Der 13. Gast
Roman
Ein Mädchen auf der Suche nach ihrem eigenen Mörder
Als Eva Chance an der großen Festtafel zu ihrem Geburtstag Platz nehmen will, merkt sie, dass für sie kein Gedeck aufgetragen wurde. Niemand vermisst sie, die Feier findet ohne sie statt. Denn sie ist...
Als Eva Chance an der großen Festtafel zu ihrem Geburtstag Platz nehmen will, merkt sie, dass für sie kein Gedeck aufgetragen wurde. Niemand vermisst sie, die Feier findet ohne sie statt. Denn sie ist...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
14.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der 13. Gast “
Klappentext zu „Der 13. Gast “
Ein Mädchen auf der Suche nach ihrem eigenen MörderAls Eva Chance an der großen Festtafel zu ihrem Geburtstag Platz nehmen will, merkt sie, dass für sie kein Gedeck aufgetragen wurde. Niemand vermisst sie, die Feier findet ohne sie statt. Denn sie ist tot. Sie hat es in ihrer Einsamkeit nur noch gar nicht bemerkt.
So beginnt der neue Mystery-Roman von Rhiannon Lassiter. Die junge Autorin beherrscht es grandios, ihren Lesern eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen. Kann Eva ihren eigenen Mord aufdecken oder gar verhindern?
Ein packender Roman voll tiefer Abgründe und Schaueratmosphäre in einer besonders schön gestalteten Hardcover-Ausgabe
Lese-Probe zu „Der 13. Gast “
Der 13. Gast von Rhiannon Lassiter3
Der dreizehnte Gast
... mehr
Eva hatte die Ankunft eines letzten Gastes verpasst, aber aus dem Chinesischen Salon drangen Stimmengeplapper und Gläserklirren. Dort hatten sich die Erwachsenen zum Aperitif versammelt, und als sie hineinschlüpfte, schien niemand sie zu bemerken. Uniformierte Kellner wanderten mit Tabletts herum, und die Tanten und ihre Gäste schlürften ihre Drinks und knabberten Snacks.
Felix trank Champagner und sah fast feierlich aus, wie er mit einer Hand auf der Sessellehne des Großvaters dastand, als könnte er es kaum erwarten, dass der alte Mann seinen Sessel endlich freimachte. Sein arroganter und selbstzufriedener Blick schweifte durch den Raum wie der Strahl eines Leuchtturms und streifte Eva, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen.
Eva blieb in einer dunklen Ecke und hielt Abstand zu den anderen. Normalerweise hätte sie neben dem Sessel ihres Großvaters gestanden, aber nun hatte Felix diesen Platz für sich reklamiert.
Tante Cora hatte den Pastor in ein Gespräch verwickelt und betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch, während sie dem Großvater zwischen den Tupfern verzweifelte Blicke zuwarf. Tante Joyce führte dem Doktor und seiner Frau ihr neuestes Schmuckstück vor: eine große braungelbe Hornisse aus Golddraht und Messing mit Augen aus Zitrin. Tante Helen löcherte die Verwalterin mit Fragen.
»Die Instandhaltung scheint sehr nachlässig zu sein, mein Mann und ich haben überall bröckelnden Putz und wurmstichige Balken gesehen. Das Dach zeigt ernste Schäden, und der Zustand des Parks ist unglaublich. So kann er den Besuchern keinesfalls gezeigt werden. Hat das Haus im letzten Jahr überhaupt etwas eingebracht?«
»Unglücklicherweise verschlingen die laufenden Kosten alle Eintrittsgelder und das meiste der Subventionen.« Lisle Langley hielt inne, um elegant an ihrem Sherry zu nippen. »Die restlichen Subventionsgelder gehen für die Gehälter der Angestellten während der Saison drauf, und danach ist für Renovierungen nichts mehr übrig. Die meisten Herrensitze in England kämpfen mit den gleichen Problemen. Einige wenige wie Chessington und Longleat haben Nebeneinkünfte durch Freizeitparks oder Safariparks. Doch die meisten leiden unter der Langzeitwirkung von Grundsteuern und Versicherungskosten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass die Landsitze zum Untergang verurteilt sind?«, fragte Felix mit hochgezogenen Brauen.
»Ganz und gar nicht«, sagte sie und lächelte völlig ungerührt zurück. »Nur, dass es ungewöhnlich ist, dass solch ein Haus sich selbst tragen kann.«
Die Gespräche wurden lauter, während alle sich an der Diskussion über Geld beteiligten. Jeder schien aufgrund seiner Erfahrungen und seines Berufs mitreden zu wollen: wie man Geld verdiente, Geld sparte oder Geld verlor.
Eva hätte bezüglich des Letzteren keinen Rat gebraucht. Bisher hatten die Tanten jedes Jahr mit einem neuen Trick versucht, die Touristen zu beeindrucken, und jeder Versuch war ein Desaster gewesen: Die Bewirtung von Geschäftskonferenzen hatte ihnen fast eine Klage vom Gesundheitsamt eingebracht, die Vermietung des Hauses als Veranstaltungsort für Hochzeiten hatte zu drei nichteingehaltenen Verträgen geführt, das Bootfahren auf dem See hatte um ein Haar zur Erschaffung von funkelnagelneuen Geistern geführt. Jede neue Unternehmung war schon von Anfang an mit einer Kette von Problemen behaftet.
Keiner der Kellner schien Eva zu bemerken. Einige der Jungen wären dem Alter nach etwa in ihrem Schuljahrgang gewesen, und ihr war es nur recht, wenn sie sie nicht wahrnahmen. Ein großer blonder Typ kam ihr bekannt vor - aber Eva hatte sich in der Schule immer von den Jungen ferngehalten, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie sich in ihrer Nähe verhalten sollte.
Die anderen Gäste unterhielten sich bestens, und Tante Joyce war bei ihrem dritten Cocktail angelangt, als der Gong wieder ertönte und die Gäste sich in einer ungeordneten Schlange zum Speisesaal aufmachten. Felix rührte sich als Letzter, er half Großvater mit einer überaus fürsorglichen Miene hoch, der Eva keine Sekunde lang traute.
Sie huschte durch die Fenstertüren über die Terrasse in den kleinen Salon und betrat den Speisesaal durch eine verborgene Tapetentür. Der lange Mahagonitisch war blankpoliert, auf beiden Seiten war gedeckt, vor jedem Platz stand eine perfekt gestaltete Insel aus edelstem Porzellan, geschliffenem Kristall, umrahmt von glänzendem Tafelsilber und dem perfekt gefalteten Dreieck einer Leinenserviette. Vor jedem Platz waren weiße Karten mit Schnörkelschrift zwischen die Schwanzfedern eines silbernen Pfauen-Tischkartenhalters geklemmt, und in der Mitte des Tischs stand ein riesiger Tafelaufsatz mit einem Arrangement aus Farnen und Binsen. Hinter dem Tafelaufsatz starrten die leeren Stühle auf die der anderen Seite.
Eva wusste, dass man ihrem Großvater als Platz den schweren geschnitzten Stuhl am Kopfende der Tafel zuweisen würde, während die anderen Gäste sich ihre Plätze suchten. Sie selbst würde am unteren Ende sitzen, und sie arbeitete sich dorthin durch und dann an der anderen Seite entlang, bis ihr langsam klar wurde, dass für sie nicht gedeckt worden war.
