Denn du bist meine Welt
Vor dreißig Jahren hat Christina ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. Fünftausend Meilen liegen heute zwischen ihnen, doch nichts kann Christina mehr aufhalten, endlich das geheimnisumwitterte Verschwinden ihrer Mutter aufzuklären.
Sechs Jahre ist Christina alt, als sie ihre Mutter zum letzten Mal sieht. Ohne ein Wort des Abschieds geht Greta von ihrer Familie fort und wandert von Irland nach Amerika aus. Die wahren Hintergründe erfährt Christina nie, aber der Verlust bleibt ihr in schmerzhafter Erinnerung.
Dreißig Jahre später ist Christina selbst Mutter von zwei Kindern. Ihre Ehe ist zerrüttet, und über Nacht verlässt auch sie ihre Familie, obwohl sie weiß, welchen Kummer sie ihren Söhnen damit bereitet. Von Schuldgefühlen überwältigt, wagt Christina schließlich einen letzten Versuch, ihr Leben neu zu ordnen.
Gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn macht sie sich auf nach Amerika, um Greta zu suchen. Doch die Reise gerät zu einer Irrfahrt durch das Land - und durch die Vergangenheit ihrer Familie. Erst als Christina dem Kanadier Luke begegnet, findet sie einen Weg zu ihrer Mutter und zu ihrem Lebensglück.
Eine bewegende Familiengeschichte aus Irland über Schuld und Vergebung.
"Der traurige, hoffnungsvolle und nachdenkliche Roman "Denn du bist meine Welt" von Noëlle Harrison zieht einen magisch in den Bann." - Main-Echo
"Mitreißend erzählt Harrison von den Rätseln und den Wundern des Lebens." - Sunday Tribune
"Eine wahrhaft bemerkenswerte, einfühlsame Autorin in bester irischer Tradition." - Sunday Independent
Denn du bist meine Welt von NoëlleHarrison
LESEPROBE
DER STURM
Am selben Tag, als ihre Mutterverschwand, ertrank die ganze Ried-Familie im Fluss.
Ein schwüler, stickiger Sommer. Christina ist sechsJahre und zehn Monate alt, fast sieben. Sie trägt ein gemustertes Baumwollkleidund einen blau-gelben Sonnenhut. Sie hat die Schuhe ausgezogen und taucht dieZehen in den Bach. Sie darf hier spielen.
Die Fliegen, die ihren Kopf umschwirren, sind ihrlästig. Sie wedelt mit einem Stock herum, aber das nützt nichts, und als sieden Stecken betrachtet, sieht sie, dass er schlammbeschmiert und ihr Kleid ander Vorderseite voll dunkler Flecken ist. Sie beginnt zu jammern, doch leiderohne Publikum. Sie hasst es, wenn sie sich schmutzig macht.
Der Bach, ein anderes Land. An ihrer Lieblingsstellebefinden sich ein kleiner schlammiger Uferweg und ein großer dichter Baum. Hierist es kühl; die Blätter wispern über ihrem Kopf, spielen mit dem Sonnenlichtund necken ihre Augen. Christina schwitzt, sie steckt beide Füße ganz insWasser. Sie macht ein paar Schritte, gleitet auf den moosbewachsenen Steinenaus, stolpert hinüber auf die andere Seite. Der kalte Bach fühlt sich gut an. Siedrückt die Zehen in den Schlamm, genießt das weiche, erdige Gefühl, als sie ansUfer klettert, schaut hockend zurück. Schilf und Wiesenkerbel sind so hoch,dass sie gerade darüber sieht: ein Stück Rasen, das Ende der Brücke und ihrgroßes graues Haus. Im plätschernden Wasser entdeckt sie einige große Steine,perfekt für ihren Plan. Sie möchte eine Brücke bauen.
Christina steht auf und beginnt, am Schilf zu ziehen.Es ist scharf und hart und macht ihre Hand wund. Sie ächzt vor Anstrengung. AmEnde hat sie vier Kolben. Sie holt eine Spule roten Baumwollfaden und einekleine Schere, die sie in Mammys Zimmer gefunden hat, aus der Rocktasche undbreitet die vier langen grünen Riedkolben vor sich aus. Christina arrangiertdie Familie: Papa Ried, Mama Ried, Babby Ried und ihre Angeline. Wenn sie sichkonzentriert, streckt Christina die Zunge heraus. Manche Kinder in der Schulelachen dann; einmal hat die Musiklehrerin sich einen Witz darüber erlaubt, undjetzt weigert sie sich, Klavierspielen zu lernen. Bei voller Konzentrationvergisst sie alles, sogar sich selbst. Deswegen hört sie ihren Vater nichtrufen und erschrickt, als sie den Kopf hebt und ihn auf der anderen Seitesieht.
Christina, sagt er, kommst du ins Haus?
Nein, Daddy. Schau, schau, was ich gemacht habe. Hübsch,aber ich möchte, dass du jetzt hereinkommst. In die Sonne blinzelnd fragt sie:Warum?
Über den Rasen nähert sich ihm eine braun gekleideteGestalt. Sie geht sehr langsam; fast meint Christina, sie schwebt. Ihre Mutter.Und jetzt läuft Angeline, das glänzende schwarze Haar hin und her schwingend,über die Brücke. Ihre Mammy, denkt Christina, sieht aus wie eine Königin undAngeline wie ihre Zofe, also muss sie eine Prinzessin sein. Christina schlingtden Faden noch einmal um Babby Ried und klopft die Erde mit den Händen fest.
