotes Leder gekleidet, das sich mit ihrem weinroten Haar biss, und stand schützend über Kynans leblosem Körper. Noch eine Wächterin.
Durch den Nebel aus Schmerz traf sie eine grauenhafte Erkenntnis: Der Bolzen war mit Geres getränkt gewesen, einem uralten ägyptischen Mumifizierungsparfum, das die Aegis im Kampf gegen gefallene Engel einsetzte. Es würde sie nicht töten, aber das Gift konnte sie für Jahre verkrüppeln und außer Gefecht setzen.
Memitim, die vor der Aszension standen, konnte es hingegen sehr wohl töten.
Der männliche Dämon rollte sich von Idess fort und kroch auf Kynan zu.
Idess' Muskeln verwandelten sich in Gummi, doch das verzweifelte Verlangen, den Dämon von Kynan fernzuhalten, ließ sie alle Kraft zusammennehmen und den Mann auf die Füße ziehen. Sie blitzte sie beide an den entlegensten Ort, den sie sich vorstellen konnte: einen Wald mitten in der Ukraine. Viele Dämonen krepierten in der Kälte. Sie hoffte, er gehörte dazu.
Doch als sie sich im Schnee materialisierten, der gut einen halben Meter hoch lag, wurde ihr rasch klar, dass dem nicht so war. Wenn er von ihrem plötzlichen Ausflug in die Wildnis überrascht war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Doch dann begann ihre Sehkraft nachzulassen, und sogar die makellos weiße Landschaft schien auf einmal von einem Grauschleier bedeckt. Ihre Finger wurden taub, und als ihre Fähigkeit, die heraufbeschworene Waffe aufrechtzuerhalten, versagte, verschwand der Dolch. Grauenhafte Angst ließ sie bis in die Grundfesten ihrer Seele erbeben. Das war's also. Das Ende. Sie hatte den Untergang Roms überlebt. Die Inquisition. Den Zweiten Weltkrieg. Und dann hatte irgendeine unbedeutende Jägerin, die auf derselben Seite spielte - für das Team Gut und Heilig - sie einfach so umgebracht.
Vor ihren Augen wurde alles schwarz. Ihre Sinne versagten, und sie fiel. In ihren Ohren erklang eine Stimme, gedämpft und wie aus weiter Ferne, und dann hob jemand sie auf. Doch sie wagte zu bezweifeln, dass die Arme, die sie festhielten, die eines Retters waren.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Idess war dem Ende nah. Sie konnte es fühlen. Konnte es praktisch schmecken, und wie sie da auf dem Gipfel des Mount Everest stand und in den Himmel emporblickte, konnte sie es sich in allen Einzelheiten ausmalen.
Ein eisiger Sturm wirbelte den Schnee um sie herum auf, aber sie bemerkte es nicht einmal, obwohl sie lediglich mit einer tief sitzenden Tarnhose mit abgeschnittenen Beinen, einem bauchfreien Tanktop und Wanderstiefeln bekleidet war. Als eine Memitim - die einzige Klasse von Engeln, die als solche geboren und nicht durch die Hand Gottes dazu gemacht wurden - war sie den Elementen gegenüber unempfindlich. Genauer gesagt war sie den meisten Dingen gegenüber unempfindlich, die anderen Schaden zufügen konnten. Und schon bald würden selbst diese wenigen Dinge, die sie jetzt noch verletzen oder töten konnten, keine Bedrohung mehr sein. Schon bald würde sie aufsteigen, würde sich ihre Flügel verdienen und sich zu ihrer Engelmutter, ihren Brüdern und Schwestern im Himmel, die die Aszension bereits hinter sich hatten, gesellen.
Nicht, dass sie sich unbedingt nach ihnen sehnte. Mit Ausnahme ihres Bruders Rami kannte sie nur wenige ihrer Geschwister gut, die meisten allerdings gar nicht. Aber sie konnte es kaum erwarten, Rami zu sehen, nachdem sie die letzten fünfhundert Jahre, seit er aszendiert war, einsam und allein verbracht hatte.