Großvater saß am Kopfende, auf der einen Längsseite waren sechs, auf der anderen fünf Gedecke, immer mit dem säuberlich geschriebenen Namen des Gastes auf den Tischkarten. Von Miss Cora Chance bis Miss Lisle Langley waren alle Namen aufgeführt außer einem.
Evas Name und Gedeck fehlten.
Sie hatte gehört, dass dreizehn Gedecke bei Tisch Unglück brächten, aber noch schlimmer war es, selber der unerwünschte dreizehnte Tischgast zu sein. Ob aus Unachtsamkeit oder aus Boshaftigkeit war ihr Name auf der Liste der Tischgesellschaft offenkundig nicht aufgetaucht.
Eva fragte sich, ob Tante Helen vergessen hatte, sie gegenüber den Caterern zu erwähnen, oder ob Felix dafür verantwortlich war. Doch ganz gleich, wer es gewesen war, Eva wand sich vor Peinlichkeit, denn sie wusste, dass ein Hinweis auf den Fehler sie auf die schlimmste Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken würde, die man sich vorstellen konnte.
Sie hörte das Stimmengemurmel am anderen Ende des Saals, als zwei Kellner elegant die Türflügel öffneten und die Gäste hereingeleiteten. Sie führten sie an ihre Plätze, für die Damen wurden die Stühle zurückgeschoben, und alle nahmen Platz und zupften ihre Jacketts oder Stolen zurecht.
Wie in einem Albtraum setzte sich Eva auf den leeren Stuhl neben Lisle Langleys Gedeck. Lisle bedachte sie mit keinem Blick, weil ihre Aufmerksamkeit ganz auf Tante Joyce' Begleiter auf ihrer anderen Seite gerichtet war. Versteckt vor Joyce' Blicken hinter den breiten Farnwedeln des Tafelaufsatzes machte er Lisle übertriebene Komplimente. Auf der anderen Tischseite widmete sich der Doktor seinem Champagnerglas und gleichzeitig einer ziemlich wirren Geschichte von einem Katzenschutzverein, die ihm Tante Cora erzählte - doch dem Champagner galt ganz offensichtlich sein größeres Interesse.
Durch einen Wald von gestikulierenden Händen trug eine Gruppe von Kellnern in schwarzweißen Uniformen die Speisen herein und schenkte Wein nach. Eva hörte Helens und Joyces Stimmen in schrillem Disput über die Möglichkeiten, wie das Haus in dieser Saison Geld einbringen könnte - Helen war für Gartenpartys, wenn der Park erst einmal wieder gepflegt wäre, und Joyce schlug Bootsfahrten vor, falls der See dafür sicher gemacht werden konnte.
In der Zwischenzeit wogte die Welle der Kellner geräuschlos am Tisch entlang. Die ihr nächste Kellnerin war ein Teenager in einem engen schwarzen Minirock und einer gutsitzenden weißen Bluse. Sie hatte blonde, von rosa Strähnchen durchzogene schulterlange Haare. Eva schrak in ihrem Stuhl zurück. Aber bei ihrem Pech hätte sie nicht überrascht sein dürfen, dass das Kyra Stratton war.
Kyra war die Anführerin der Mädchenbande und regierte die Schule mit ihrem von der Clique beflügelten Selbstbewusstsein. In direktem Gegensatz zu Evas ererbter aristokratischer Armut schien es Kyra und ihrer Truppe niemals an Geld zu mangeln, und sie trugen die teure Boutiquenmode, die Eva mit Neid erfüllte und die sie gleichzeitig verachtete. Mit ihren lauten Stimmen, bunten Haarsträhnchen, Nasen- und Zungenpiercings wollten sie die Jungen beeindrucken, und man sah sie entweder als kichernde, gackernde Gruppe oder einzeln mit einem watschelnden Jungen im Schlepptau. Kyras Clique hatte Eva das Leben in der Schule zur Hölle gemacht. Von Anfang an hatten diese Mädchen sie als nichtdazugehörig abgestempelt, und Evas hochgestochene Redeweise bis hin zu ihren altmodischen Kleidern war die Zielscheibe ihrer Witze gewesen.
Sie hatte mal mitbekommen, dass Kyra in London bei Promi-Events bediente, aber sie hatte keine Verbindung zwischen diesem Job und der hiesigen Cateringfirma hergestellt. Eva sah stur auf den Tisch und ihr fehlendes Gedeck, während Kyra näherkam. Kyra war nun hinter ihr, noch ein Schritt, und sie war vorbeigegangen. Eva sah Kyras Rücken, während die weiterging, die rosagesträhnten blonden Haare schwangen über ihre Schultern, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und wieder zum Kopfende des Tisches zurückging. Sie hatte vor Lisle einen Vorspeisenteller hingestellt und Eva total übersehen.
Eva starrte auf den leeren Tisch vor sich und wäre am liebsten gestorben. Vielleicht war das fehlende Gedeck kein Versehen ihrer Familie, sondern ein dreister Spaß, den sich Kyra und ihre Freunde in der Küche ausgedacht hatten. Vielleicht würden die Kellner während des restlichen Abends immer so tun, als ob sie sie nicht sähen, bis sie in irgendeinem entscheidenden Moment als der übriggebliebene dreizehnte Gast bloßgestellt wurde.
Bestecke kratzten auf Porzellan, während Stimmen angeregt schwatzten und Wein gluckerte, und Eva fühlte sich durch die Mischung aus Lärm, Hitze und den verschiedenen Gerüchen und Alkoholdünsten wie betäubt und angeekelt. Wieder ging jemand am Ende der Tafel vorbei, und Eva spürte hinter sich einen kühlen Windstoß wie aus einem offenen Fenster. Sie drehte sich um und sah die Kellner im Gänsemarsch aus dem Zimmer eilen. Kyras weißer Bluse und ihrem schwarzen Minirock folgte eine Gestalt in altmodischer Dienstbotenuniform aus schwarzem Kleid und weißem Schürzchen, die etwas von einer Elster hatte. Im Gegensatz zu Kyra sah das Elstermädchen Eva direkt an - und eins ihrer kohlschwarzen Augen zwinkerte ihr ganz offensichtlich zu.
Eva zuckte überrascht zusammen und starrte dem Elstermädchen nach, als es der Reihe der Kellner folgte. Ihre schwarzen Haare waren zu einem straffen Zopf geflochten und hingen wie ein Pferdeschwanz unter einem weißen Häubchen herunter. Kyra war etwa fünf Schritte vor ihr, und die Tür schwang hinter ihrem Hüftschwung zu, gerade als das Elstermädchen sie erreicht hatte. Aber die schwarzweiße Gestalt hielt nicht inne, sondern marschierte durch die Tür hindurch, als gäbe es das schwarze Holz nicht, und als Letztes verschwand ihr schwingender Zopf.
Auch ohne die altmodische Kleidung und die Art, wie sie durch eine feste Tür hindurchging, hätte Eva durch den kalten Windhauch gewusst, worum es sich hier handelte. Das Dienerinnengespenst hatte so gut in die Gruppe gepasst, dass niemand es bemerkt hatte - niemand außer Eva.
»Geister! Das ist aber eine gute Idee«, sagte jemand laut, und Eva fuhr zusammen und sah an der Tafel hinunter. Sie konstatierte, dass Tante Joyce' Begleiter sich unerwarteterweise in die Debatte eingemischt hatte, wie man die Hausbesichtigungen besser verkaufen könnte.