Ich will hier bleiben und spielen, denkt sie. Dumusst hereinkommen, sagt er. Christina bemerkt den veränderten Tonfall, esschwingt etwas Dringendes, Gefährliches mit. Sie sieht ihn an. Er beugt sichmit ausgestrecktem Arm und zitternder Hand zu ihr herüber. Nein, lass sie,Tomás, sagt ihre Mutter. Bitte lassen wir sie einfach.
Ihr Daddy sieht zuerst Christina, dann ihre Mutteran. Sie wirkt groß heute, lang und dünn, wie ein Schilfkolben. Und sie lächeltChristina an. Ein winziges Lächeln, kaum wahrnehmbar. Ihre Lippen bewegen sich,aber ihre Augen sagen nichts.
Ist alles in Ordnung?
Angeline steht mit den Händen in den Hüften da,keuchend vom Laufen. Sie trägt ein gelbes Kleid, leuchtend wie die Sonne, dazugrüne Sandalen und ein grünes Tuch im Haar. Ihre dunklen Augen blitzen. Ichmache Menschen, eine Familie, sagt Christina. Lass sehen. Mit einem Sprungüberquert Angeline den Bach und geht neben ihr in die Hocke. Christina erklärt:Das sind Papa Ried und Mama Ried und Babby Ried. Und das ist Angeline. Angelinelacht; es fühlt sich an wie ein Kitzeln an der Seite. Eine Angeline?
Ja, jede Familie sollte eine Angeline haben. Als siedas Gesicht ihrer Angeline betrachtet und mit der Nase anstupst, merkt sie,dass ihre Eltern weg sind. Nur ein Gefühl bleibt zurück. Der Geruch vonwucherndem Unkraut an jenem fernen, traumgleichen Augustnachmittag; dies ist Christinaserste Schuld.
Die Sonne schlüpft hinter eine Wolke, der Bach fließtdunkel dahin, und alle Farben Angelines verblassen. Christina steht auf undschiebt die Rieds vorsichtig in die Tasche. Ich gehe rein, sagt sie. Angelinerunzelt die Stirn. Ich dachte, du willst eine Brücke bauen.
Ich hab Hunger. Christina kaut an ihrer Lippe. Naschön, meint Angeline und macht einen großen Schritt zurück über den Bach. Springstdu?, fragt sie. Mit ausgebreiteten Armen sieht sie aus wie eine große gelbeschwankende Blume. Christina schüttelt den Kopf. Komm schon, sagt Angeline, dukannst das. Nein. Christina bohrt den Fuß in den Schlamm. Komm schon, Mädchen,ich weiß, dass du so weit springen kannst!
Angeline winkt sie zu sich, und als die Sonne wiederhinter der Wolke hervorkommt, sieht sie aus wie ein großes Licht, das geradeeingeschaltet wurde. Sie fängt mich auf, wenn ich hinfalle, denkt Christina, machteinen großen Sprung und schafft es. Einen Augenblick lang ist sie sehr, sehrglücklich, aber als sie die Finger über ihre Tasche gleiten lässt, weiß siesofort, was nicht stimmt. Die Ried-Familie ist im Wasser gelandet. Die Rieds,jammert sie, und Angeline watet hinein in den Bach, aber es ist zu spät. Christinasieht, wie sie, sich wieder und wieder drehend, wegtreiben.
Sie rennen neben dem Bach her, bis zum Ende desGartens, aber umsonst. Sie muss sich mit einem Winken von ihnen verabschieden, alssie in den großen Fluss gesogen werden, und dann gehen sie plötzlich unter undtauchen nie wieder auf. Angeline legt den Arm um sie. Mach dir mal keineGedanken, Schätzchen, sagt sie, du kannst ja neue basteln. Wie? Die Rieds warenMenschen. Man kann ein und dieselben Menschen nicht zweimal erschaffen. Angelineverschränkt ihre Hände ineinander. Das stimmt, sagt sie. Dann denken wir unseinfach, dass sie an einen besseren Ort gegangen sind - in ein Miniaturwolkenlandam äußersten Ende des Himmels. Was heißt »Miniatur«? Winzig.
Ist es schön dort?, schnieft Christina. Genaurichtig, antwortet Angeline, sehr hübsch, und stell dir vor, dass sie dort allebeisammen sind; keiner ist zurückgeblieben. Sie betreten das stille Haus. Nurdas Ticken der Uhr und das Rauschen des Bachs sind zu hören, zweiunveränderliche Konstanten. Angeline kocht Tee, und Christina setzt sich an dengroßen Küchentisch, um ihre neue Papierpuppe und deren Kleider auszuschneiden. Woist Mammy?, fragt sie. Unterwegs, sagt Angeline. Wo ist Daddy? Auch unterwegs.
Christina hört auf mit dem Schneiden und beobachtetAngeline, die, die Hände in Handschuhen gelb wie ihr Kleid, den Kopf über einenEimer gebeugt, an der Spüle Kartoffeln schält. Durchs Fenster sieht Christina,wie sich dunkle Wolken zusammenbrauen. Sie spürt ein Summen in der Luft, ihre Kopfhautbeginnt zu prickeln. Wird s regnen?, fragt sie.
Angeline hebt den Kopf. Kluges Mädchen, sagt sie, ichglaube, du hast Recht. Dann zieht sie die Handschuhe aus und fügt hinzu: Kommschnell, hilf mir, die Wäsche reinzubringen. (...)
© Page & Turner
Übersetzung: Sonja Hauser
- Autor: Noëlle Harrison
- 2006, 1, 380 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Sonja Hauser
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442203104
- ISBN-13: 9783442203109
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