Die einzigen Gelegenheiten, bei denen sie Kontakt mit anderen hatte, war, wenn sie einkaufen ging - eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen - und wenn sie sich nährte - ein notwendiges Übel, das sie verabscheute. »Uns nähren zu müssen, ist der Fluch unseres Vaters«, hatte Rami gesagt. »Es erinnert uns daran, dass niemand perfekt ist und dass wir den Versuchungen des Fleisches widerstehen müssen, um jeglicher Verderbtheit Einhalt zu gebieten, die unsere Seelen besudeln würde.«
Rami hatte gefürchtet, dass sie den körperlichen Kontakt genießen könnte, zu dem es notwendigerweise kam, wenn sie sich von den Primori nährte. Und dass sie allmählich der Sünde erliegen würde.
Er war zu Recht besorgt gewesen. Blut zu trinken, bedeutete weitaus mehr als nur die kurze Infusion von Energie, die Memitim benötigten, um ihre Fähigkeit, sich zu blitzen, aufrechtzuerhalten. Es bewirkte außerdem eine zeitweise psychische Verbindung zu ihrem Wirt, der die Memitim dazu zwang, über Stunden zu fühlen, was die Primori fühlten - sei es Wut, Trauer oder Lust.
Oh, Idess konnte den Tag ihrer Aszension kaum noch erwarten. Dann wären derartige Intimitäten nicht mehr nötig. Unter den gegebenen Umständen verabscheute sie es dermaßen, sich nähren zu müssen, dass sie dazu neigte, es bis zum letztmöglichen Zeitpunkt aufzuschieben.
»Bald hat das ein Ende!«, schrie sie in den Himmel.
Der Wind verschluckte ihre Worte, doch sie wusste, dass sie gehört worden waren. Der Himmel hörte alles.
Bei diesem Gedanken fuhr ihr ein Stich der Angst ins Herz, denn in Wahrheit hoffte sie, dass es nicht der Fall war. Sie war nicht unbedingt ein ... Engel gewesen.
Dennoch stand sie kurz davor, einer zu werden. Sie musste nur zwei Primori bewachen, und einer von ihnen war die absolute Krönung.
Kynan Morgan war ein gezeichneter Hüter, ein Mensch, der von einem Engel gesegnet worden war. Hüter konnten nur von einem Wesen engelhaften Ursprungs verletzt oder getötet werden, was für gewöhnlich bedeutete, dass sie keine Memitim nötig hatten, die über sie wachten. Aber aus irgendeinem Grund war das bei ihm anders, und sie war auserwählt worden, ihn zu beschützen, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass jemand in der Lage war, seinen Segen zu umgehen. Andererseits war er unsterblich. Darum mussten sie ihn Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende Jahre überwachen.
Aber davon ging sie nicht aus. Ihr anderer Primori, ein Werwolf, war langlebig, aber nicht unsterblich, und wenn er erst einmal starb oder die Rolle gespielt hatte, die ihn für das Schicksal der Welt unverzichtbar machte, blieb nur noch Kynan übrig ... und jeder wusste doch, dass Memitim niemals nur einen einzigen Primori beschützten.
Sicherlich würde die Ehre, für Kynans Sicherheit zu sorgen, dann an eines ihrer Geschwister fallen, und sie würde sich endlich ihre Flügel verdienen, weil sie ihren Pflichten auf vorbildliche Weise nachgekommen war.
Sie konnte es kaum erwarten.
Die Erde war echt scheiße, wie die Menschen es heutzutage auszudrücken pflegten.
Sie seufzte. Dann stellte sie sich das Wohnzimmer ihrer italienischen Villa vor und blitzte sich von dem Berg in ihr Haus. Sie war ganz in der Nähe auf die Welt gekommen, und selbst nach Tausenden von Jahren spürte sie immer noch die Anziehungskraft, die sie Tag für Tag nach Hause führte.
Die Sohlen ihrer Stiefel klickten auf den beige- und goldfarbenen Fliesen, als sie auf die Küche zuging. Normalerweise würde sie jetzt die Anlage aufdrehen und sich ein bisschen Mozart zu Gemüte führen, aber die Aufregung versetzte ihr Blut in Wallung, und Hunger ließ ihren Magen knurren.