»Marketing ist mein Ding«, verkündete er. »Ich habe zahllosen Betrieben geholfen, erfolglose Marken wiederzubeleben. Sie müssen einfach auf Ihre Stärken setzen.« Wie um sich selbst Mut zu machen, trank er einen Schluck Wein und redete schnell weiter. »Sind Häuser wie dieses hier denn nicht voller Gespenster? Damit könnte man Besucher anlocken. Eine Geistertour, so nennt man das. Sie können mir doch nicht weismachen, dass dieses alte Gemäuer nicht jede Menge Sagen hat, aus denen man irgendwas Attraktives fabulieren könnte.«
»Ich glaube nicht, dass wir so etwas machen wollen.« Tante Helen duldete keinen Widerspruch. »Das klingt doch ziemlich geschmacklos ...«
»Unsinn«, kam Tante Joyce ihrem Begleiter zu Hilfe. »Wenn das Geld einbringt, bin ich total dafür.« Während weiter heftig debattiert wurde, versuchte sie, die übrigen Dinnergäste auf ihre Seite zu ziehen.
»Wir könnten das bestimmt schaffen«, fuhr der Marketing-Experte mit wachsender Begeisterung fort und wandte sich an seine Tischnachbarin Miss Langley. »Man könnte das sehr dezent arrangieren, zum Beispiel in Verbindung mit einem Renovierungsfond. Was halten Sie davon?«
»Geistertouren sind in anderen Herrenhäusern sehr erfolgreich gewesen«, stimmte Lisle ihm hoffnungsvoll zu. »Doch das wäre für das Haus etwas ganz Neues und müsste fachmännisch gemanagt werden.«
»Aber unter den herrschenden Umständen müsste doch bestimmt ...« Als sich alle Tante Cora zuwandten, begann ihre Stimme zu zittern, und Eva merkte, dass Tante Cora den Tränen nahe war. »Ist es denn so eine gute Idee, den Tod zum Thema zu machen?«
Alle an der Tafel schwiegen, die Gäste sahen sich unbehaglich an, und zum ersten Mal hörte man das Krächzen von Großvaters Stimme.
»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...« Er stieß jedes Wort hervor, als wäre es eine körperliche Anstrengung, »... als eure Schulweisheit sich träumen lässt«. Er holte mühsam Luft, und Eva starrte ihn an, als wollte sie ihn zum Weitermachen ermuntern. Und er zwang die Tafelgesellschaft, ihm zuzuhören. »Ihr redet von Geistern - aber wer von euch glaubt wirklich daran? Haltet ihr es für möglich, in diesem Bereich zwischen Leben und Tod gefangen zu sein? Wer von euch gibt zu, dass er die Gespenster sieht, die zwischen uns herumwandern? Ich habe die Geister von früheren Chances gesehen und möchte, dass wir sie in Ruhe lassen.«
Eva beugte sich nach vorn und versuchte, durch das Meer von Kristallglas und Silberbesteck dem Blick ihres Großvaters zu begegnen. Sie wollte ihn wissen lassen, dass zumindest sie ihm glaubte.
»Ich habe Geister gesehen«, sagte sie. Aber ihre Stimme war anscheinend kaum zu hören, und sie merkte, dass sie geflüstert hatte.
Am Kopf der Tafel schüttelte Felix den Kopf, und als plötzlich jeder anfing zu sprechen und der Lärm wieder anschwoll, klopfte er dreimal mit der Gabel an sein Weinglas, und es wurde still.
»Es gibt keine Geister«, sagte er. »Es gibt auch keine Spukhäuser. Das sind nur Themen für spannende Geschichten, nichts weiter. Ich glaube kein Wort davon.« Er blickte sich um, bis er sicher war, dass alle ihm aufmerksam lauschten, und fuhr fort: »Ich finde, wir sollten den Vorschlag aufgreifen und in dieser Saison Gespenster zur Hauptattraktion machen. Denn, ehrlich gesagt, brauchen wir jeden Penny, den wir den Touristen aus der Tasche ziehen können, um dieses Haus vor dem Zusammenbruch zu retten.«
»Aber Großvater hat gesagt, wir sollen sie in Ruhe lassen! «, rief Eva aus. »Und die Geister sind schon durch irgendwas beunruhigt. Geistertouren sind gefährlich!«
Doch niemand hörte ihr zu.
Großvater war zurück in seinen Sessel gesunken, und Eva fand es schrecklich, ihn so zu sehen. Felix' Selbstvertrauen loderte über die Tafel und löschte die Einwände seiner Eltern aus, genau wie die wirren Proteste von Tante Cora. Als die Verwalterin und der Anwalt nun anfingen, die praktische Umsetzung zu besprechen, war es offensichtlich, dass der Kampf schon verloren war - die Hauptattraktion dieser Saison sollten die Geistertouren werden.
Eva stand auf. Keiner der Gäste beachtete sie, und sie gelangte unbeobachtet bis zur Tür, drückte leise die Klinke runter und verließ das Speisezimmer.
Eva schlich hinter den Caterern vorbei, die in der Küche beschäftigt waren, und ließ den Lärm der Dinnerparty hinter sich. Zum ersten Mal seit der Ankunft ihrer Verwandten war das Haus wieder still, weil alle an einem Ort versammelt waren. Aber Eva spürte die unsichtbare Spannung, die wachsamen Augen der Vergangenheit. Und da ihre Familie entschlossen war, Ärger zu schüren, wollte Eva ihn lieber gleich im Keim ersticken. Vielleicht würden die Geister nicht böse werden, wenn sie ihnen alles erklärte.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert glaubt niemand an Geister. Das waren Relikte aus der Vergangenheit, wie die Überreste vergangener Zeiten, die überall im Haus verstreut lagen: etwas, das einfach nicht in die Welt da draußen passte. Eva hatte keine der Tanten je zugeben hören, dass sie Geister gesehen hatte. Nur Großvater hatte davon gesprochen, als gäbe es sie wirklich. Wie die Spinnen und Küchenschaben, den Schimmel und die Fäulnis hatte das Haus im Lauf der Zeit auch Geister bekommen, alles zusammen ergab die Atmosphäre. Die meisten Besucher bekamen von ihnen nichts mit, da die Geister nicht stöhnend oder kettenrasselnd mit dem Kopf unterm Arm herumwanderten. Der Einfluss der Geister war subtil und heimtückisch.
Wann immer bislang das Haus für die Touristen geöffnet wurde, hatte Evas Großvater erfolgreich alle Pläne gestoppt, wonach Geister zur Reklame eingesetzt werden sollten.
»Daran soll man nicht rühren«, hatte er immer gesagt, und Eva wusste, was er meinte. Geister waren beunruhigend - ganz gleich, wie sehr man an sie gewöhnt war.
Wenn man die Geister ausnutzen wollte, konnte das Ärger bringen. Wenn Felix die Wünsche ihres Großvaters ignorierte, beging er einen schrecklichen Fehler, und dann war nicht er derjenige, der die Folgen zu spüren bekam. Nach dem Familienrat würde Felix in die Villen seines Vaters zurückkehren, und dann mussten Eva und ihr Großvater mit einer Legion wütender Geister klarkommen, die von den Touristen aufgestört und wie Tiere in einer Menagerie gereizt würden.
In der Halle schimmerten die Pfauenaugen im Dämmerlicht und hielten blind Wache über das Haus. Durch die Glaskuppel oben über der Treppe drang Mondschein. Er tauchte die Treppe in einen verträumten Glanz und versilberte sie mit diffusem Licht.