Sie musterte die Obstschüssel auf dem Esszimmertisch und den Teller voll feinster italienischer Pralinen auf dem Küchentresen. Nach kurzem Schwanken griff sie nach einem Granatapfel.
Obst ist ein Segen der Natur, wie Rami zu sagen pflegte. Wir sollten die Körper, die Gott uns schenkte, nicht mit geistigen Getränken und ungesunden Süßigkeiten entweihen.
Sicher, nichts davon vermochte ihr etwas anzuhaben, aber Rami war so gottesfürchtig und rein gewesen. Er war es sogar schon gewesen, bevor er im üblichen Alter von neunzehn aus seinem menschlichen Leben herausgeholt worden war, um Memitim zu werden. Und als ihr Lehrer in allem, was heilig war, hatte er sich als strenger Zuchtmeister erwiesen. Was, dachte sie, während sie sich eine Praline nahm, umso mehr Grund war, der Versuchung hin und wieder einmal nachzugeben. Genau genommen freute sie sich schon auf die Vorhaltungen, die er ihr machen würde, wenn sie ihn endlich wiedersah.
Ein plötzlicher Schmerz an ihrem rechten Handgelenk ließ sie zusammenzucken. Seltsam. Sie verdrehte den Arm, um sich die beiden Primori-Male von der Größe eines Vierteldollars auf der Unterseite anzusehen. Chases heraldi befand sich schon seit acht Jahren dort; es hatte dieselbe Farbe wie ihre Haut, und die zarten Linien waren leicht erhaben, wie ein Brandmal oder der Umriss eines frischen Tattoos. Doch Kynans war neu, erst drei Wochen alt, und sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, es zu sehen. Sie musterte es mit gerunzelter Stirn. Die Ränder waren rötlich verfärbt ... und schwollen zusehends an ... es begann zu brennen, zu glühen, und sie ließ die Schokolade mit einem Aufschrei fallen.
Kynan, einer der wenigen unantastbaren Menschen auf der Erde, befand sich in Gefahr.
Lore stand mit geballten Fäusten an der Eingangstür zu einer Villa im Norden des Bundesstaats New York und beobachtete Kynan. Der war dabei, das riesige, protzige Wohnzimmer zu durchsuchen, das s-förmige S'teng in der einen Hand, Weihwasser in der anderen. Offensichtlich hatten sich ein paar Hocker-Dämonen häuslich eingerichtet, und Kynan hatte vor, ihnen den Garaus zu machen, ehe die reiche Familie, die dort lebte, ausplaudern konnte, was vor sich ging. Und ehe jemand verletzt wurde.
Die Aegis - dein Freund und Helfer.
Ein Haufen heuchlerischer, selbstgerechter Weltretter. Lore hatte die Wächter noch nie besonders gemocht, aber vor zwei Jahrzehnten hatte sich diese Abneigung in regelrechten Hass verwandelt: Eines seiner Zielobjekte war ein Wächter gewesen, der sich mit dem falschen Dämon angelegt hatte. Und dieser Wächter hatte sein Handwerk so gut verstanden, dass er den Spieß fast umgedreht hätte.
Doch beinahe selbst zum Opfer geworden zu sein, war es nicht, was Lore so verärgert hatte - das hatte er verdient, weil er nicht gut genug aufgepasst hatte. Was Lore wirklich sauer gemacht hatte, war die Tatsache, dass die Wächter ein paar ziemlich hinterlistige, schäbige Methoden angewandt hatten, um Dämonen anzulocken und zu töten. Eine davon war, Dämonenbabys in einem Käfig gefangen zu halten und zu foltern, bis Erwachsene kamen, um die Kleinen zu retten.
Lore hatte nicht sehr viel für Dämonen übrig, aber es gab ein paar Dinge, die man einfach nicht machte. Ähm ... na ja. Das sagte gerade der Richtige. Einige der Dinge, die man nicht machte, hatte Lore während seiner Höllenjahre als Assassine selbst getan. Er warf Kynan einen Blick zu. Okay, er hatte jedenfalls keine Gewissensbisse, diesen Kerl auszuschalten. Sie waren Feinde, seit sie im anderen einen Konkurrenten um die Zuneigung derselben Frau erkannt hatten. Also seit dem ersten Augenblick. Damals hatte Lore auf eine Gelegenheit gehofft, dem Kerl seinen hässlichen Kopf abzureißen. Das ließ die Tatsache, dass Lore Kynan ins Leben zurückgeholt hatte, nachdem dieser verblutet war, besonders ironisch erscheinen. Andererseits hatte er Kynan ja auch nur wiederbelebt, weil er gesehen hatte, wie sehr Gem litt.
Dieses Mal würde er es nicht sehen müssen.
Das Sklavenmal auf Lores Brust pulsierte - es maß die Zeit bis zum Ablauf seiner Frist wie ein Countdown -, und es hatte keinen Sinn zu warten. Lore betrat das Gebäude. Seine Stiefel trafen lautstark auf den schwarzen, rotgeäderten Marmor und verkündeten seine Gegenwart ohne jedes Feingefühl. Lore war noch nie besonders zartfühlend gewesen.
Augenblicklich fuhr Kynan herum. »Was zum Teufel machst du denn hier?« Seine Stimme war eine Mischung aus Argwohn und wütendem Knurren. O ja, sie waren einander wirklich nicht grün.
Lore zog seine Handschuhe nicht aus - zu offensichtlich. Er würde seinen speziellen Todesstoß durch das Leder hindurch ausführen. »Ich möchte einen Waffenstillstand ausrufen.«
Kynan schnaubte. »Ich wusste ja noch gar nicht, dass die Hölle zugefroren ist.«
Was für ein Spaßvogel. Beinahe bereute Lore es, ihn umbringen zu müssen. Beinahe. »Aber es stimmt. Ich geh mal davon aus, dass wir uns in Zukunft öfter sehen werden, wenn ich meine Brüder jetzt ein bisschen besser kennenlerne. Und ich glaube, Handgreiflichkeiten werden bei Familienpicknicks gar nicht gern gesehen.«
»Offensichtlich hast du keine Ahnung von deinen Brüdern«, sagte Kynan trocken.
Lore überkam ein seltsames Gefühl ... als könnte er den Menschen möglicherweise unter den richtigen Umständen doch ganz gut leiden.
Erbarmungslos schob er diese schlappschwänzigen Gefühlsduseleien beiseite und riss sich zusammen. Immerhin stand das Leben seiner Schwester auf dem Spiel. »Na ja, das ist ja auch der Grund, wieso ich mehr Zeit mit ihnen verbringen will.« Nicht, dass das passieren würde. Er hatte Sin etwas versprochen, und diesmal würde er sie nicht enttäuschen. »Und - was meinst du?«
Kynans jeansblaue Augen blickten skeptisch drein, und Lores Hände wurden nass von Schweiß. »Ich hab dir noch gar nicht dafür gedankt, dass du mir das Leben gerettet hast.«
»Musst du auch nicht.« Eigentlich wäre so ein bisschen Schleimerei durchaus angebracht, angesichts der Schmerzen, denen Deth Lore dafür unterzogen hatte, dass er seine Wiederauferstehungskräfte eingesetzt hatte.
»Red keinen Scheiß.« Kynan rammte sein S'teng in den Waffenharnisch, der sich über seinem Brustkorb kreuzte, und das Geräusch von Metall, das flüssig in die Lederscheide glitt, hallte laut durch den riesigen Raum. »Das wirst du mir ganz bestimmt nicht bis in alle Ewigkeit vorhalten können. Ich werde dir danken und irgendwie dafür sorgen, dass wir quitt sind.«
Sie würden quitt sein, sobald Kynan der Ehrengast bei seiner eigenen Totenwache war. Augenblick mal ... Ewigkeit? Was zur Hölle meinte er denn mit Ewigkeit? Lore beäugte die goldene Kette, die um Kynans Hals hing. Die, die sich Lore schnappen sollte, nachdem er ihn getötet hatte. Wraith hatte ihm das kristallene Amulett gegeben ... verlieh es seinem Träger etwa magischen Schutz oder ein besonders langes Leben?