Die einzelnen Teile des Hauses besaßen sehr unterschiedliche Atmosphären. Eva wusste, dass man das Spukgefühl leicht dem Staub und der Vernachlässigung anlasten konnte. In allen Räumen waren die Möbel mit Laken abgedeckt, und vor den Fenstern hingen schwere dunkle Vorhänge und schützten so die Tapeten vor Sonnenlicht. Dielen vibrierten und knarrten, und von den Wänden fiel raschelnd der Putz, und in den Kaminen rieselte der Ruß herab. Aber es gab auch andere Geräusche. Das Schleifen eines Seidenkleids über den Fußboden, das Knistern und Zischen einer aufflackernden Gasflamme, Gelächter oder Musikgeklimper aus einem entlegenen Raum. Die Vergangenheit war im Haus nie weit entfernt. Jetzt kam es Eva so vor, als könnte sie sie mit der ausgestreckten Hand berühren.
Ihr Entschluss, mit den Geistern ein Gespräch zu suchen, schwand schon bei den ersten Stufen. Das Elsterhausmädchen hatte ihr wie eine Verbündete zugezwinkert. Aber hier war der Boden kalt, und das Mondlicht über der Treppe endete nach den letzten Stufen in einer Pfütze. Bildete sie es sich ein, oder sah dieses Dunkle nass aus? Konnte man mit einem Spukfleck vernünftig reden?
Eva kniete sich hin und tastete widerstrebend nach dem Fleck. Ihre Fingerspitzen berührten den Teppich und zuckten zurück. War er nass oder nur kalt? Sie zitterte. Wurde sie nur von den Pfauenaugen beobachtet, oder stand etwas Unsichtbares hinter ihr, bereit sie anzuspringen?
Sie stand schnell auf und sah sich um.
Da war niemand.
Aber das Spukgefühl verschwand nicht, und Eva sah, wie sich der Fleck unten ausbreitete - die Schwärze tropfte auf die unterste Stufe und näherte sich ihren Füßen.
Mit einem gewaltigen Satz sprang sie darüber weg, klammerte sich an das Geländer und drehte sich um aus Angst, der Blutfleck würde sie verfolgen. Aber die Dunkelheit war reglos, und der Fleck lag hinter ihr, jetzt unbewegt.
Gelächter splitterte durch die Halle, es kam nicht aus dem Speisezimmer, sondern von weiter oben. Auf dem oberen Flur erhaschte das Licht den Spitzenrand einer weißen Haube, und ein bleiches Gesicht sah zu ihr herunter: das Elstermädchen.
Eva eilte die Stufen hinauf, aber als sie in der Galerie ankam, war das Mädchen verschwunden. Sie blieb stehen und wusste nicht, was sie tun sollte, als sie ein leises Geräusch vernahm. Eine Diele knarrte unter einem schweren Tritt. Ein nächster, noch schwererer Tritt folgte: Langsame, leise Schritte kamen die Treppe herauf.
Eva machte einen Schritt, und hinter ihr im Flur machte irgendetwas ebenfalls einen leisen Schritt nach vorn. Eva bewegte sich nicht mehr, und die Schritte verharrten nach einer Sekunde ebenfalls, sie ahmten Evas Bewegungen nach. Sie wurde verfolgt.
Eva hatte Geister finden wollen, und nun hatten die sie gefunden. Aber nichts an diesen Schritten deutete auf einen Verbündeten hin - oder auf etwas, mit dem man vernünftig reden konnte. Alle ihre Instinkte schrien auf aus Angst der Verfolgten vor dem Verfolger. Der Geist hinter ihr folgte ihr nicht einfach - er verfolgte sie.
Mit den riesigen Räumen vor sich und den Schritten hinter sich zögerte sie und blickte sich unentschlossen im Flur um. Währenddessen setzten die Schritte wieder ein, diesmal warteten sie nicht auf sie, sie klangen noch schwerer und langsamer. Eva strengte die Augen an, um irgendeine Bewegung wahrzunehmen, aber in dem schlechtbeleuchteten Flur war nichts zu sehen, obwohl die Schritte immer näher kamen.
Noch drei Meter, zwei Meter, ein Meter.
Evas Füße scharrten über den Fußboden, ihre Beine zitterten, und sie konnte es nicht unterdrücken. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, er fasste ohne sie einen Entschluss und bestand darauf, weiterzugehen.
Ein schwerer Tritt ließ die Dielen vibrieren, und Eva verlor die Beherrschung. Sie drehte sich um und bewegte sich entschlossen von den Schritten weg zum Ostflügel hin. Hinter ihr knarrten die Dielen, als die Tritte ihr folgten und mit ihr Schritt hielten.
Sie beschleunigte ihre Schritte, doch die hinter ihr wurden ebenfalls schneller. Schon rannte sie los, ihre Sandalen klatschten wild auf den Fußboden und rutschten kratzend um eine Ecke im Flur, donnerten über drei niedrige Stufen und klackerten weiter. Die anderen Schritte folgten: Sie hallten von den Dielen wider und bogen um die Ecke, donnerten über die Stufen und jagten hinter ihr her.
Die rennenden Schritte hörten sich noch bedrohlicher an, das war kein unheimliches Geräusch mehr, sondern hinter ihr war der nackte Horror. Der unsichtbare Verfolger schloss auf, kam näher trotz ihrer wilden Flucht. Sie wagte nicht, sich umzublicken, aus Angst, was sie dann sehen würde - oder was sie nicht sehen würde. Wäre der Korridor leer trotz der Schritte fast neben ihr? War das ein Lufthauch oder ein kalter, feuchter Atem in ihrem Nacken?
Ihre Sicht verschwamm, ihr Herz hämmerte, ihr Puls jagte schwindelerregend, ihre Lungen schrien nach mehr Luft, als sie einatmen konnte.
»Hier lang!« Ein schwarzweißer Blitz tauchte plötzlich vor ihr auf, und Eva hielt darauf zu, ihre Sandalen rutschten, als sie auf das Elstermädchen am Ende des Korridors zustürzte.
Die Schritte waren nur noch Sekunden entfernt, sie landeten bereits auf ihren Fußspuren, als sie sich mit letzter Kraft nach vorn warf. Ein drahtiger Arm griff nach ihrem Ärmel und zerrte sie weiter zu einer Wand und in das dunkle Loch, das sich darin auftat. Dunkelheit umgab Eva, als sie hart auf einen kalten Boden stürzte, der Aufprall erschütterte sie, und im gleichen Moment gab der Boden unter ihr mit rasselndem Getöse nach.
In hilfloser Panik rang sie keuchend nach Luft und merkte, dass der Boden sich senkte. In einem metallenen Käfig fiel sie in einen dunklen Schacht, der nur von einer schwachen Glühbirne an der Decke des Käfigs erhellt wurde. Es war der Lastenaufzug. Ihr gegenüber stand das Hausmädchen in ihrer schwarzweißen Uniform, das sie hierhergelotst hatte. Das Gesicht des Mädchens war schmutzig. Sie drehte an einem Metallrad, das den Aufzug durch den Schacht senkte. Die Schritte über ihnen waren völlig verklungen.