Tja, es gab nur einen Weg, wie er das herausfinden konnte. »Na gut, dann akzeptiere ich deinen Dank. Frieden?« Lore bot ihm die Hand dar, während er seine Gabe gleichzeitig mit so viel Energie versorgte, dass sein Arm vom obersten Symbol an der Halsbeuge bis zu seinen Fingerspitzen hinab brannte. Wenn er jetzt die Jacke auszog, würde jede Glyphe glutrot aufleuchten.
Eine ganze Weile stand Kynan einfach nur da. Nimm sie, nimm sie ... Lore krümmte die Finger in einer auffordernden Geste, in der Hoffnung, der Kerl würde endlich zur Sache kommen. Schließlich nickte Kynan.
Und dann streckte er ebenfalls die Hand aus. »Frieden.«
Idess materialisierte sich in einem Haus, einem ziemlich kostspieligen Haus, der Ausstattung nach zu schließen. Noch im selben Augenblick spürte sie einen stechenden Schmerz zwischen ihren Schulterblättern an den identischen Malen, an denen eines Tages einmal ihre Flügel wachsen würden. Diese Male waren eine Art Dämonensensor, und in diesem Moment schlugen beide Alarm.
Mitten in einem reich dekorierten, überaus großzügigen Raum stand Kynan einem hochgewachsenen Mann gegenüber, der in schwarzes Leder gekleidet war. Der Mann musste ein Dämon sein, und irgendwie auch die Quelle der Bedrohung, deren Schwingungen durch sie hindurchsummten, als hätte sie die Hände auf eine Stromleitung gelegt. Aber wie konnte er für Kynan eine Bedrohung darstellen? Der Mann war kein gefallener Engel, das würde sie spüren.
Dennoch versengte ihr Kynans heraldi den Arm, und das bedeutete, dass das Unmögliche in dieser Situation keine Rolle spielte. Sie blitzte sich zwischen die beiden Männer und nutzte das Überraschungselement und ihre überlegene Stärke, um dem Fremden beide Handflächen gegen den massiven Brustkorb zu rammen und ihn durchs ganze Zimmer zu schleudern.
»Was zum - « Er knallte krachend gegen die Wand. Der Aufprall war so gewaltig, dass der Putz abbröckelte und er in eine Staubwolke gehüllt wurde. Er schüttelte den Kopf, sodass ihm lauter weiße Krümel aus dem kurzen, beinahe schwarzen Haar rieselten.
Idess beschwor eine Sense herbei, die typische Waffe der Memitim und überaus nützlich, wenn es darum ging, einen Kopf von einem Körper abzutrennen. Sie hasste es zu töten - als Tochter eines Engels war sie von Natur aus eine Quelle und Beschützerin des Lebens -, aber sie würde alles tun, um die Sicherheit ihres Primori zu gewährleisten. Alles, dank der etwas gewalttätigeren Gene, die ihr ihr Vater vererbt hatte.
Sie schwang die Waffe in einem anmutigen Bogen - da prallte Kynan von hinten gegen sie, und ihr Schlag ging fehl, während sie zu Boden geschleudert wurde.
»Idiot!«, fauchte sie.
Offenbar war Kynan nicht klar, dass sie zu seinem Schutz da war. War ja klar, dass er ausgerechnet dem Mann zu Hilfe kommen musste, der gekommen war, um ihn zu töten. Sie rollte sich herum und sah gerade noch das S'teng aufblitzen, als es auf sie herabfuhr, spürte das Wispern von Metall, als es ihre Schulter streifte.
Und dann war auch schon der Dämon da, und seine behandschuhte Faust sauste mit solcher Geschwindigkeit auf sie herab, dass ihr kaum genug Zeit blieb, sich mit einer Drehung in Sicherheit zu bringen. Es gelang ihr, den nächsten Schlag abzufangen; sie sprang auf die Füße, streckte das Bein aus und traf ihn am Schienbein. Er stöhnte kurz auf, ging aber nicht zu Boden.
Kynan griff sie von der Seite an und platzierte einen Treffer, der einem Menschen das Knie gebrochen hätte. Verflixt noch mal, gegen beide Männer zugleich zu kämpfen, war wirklich ein bisschen zu viel. Sie wirbelte herum und knockte Kynan mit einem mächtigen, aber wohlüberlegten Schlag aus. In seinen Augen flackerte es, ehe sie nach oben wegrutschten, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Er brach zusammen.
Sogleich drehte sie sich zu dem verbleibenden Mann um. Er schlug nach ihr. Sie blockte ab. Hieb mit der Sense zu. Traf ihn mit einem Karatetritt, der ihn nach hinten taumeln ließ, wenn auch nur eine Sekunde lang. Er war kräftig gebaut, bewegte sich aber wie ein Panther und tänzelte leichtfüßig um sie herum. Jeder Schlag war wohlüberlegt, und die meisten Hiebe landeten auch tatsächlich auf ihrem Körper.
Von seinem Geschick überrascht, verlor sie an Schwung, und mit einer ganzen Reihe beeindruckender Moves brachte er ihr Rückgrat dazu, Bekanntschaft mit der Wand zu schließen. Den Unterarm gegen ihre Kehle gedrückt, hielt er sie dort mit seinem gut zwei Meter großen Körper fest. Seine Finger umfassten ihr Handgelenk und hielten es an ihrer Hüfte fest, sodass ihre Waffe nutzlos war. Für den Moment.
»Wer bist du?« In den ebenholzschwarzen Augen des Mannes, umrahmt von langen, üppigen Wimpern, für die jede Frau töten würde, funkelten wütende goldene Punkte.
»Angesichts der Tatsache, dass du ein Mörder bist, würde ich sagen, du hast nicht das geringste Recht, den Empörten zu spielen.«
»Angesichts der Tatsache, dass ich dich ohne Weiteres töten könnte, wenn ich auch nur ein kleines bisschen mehr Druck auf deinen Kehlkopf ausübe, würde ich sagen, dass es ganz schön dumm von dir ist, den Klugscheißer zu geben.« Er beugte sich noch ein wenig weiter vor, sodass seine Brust ihre Brüste berührte und seine Lippen ihre Wange streiften. »Aber du bist heiß, und ich wette, du fickst, wie du kämpfst. Darum vergebe ich dir deinen Mangel an Hirn.«
Dieser Schwachkopf war - wie drückte man das heutzutage gleich noch aus - erledigt? Ja, dieser Schwachkopf war so was von erledigt. »Ich werde es genießen, dich zu töten.«
Sein Griff um ihr Handgelenk wurde noch fester. »Wer schickt dich?«
»Gott.« Sie riss das Knie hoch, aber er wich aus, sodass sie seinen Unterleib nur streifte. Trotzdem sog er harsch die Luft ein. Nicht schlecht.
»Böses Mädchen«, knurrte er. Er trat ihr von hinten die Beine unter dem Leib weg und beförderte sie mit einem festen Stoß gegen den Hals auf den Boden.
Gleich darauf ließ er sich ebenfalls fallen und landete auf ihr. Ein einziger Gedanke und die rasche Bewegung ihrer Hand verwandelten die Sense in einen Dolch. Sie holte aus und traf ihn an der Schulter. Er zischte laut und zuckte zur Seite, als die Klinge durch die Lederjacke hindurch in sein Fleisch eindrang.
Eins zu null für das böse Mädchen. Sie rollte sich unter ihm weg, wobei sie ihn auch noch in den Oberschenkel stach. Der metallische Geruch von Blut füllte ihre Nase - ein verlockender Duft für jenen Teil von ihr, der sich einmal im Monat nähren musste. Aber viel wichtiger war, dass er ihr verriet, dass dieser Mann sowohl menschlicher als auch dämonischer Abstammung war.
Die Dämonenspezies erkannte sie nicht, aber angesichts seines unglaublich guten Aussehens würde sie auf eine Inkubus-Rasse tippen.
Sie stürzte sich auf ihn, um gleich noch einmal zuzustechen, aber er warf sich mit katzengleicher Geschwindigkeit zu Boden. Damit hatte er sich eine hässliche Stichwunde erspart, doch seine Lage verschaffte ihr zugleich die Möglichkeit, aufzuspringen und ihm eine Ferse in den Brustkorb zu rammen. Sie spürte Knochen unter ihrem Stiefel nachgeben, und er stieß ein schmerzerfülltes Grunzen aus, als er ihren Knöchel mit beiden Händen umfasste.