»Du willst dich von dem nicht erwischen lassen«, sagte das Elstermädchen mit leichter Dialektfärbung. »Das ist der Stalker, und der bleibt immer hinter dir, wohin du auch gehst oder rennst.«
Eva stand zitternd auf, das Rumpeln des Käfigs übertönte ihr Gefühl der Unsicherheit, nachdem es ihr buchstäblich die Füße weggerissen hatte. Der Lastenaufzug war zu Zeiten von Königin Viktoria eingebaut worden und war, soweit sie wusste, seit fünfzig Jahren nicht benutzt worden. Die Steinmauern des Hauses glitten dunkel-ölig hinter dem schmiedeeisernen Gitter des Aufzugs vorbei. Während sie sich von Stockwerk zu Stockwerk bewegten, begriff Eva, dass sie einen Schritt zur Seite in eine andere Welt getan hatte: eine, die schattenhaft verborgen parallel zu ihrer eigenen lag.
»Ich kenne dich«, sagte das Hausmädchen. Ihre dunklen Augen blickten Eva forschend über die kleine Fläche des Metallkäfigs hinweg an. »Ich habe dich unten gesehen, du hast bei deiner Familie gesessen, und niemand hat dir Beachtung geschenkt.«
»Du hast mir zugezwinkert«, sagte Eva, und das Mädchen zuckte die Achseln.
»Du hast mich gesehen. Sonst niemand. Ich dachte eine Sekunde lang, du wärst wie ich, aber das stimmt nicht, nicht wahr? Du bist eine von ihnen. Eine von den Chances.«
»Ich bin Eva.« Eva versuchte, die schwarzen Augen zu ergründen. »Evangeline Chance.«
»Mir egal, wie du heißt.« Das Elstermädchen ruckte am Ende jeden Satzes mit dem Kopf nach vorn, als wollte sie zubeißen. »Wieso kannst du mich sehen, wenn die anderen von deiner Familie das nicht können?«
»Das weiß ich nicht.« Eva schüttelte den Kopf. »Ich habe immer schon Dinge sehen können, die - Dinge, die angeblich nicht existieren, wie Geister.«
»Glaubst du, ich bin ein Geist?«, fragte das Mädchen mit raschem, vogelähnlichem Blick, und Eva schrak zurück.
»Ja«, gestand sie. »Tut mir leid. Entschuldige. Aber nicht so ein Geist wie das, was mich gejagt hat. Ihr seid beide Geister, stimmt's? Aber du hast mir geholfen, und das Ding da ...«
»Der Stalker«, sagte das Elstermädchen ausdruckslos. »Wenn er dich erwischt hätte, hätte er dich umgebracht. Das macht er immer. Er folgt dir, dann jagt er dich, und wenn er dich einholt, stirbst du.«
Eva überlief ein Schauder. Sie wollte fragen, ob der Stalker- Geist auch lebendige Menschen umbrachte oder nur Geister verfolgte, aber sie ahnte, dass diese Frage unpassend war. Doch da keine erwähnenswerte Anzahl von Leichen herumlag oder Gerippe aus den Schränken fielen, nahm sie an, dass der Stalker wohl meistens andere Geister attackierte.
»Warum hast du mir geholfen?«, fragte sie stattdessen.
»Das geht dich nichts an«, fauchte das Mädchen, offensichtlich verärgert über die Frage. Sie drehte heftig am Rad, so dass sie schneller nach unten fuhren und die Wände nur noch so vorbeirauschten. »Vielleicht wollte ich rausfinden, warum er dich verfolgt. Was ist an dir so Besonderes, dass du das ganze Haus in Aufruhr versetzt? Du stinkst nach Ärger!«
»Gar nicht wahr!« Eva war gekränkt und dachte, immer bekommt der Bote die Schuld. »Das bin ich nicht. Ich mache keinen Ärger.«
»Alle Chances machen Ärger.« Als der Aufzug rumpelnd zum Stehen kam, drehte sich das Elstermädchen wieder zu Eva um. »Du bist entweder bösartig oder verrückt, und die Schlimmsten von euch sind beides gleichzeitig.«
»Dafür kann ich nichts.« Eva funkelte sie an. »Ich kann nichts für die Familie, in die ich hineingeboren wurde, oder dafür, wer meine Verwandten sind. Außer meinen Großvater kann ich keinen von denen ausstehen.«
»Oh, jammern, jammern, jammern.« Das Elstermädchen war kein bisschen beeindruckt. »Dann versuch mal, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang diese launenhaften, kaltherzigen Monster zu bedienen, eine miesgelaunte Sau und einen Wurf Mistviecher, von denen keins wert ist, deine Stiefel zu lecken.«
Eva erschauerte wieder. Die Luft um das Geistmädchen war frostig, kälter als die Steinwände ringsumher. Jedes Mal, wenn sich das Elstermädchen aufregte, wurde es noch ein paar Grad kälter.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht beklagen. « Sie hatte genug Erfahrung in Hausarbeit, um sich dafür zu schämen, wie rücksichtslos ihre Vorfahren ihre Dienstboten behandelt hatten. »Hast du gehört, worüber die Gäste beim Essen geredet haben?«
»Über Besucher, die Geister sehen wollen.« Das Elstermädchen warf ihr einen lauernden Blick zu. »Ich hab's dir doch gesagt: Sie sind entweder böse oder verrückt genug, um es zu versuchen. Und wenn sie es tun, droht ihnen Gefahr. «
»Wie meinst du das? Was für eine Gefahr?«
»Du solltest das wissen«, sagte der Geist. »Du steckst doch mittendrin, auf dir liegt ein Fluch. Auch wenn du das nicht weißt. Ich bin keine Unruhestifterin, das war ich nie - trotz allem, was behauptet wird.« Jahrhundertealte Wut loderte kurz auf. »Aber ich weiß, woher der Wind weht. Und das Glück hat die Chances verlassen, ist doch so, oder?« Sie sah Eva durchdringend an.
»Ich weiß nicht.« Eva dachte an ihren kränkelnden Großvater und dass Felix demnächst das Haus erben würde und drohte, daraus einen Golfclub oder ein Hotel zu machen, und dass sich bald die Touristen versammeln würden wie Geier, die sich von einer Leiche ernähren. »Vielleicht hat uns das Glück verlassen. Aber noch sind wir nicht tot.«
»Wenn du meinst.« Das Elstermädchen sah sie wütend an, und Eva wurde rot.
»Entschuldige. Aber wenn mein Großvater stirbt, wird mein Cousin Felix mich rausschmeißen. Und Großvater wird nicht gesund werden, wenn im ganzen Haus die Geister verrückt spielen. Falls es gefährlich wird, muss ich sie daran hindern.«
»Dann bist du also eine von den Verrückten.« Das Elstermädchen lächelte bissig und zeigte ihre Zähne. »Tja, aber gib nicht mir die Schuld, wenn du eines Morgens tot bist.« Sie rüttelte an der Tür, die sich daraufhin öffnete, und trat in den Flur dahinter.
»Wart mal«, sagte Eva. »Es muss doch irgendwas geben, was ich tun kann. Ich brauche deine Hilfe.«
»Ach wirklich?« Das Elstermädchen wandte Eva ruckartig das Gesicht zu. »Pah, wenn du unbedingt Ärger kriegen willst, dann solltest du mal im Keller nachschauen.«
Dann war sie verschwunden, zwischen zwei Herzschlägen, ihre weiße Schürze war ein Spritzer Mondlicht auf der Wand, das dunkle Kleid die finstere Kurve des Tunnels.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Eva hatte die Ankunft eines letzten Gastes verpasst, aber aus dem Chinesischen Salon drangen Stimmengeplapper und Gläserklirren. Dort hatten sich die Erwachsenen zum Aperitif versammelt, und als sie hineinschlüpfte, schien niemand sie zu bemerken. Uniformierte Kellner wanderten mit Tabletts herum, und die Tanten und ihre Gäste schlürften ihre Drinks und knabberten Snacks.