»Was ist bloß mit euch Frauen los, dass ihr mir in letzter Zeit andauernd an den Kragen wollt?«
»Das sagt doch eine ganze Menge über dich aus, meinst du nicht auch?« Mit einem Hauch von Bedauern, ein so wunderbares Exemplar von Mann vernichten zu müssen, schwang sie den Dolch nach unten.
Eine Vorahnung ließ ihre Haut einen Sekundenbruchteil lang prickeln, ehe das unverkennbare Klicken einer abgefeuerten Armbrust die Luft durchdrang. Idess schwankte, als etwas ihren Rücken traf. Es fühlte sich an wie eine Kanonenkugel. Blut explodierte in einem feinen Nebel aus ihrer Brust, und Dampf stieg zischend aus dem Loch gleich unter ihrem Brustbein auf, wo der Bolzen sie durchschlagen hatte.
Die Schmerzen waren in ihrer Intensität einzigartig und drohten sie von innen zu zerreißen. Sie schmeckte bittere Galle. Blut. Wer hatte so etwas tun können? Idess schnappte nach Luft, während sie sich taumelnd zu der Frau umwandte, die die Armbrust hielt. Sie war in blutrotes Leder gekleidet, das sich mit ihrem weinroten Haar biss, und stand schützend über Kynans leblosem Körper. Noch eine Wächterin.
Durch den Nebel aus Schmerz traf sie eine grauenhafte Erkenntnis: Der Bolzen war mit Geres getränkt gewesen, einem uralten ägyptischen Mumifizierungsparfum, das die Aegis im Kampf gegen gefallene Engel einsetzte. Es würde sie nicht töten, aber das Gift konnte sie für Jahre verkrüppeln und außer Gefecht setzen.
Memitim, die vor der Aszension standen, konnte es hingegen sehr wohl töten.
Der männliche Dämon rollte sich von Idess fort und kroch auf Kynan zu.
Idess' Muskeln verwandelten sich in Gummi, doch das verzweifelte Verlangen, den Dämon von Kynan fernzuhalten, ließ sie alle Kraft zusammennehmen und den Mann auf die Füße ziehen. Sie blitzte sie beide an den entlegensten Ort, den sie sich vorstellen konnte: einen Wald mitten in der Ukraine. Viele Dämonen krepierten in der Kälte. Sie hoffte, er gehörte dazu.
Doch als sie sich im Schnee materialisierten, der gut einen halben Meter hoch lag, wurde ihr rasch klar, dass dem nicht so war. Wenn er von ihrem plötzlichen Ausflug in die Wildnis überrascht war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Doch dann begann ihre Sehkraft nachzulassen, und sogar die makellos weiße Landschaft schien auf einmal von einem Grauschleier bedeckt. Ihre Finger wurden taub, und als ihre Fähigkeit, die heraufbeschworene Waffe aufrechtzuerhalten, versagte, verschwand der Dolch. Grauenhafte Angst ließ sie bis in die Grundfesten ihrer Seele erbeben. Das war's also. Das Ende. Sie hatte den Untergang Roms überlebt. Die Inquisition. Den Zweiten Weltkrieg. Und dann hatte irgendeine unbedeutende Jägerin, die auf derselben Seite spielte - für das Team Gut und Heilig - sie einfach so umgebracht.
Vor ihren Augen wurde alles schwarz. Ihre Sinne versagten, und sie fiel. In ihren Ohren erklang eine Stimme, gedämpft und wie aus weiter Ferne, und dann hob jemand sie auf. Doch sie wagte zu bezweifeln, dass die Arme, die sie festhielten, die eines Retters waren.
...
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Larissa Ione
Mit der Demonica-Serie gelang Larissa Ione der große internationale Durchbruch. Zu ihren Lieblingsautoren gehören Stephen King, Robert Jordan und Marion Zimmer Bradley.
Bibliographische Angaben
- Autor: Larissa Ione
- 2012, 1. Aufl., 464 Seiten, Maße: 12,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Bettina Oder
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802588797
- ISBN-13: 9783802588792
- Erscheinungsdatum: 09.10.2012
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