Felix trank Champagner und sah fast feierlich aus, wie er mit einer Hand auf der Sessellehne des Großvaters dastand, als könnte er es kaum erwarten, dass der alte Mann seinen Sessel endlich freimachte. Sein arroganter und selbstzufriedener Blick schweifte durch den Raum wie der Strahl eines Leuchtturms und streifte Eva, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen.
Eva blieb in einer dunklen Ecke und hielt Abstand zu den anderen. Normalerweise hätte sie neben dem Sessel ihres Großvaters gestanden, aber nun hatte Felix diesen Platz für sich reklamiert.
Tante Cora hatte den Pastor in ein Gespräch verwickelt und betupfte ihre Augen mit einem Taschentuch, während sie dem Großvater zwischen den Tupfern verzweifelte Blicke zuwarf. Tante Joyce führte dem Doktor und seiner Frau ihr neuestes Schmuckstück vor: eine große braungelbe Hornisse aus Golddraht und Messing mit Augen aus Zitrin. Tante Helen löcherte die Verwalterin mit Fragen.
»Die Instandhaltung scheint sehr nachlässig zu sein, mein Mann und ich haben überall bröckelnden Putz und wurmstichige Balken gesehen. Das Dach zeigt ernste Schäden, und der Zustand des Parks ist unglaublich. So kann er den Besuchern keinesfalls gezeigt werden. Hat das Haus im letzten Jahr überhaupt etwas eingebracht?«
»Unglücklicherweise verschlingen die laufenden Kosten alle Eintrittsgelder und das meiste der Subventionen.« Lisle Langley hielt inne, um elegant an ihrem Sherry zu nippen. »Die restlichen Subventionsgelder gehen für die Gehälter der Angestellten während der Saison drauf, und danach ist für Renovierungen nichts mehr übrig. Die meisten Herrensitze in England kämpfen mit den gleichen Problemen. Einige wenige wie Chessington und Longleat haben Nebeneinkünfte durch Freizeitparks oder Safariparks. Doch die meisten leiden unter der Langzeitwirkung von Grundsteuern und Versicherungskosten.«
»Wollen Sie damit sagen, dass die Landsitze zum Untergang verurteilt sind?«, fragte Felix mit hochgezogenen Brauen.
»Ganz und gar nicht«, sagte sie und lächelte völlig ungerührt zurück. »Nur, dass es ungewöhnlich ist, dass solch ein Haus sich selbst tragen kann.«
Die Gespräche wurden lauter, während alle sich an der Diskussion über Geld beteiligten. Jeder schien aufgrund seiner Erfahrungen und seines Berufs mitreden zu wollen: wie man Geld verdiente, Geld sparte oder Geld verlor.
Eva hätte bezüglich des Letzteren keinen Rat gebraucht. Bisher hatten die Tanten jedes Jahr mit einem neuen Trick versucht, die Touristen zu beeindrucken, und jeder Versuch war ein Desaster gewesen: Die Bewirtung von Geschäftskonferenzen hatte ihnen fast eine Klage vom Gesundheitsamt eingebracht, die Vermietung des Hauses als Veranstaltungsort für Hochzeiten hatte zu drei nichteingehaltenen Verträgen geführt, das Bootfahren auf dem See hatte um ein Haar zur Erschaffung von funkelnagelneuen Geistern geführt. Jede neue Unternehmung war schon von Anfang an mit einer Kette von Problemen behaftet.
Keiner der Kellner schien Eva zu bemerken. Einige der Jungen wären dem Alter nach etwa in ihrem Schuljahrgang gewesen, und ihr war es nur recht, wenn sie sie nicht wahrnahmen. Ein großer blonder Typ kam ihr bekannt vor - aber Eva hatte sich in der Schule immer von den Jungen ferngehalten, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie sich in ihrer Nähe verhalten sollte.
Die anderen Gäste unterhielten sich bestens, und Tante Joyce war bei ihrem dritten Cocktail angelangt, als der Gong wieder ertönte und die Gäste sich in einer ungeordneten Schlange zum Speisesaal aufmachten. Felix rührte sich als Letzter, er half Großvater mit einer überaus fürsorglichen Miene hoch, der Eva keine Sekunde lang traute.
Sie huschte durch die Fenstertüren über die Terrasse in den kleinen Salon und betrat den Speisesaal durch eine verborgene Tapetentür. Der lange Mahagonitisch war blankpoliert, auf beiden Seiten war gedeckt, vor jedem Platz stand eine perfekt gestaltete Insel aus edelstem Porzellan, geschliffenem Kristall, umrahmt von glänzendem Tafelsilber und dem perfekt gefalteten Dreieck einer Leinenserviette. Vor jedem Platz waren weiße Karten mit Schnörkelschrift zwischen die Schwanzfedern eines silbernen Pfauen-Tischkartenhalters geklemmt, und in der Mitte des Tischs stand ein riesiger Tafelaufsatz mit einem Arrangement aus Farnen und Binsen. Hinter dem Tafelaufsatz starrten die leeren Stühle auf die der anderen Seite.
Eva wusste, dass man ihrem Großvater als Platz den schweren geschnitzten Stuhl am Kopfende der Tafel zuweisen würde, während die anderen Gäste sich ihre Plätze suchten. Sie selbst würde am unteren Ende sitzen, und sie arbeitete sich dorthin durch und dann an der anderen Seite entlang, bis ihr langsam klar wurde, dass für sie nicht gedeckt worden war.
Großvater saß am Kopfende, auf der einen Längsseite waren sechs, auf der anderen fünf Gedecke, immer mit dem säuberlich geschriebenen Namen des Gastes auf den Tischkarten. Von Miss Cora Chance bis Miss Lisle Langley waren alle Namen aufgeführt außer einem.
Evas Name und Gedeck fehlten.
Sie hatte gehört, dass dreizehn Gedecke bei Tisch Unglück brächten, aber noch schlimmer war es, selber der unerwünschte dreizehnte Tischgast zu sein. Ob aus Unachtsamkeit oder aus Boshaftigkeit war ihr Name auf der Liste der Tischgesellschaft offenkundig nicht aufgetaucht.
Eva fragte sich, ob Tante Helen vergessen hatte, sie gegenüber den Caterern zu erwähnen, oder ob Felix dafür verantwortlich war. Doch ganz gleich, wer es gewesen war, Eva wand sich vor Peinlichkeit, denn sie wusste, dass ein Hinweis auf den Fehler sie auf die schlimmste Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken würde, die man sich vorstellen konnte.
Sie hörte das Stimmengemurmel am anderen Ende des Saals, als zwei Kellner elegant die Türflügel öffneten und die Gäste hereingeleiteten. Sie führten sie an ihre Plätze, für die Damen wurden die Stühle zurückgeschoben, und alle nahmen Platz und zupften ihre Jacketts oder Stolen zurecht.
Wie in einem Albtraum setzte sich Eva auf den leeren Stuhl neben Lisle Langleys Gedeck. Lisle bedachte sie mit keinem Blick, weil ihre Aufmerksamkeit ganz auf Tante Joyce' Begleiter auf ihrer anderen Seite gerichtet war. Versteckt vor Joyce' Blicken hinter den breiten Farnwedeln des Tafelaufsatzes machte er Lisle übertriebene Komplimente. Auf der anderen Tischseite widmete sich der Doktor seinem Champagnerglas und gleichzeitig einer ziemlich wirren Geschichte von einem Katzenschutzverein, die ihm Tante Cora erzählte - doch dem Champagner galt ganz offensichtlich sein größeres Interesse.
Durch einen Wald von gestikulierenden Händen trug eine Gruppe von Kellnern in schwarzweißen Uniformen die Speisen herein und schenkte Wein nach. Eva hörte Helens und Joyces Stimmen in schrillem Disput über die Möglichkeiten, wie das Haus in dieser Saison Geld einbringen könnte - Helen war für Gartenpartys, wenn der Park erst einmal wieder gepflegt wäre, und Joyce schlug Bootsfahrten vor, falls der See dafür sicher gemacht werden konnte.
In der Zwischenzeit wogte die Welle der Kellner geräuschlos am Tisch entlang. Die ihr nächste Kellnerin war ein Teenager in einem engen schwarzen Minirock und einer gutsitzenden weißen Bluse. Sie hatte blonde, von rosa Strähnchen durchzogene schulterlange Haare. Eva schrak in ihrem Stuhl zurück. Aber bei ihrem Pech hätte sie nicht überrascht sein dürfen, dass das Kyra Stratton war.
Kyra war die Anführerin der Mädchenbande und regierte die Schule mit ihrem von der Clique beflügelten Selbstbewusstsein. In direktem Gegensatz zu Evas ererbter aristokratischer Armut schien es Kyra und ihrer Truppe niemals an Geld zu mangeln, und sie trugen die teure Boutiquenmode, die Eva mit Neid erfüllte und die sie gleichzeitig verachtete. Mit ihren lauten Stimmen, bunten Haarsträhnchen, Nasen- und Zungenpiercings wollten sie die Jungen beeindrucken, und man sah sie entweder als kichernde, gackernde Gruppe oder einzeln mit einem watschelnden Jungen im Schlepptau. Kyras Clique hatte Eva das Leben in der Schule zur Hölle gemacht. Von Anfang an hatten diese Mädchen sie als nichtdazugehörig abgestempelt, und Evas hochgestochene Redeweise bis hin zu ihren altmodischen Kleidern war die Zielscheibe ihrer Witze gewesen.
Sie hatte mal mitbekommen, dass Kyra in London bei Promi-Events bediente, aber sie hatte keine Verbindung zwischen diesem Job und der hiesigen Cateringfirma hergestellt. Eva sah stur auf den Tisch und ihr fehlendes Gedeck, während Kyra näherkam. Kyra war nun hinter ihr, noch ein Schritt, und sie war vorbeigegangen. Eva sah Kyras Rücken, während die weiterging, die rosagesträhnten blonden Haare schwangen über ihre Schultern, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und wieder zum Kopfende des Tisches zurückging. Sie hatte vor Lisle einen Vorspeisenteller hingestellt und Eva total übersehen.
Eva starrte auf den leeren Tisch vor sich und wäre am liebsten gestorben. Vielleicht war das fehlende Gedeck kein Versehen ihrer Familie, sondern ein dreister Spaß, den sich Kyra und ihre Freunde in der Küche ausgedacht hatten. Vielleicht würden die Kellner während des restlichen Abends immer so tun, als ob sie sie nicht sähen, bis sie in irgendeinem entscheidenden Moment als der übriggebliebene dreizehnte Gast bloßgestellt wurde.
Bestecke kratzten auf Porzellan, während Stimmen angeregt schwatzten und Wein gluckerte, und Eva fühlte sich durch die Mischung aus Lärm, Hitze und den verschiedenen Gerüchen und Alkoholdünsten wie betäubt und angeekelt. Wieder ging jemand am Ende der Tafel vorbei, und Eva spürte hinter sich einen kühlen Windstoß wie aus einem offenen Fenster. Sie drehte sich um und sah die Kellner im Gänsemarsch aus dem Zimmer eilen. Kyras weißer Bluse und ihrem schwarzen Minirock folgte eine Gestalt in altmodischer Dienstbotenuniform aus schwarzem Kleid und weißem Schürzchen, die etwas von einer Elster hatte. Im Gegensatz zu Kyra sah das Elstermädchen Eva direkt an - und eins ihrer kohlschwarzen Augen zwinkerte ihr ganz offensichtlich zu.
Eva zuckte überrascht zusammen und starrte dem Elstermädchen nach, als es der Reihe der Kellner folgte. Ihre schwarzen Haare waren zu einem straffen Zopf geflochten und hingen wie ein Pferdeschwanz unter einem weißen Häubchen herunter. Kyra war etwa fünf Schritte vor ihr, und die Tür schwang hinter ihrem Hüftschwung zu, gerade als das Elstermädchen sie erreicht hatte. Aber die schwarzweiße Gestalt hielt nicht inne, sondern marschierte durch die Tür hindurch, als gäbe es das schwarze Holz nicht, und als Letztes verschwand ihr schwingender Zopf.
Auch ohne die altmodische Kleidung und die Art, wie sie durch eine feste Tür hindurchging, hätte Eva durch den kalten Windhauch gewusst, worum es sich hier handelte. Das Dienerinnengespenst hatte so gut in die Gruppe gepasst, dass niemand es bemerkt hatte - niemand außer Eva.
»Geister! Das ist aber eine gute Idee«, sagte jemand laut, und Eva fuhr zusammen und sah an der Tafel hinunter. Sie konstatierte, dass Tante Joyce' Begleiter sich unerwarteterweise in die Debatte eingemischt hatte, wie man die Hausbesichtigungen besser verkaufen könnte.
»Marketing ist mein Ding«, verkündete er. »Ich habe zahllosen Betrieben geholfen, erfolglose Marken wiederzubeleben. Sie müssen einfach auf Ihre Stärken setzen.« Wie um sich selbst Mut zu machen, trank er einen Schluck Wein und redete schnell weiter. »Sind Häuser wie dieses hier denn nicht voller Gespenster? Damit könnte man Besucher anlocken. Eine Geistertour, so nennt man das. Sie können mir doch nicht weismachen, dass dieses alte Gemäuer nicht jede Menge Sagen hat, aus denen man irgendwas Attraktives fabulieren könnte.«
»Ich glaube nicht, dass wir so etwas machen wollen.« Tante Helen duldete keinen Widerspruch. »Das klingt doch ziemlich geschmacklos ...«
»Unsinn«, kam Tante Joyce ihrem Begleiter zu Hilfe. »Wenn das Geld einbringt, bin ich total dafür.« Während weiter heftig debattiert wurde, versuchte sie, die übrigen Dinnergäste auf ihre Seite zu ziehen.
»Wir könnten das bestimmt schaffen«, fuhr der Marketing-Experte mit wachsender Begeisterung fort und wandte sich an seine Tischnachbarin Miss Langley. »Man könnte das sehr dezent arrangieren, zum Beispiel in Verbindung mit einem Renovierungsfond. Was halten Sie davon?«
»Geistertouren sind in anderen Herrenhäusern sehr erfolgreich gewesen«, stimmte Lisle ihm hoffnungsvoll zu. »Doch das wäre für das Haus etwas ganz Neues und müsste fachmännisch gemanagt werden.«
»Aber unter den herrschenden Umständen müsste doch bestimmt ...« Als sich alle Tante Cora zuwandten, begann ihre Stimme zu zittern, und Eva merkte, dass Tante Cora den Tränen nahe war. »Ist es denn so eine gute Idee, den Tod zum Thema zu machen?«
Alle an der Tafel schwiegen, die Gäste sahen sich unbehaglich an, und zum ersten Mal hörte man das Krächzen von Großvaters Stimme.
»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...« Er stieß jedes Wort hervor, als wäre es eine körperliche Anstrengung, »... als eure Schulweisheit sich träumen lässt«. Er holte mühsam Luft, und Eva starrte ihn an, als wollte sie ihn zum Weitermachen ermuntern. Und er zwang die Tafelgesellschaft, ihm zuzuhören. »Ihr redet von Geistern - aber wer von euch glaubt wirklich daran? Haltet ihr es für möglich, in diesem Bereich zwischen Leben und Tod gefangen zu sein? Wer von euch gibt zu, dass er die Gespenster sieht, die zwischen uns herumwandern? Ich habe die Geister von früheren Chances gesehen und möchte, dass wir sie in Ruhe lassen.«
Eva beugte sich nach vorn und versuchte, durch das Meer von Kristallglas und Silberbesteck dem Blick ihres Großvaters zu begegnen. Sie wollte ihn wissen lassen, dass zumindest sie ihm glaubte.
»Ich habe Geister gesehen«, sagte sie. Aber ihre Stimme war anscheinend kaum zu hören, und sie merkte, dass sie geflüstert hatte.
Am Kopf der Tafel schüttelte Felix den Kopf, und als plötzlich jeder anfing zu sprechen und der Lärm wieder anschwoll, klopfte er dreimal mit der Gabel an sein Weinglas, und es wurde still.
»Es gibt keine Geister«, sagte er. »Es gibt auch keine Spukhäuser. Das sind nur Themen für spannende Geschichten, nichts weiter. Ich glaube kein Wort davon.« Er blickte sich um, bis er sicher war, dass alle ihm aufmerksam lauschten, und fuhr fort: »Ich finde, wir sollten den Vorschlag aufgreifen und in dieser Saison Gespenster zur Hauptattraktion machen. Denn, ehrlich gesagt, brauchen wir jeden Penny, den wir den Touristen aus der Tasche ziehen können, um dieses Haus vor dem Zusammenbruch zu retten.«
»Aber Großvater hat gesagt, wir sollen sie in Ruhe lassen! «, rief Eva aus. »Und die Geister sind schon durch irgendwas beunruhigt. Geistertouren sind gefährlich!«
Doch niemand hörte ihr zu.
Großvater war zurück in seinen Sessel gesunken, und Eva fand es schrecklich, ihn so zu sehen. Felix' Selbstvertrauen loderte über die Tafel und löschte die Einwände seiner Eltern aus, genau wie die wirren Proteste von Tante Cora. Als die Verwalterin und der Anwalt nun anfingen, die praktische Umsetzung zu besprechen, war es offensichtlich, dass der Kampf schon verloren war - die Hauptattraktion dieser Saison sollten die Geistertouren werden.
Eva stand auf. Keiner der Gäste beachtete sie, und sie gelangte unbeobachtet bis zur Tür, drückte leise die Klinke runter und verließ das Speisezimmer.
Eva schlich hinter den Caterern vorbei, die in der Küche beschäftigt waren, und ließ den Lärm der Dinnerparty hinter sich. Zum ersten Mal seit der Ankunft ihrer Verwandten war das Haus wieder still, weil alle an einem Ort versammelt waren. Aber Eva spürte die unsichtbare Spannung, die wachsamen Augen der Vergangenheit. Und da ihre Familie entschlossen war, Ärger zu schüren, wollte Eva ihn lieber gleich im Keim ersticken. Vielleicht würden die Geister nicht böse werden, wenn sie ihnen alles erklärte.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert glaubt niemand an Geister. Das waren Relikte aus der Vergangenheit, wie die Überreste vergangener Zeiten, die überall im Haus verstreut lagen: etwas, das einfach nicht in die Welt da draußen passte. Eva hatte keine der Tanten je zugeben hören, dass sie Geister gesehen hatte. Nur Großvater hatte davon gesprochen, als gäbe es sie wirklich. Wie die Spinnen und Küchenschaben, den Schimmel und die Fäulnis hatte das Haus im Lauf der Zeit auch Geister bekommen, alles zusammen ergab die Atmosphäre. Die meisten Besucher bekamen von ihnen nichts mit, da die Geister nicht stöhnend oder kettenrasselnd mit dem Kopf unterm Arm herumwanderten. Der Einfluss der Geister war subtil und heimtückisch.
Wann immer bislang das Haus für die Touristen geöffnet wurde, hatte Evas Großvater erfolgreich alle Pläne gestoppt, wonach Geister zur Reklame eingesetzt werden sollten.
»Daran soll man nicht rühren«, hatte er immer gesagt, und Eva wusste, was er meinte. Geister waren beunruhigend - ganz gleich, wie sehr man an sie gewöhnt war.
Wenn man die Geister ausnutzen wollte, konnte das Ärger bringen. Wenn Felix die Wünsche ihres Großvaters ignorierte, beging er einen schrecklichen Fehler, und dann war nicht er derjenige, der die Folgen zu spüren bekam. Nach dem Familienrat würde Felix in die Villen seines Vaters zurückkehren, und dann mussten Eva und ihr Großvater mit einer Legion wütender Geister klarkommen, die von den Touristen aufgestört und wie Tiere in einer Menagerie gereizt würden.
In der Halle schimmerten die Pfauenaugen im Dämmerlicht und hielten blind Wache über das Haus. Durch die Glaskuppel oben über der Treppe drang Mondschein. Er tauchte die Treppe in einen verträumten Glanz und versilberte sie mit diffusem Licht.
Die einzelnen Teile des Hauses besaßen sehr unterschiedliche Atmosphären. Eva wusste, dass man das Spukgefühl leicht dem Staub und der Vernachlässigung anlasten konnte. In allen Räumen waren die Möbel mit Laken abgedeckt, und vor den Fenstern hingen schwere dunkle Vorhänge und schützten so die Tapeten vor Sonnenlicht. Dielen vibrierten und knarrten, und von den Wänden fiel raschelnd der Putz, und in den Kaminen rieselte der Ruß herab. Aber es gab auch andere Geräusche. Das Schleifen eines Seidenkleids über den Fußboden, das Knistern und Zischen einer aufflackernden Gasflamme, Gelächter oder Musikgeklimper aus einem entlegenen Raum. Die Vergangenheit war im Haus nie weit entfernt. Jetzt kam es Eva so vor, als könnte sie sie mit der ausgestreckten Hand berühren.
Ihr Entschluss, mit den Geistern ein Gespräch zu suchen, schwand schon bei den ersten Stufen. Das Elsterhausmädchen hatte ihr wie eine Verbündete zugezwinkert. Aber hier war der Boden kalt, und das Mondlicht über der Treppe endete nach den letzten Stufen in einer Pfütze. Bildete sie es sich ein, oder sah dieses Dunkle nass aus? Konnte man mit einem Spukfleck vernünftig reden?
Eva kniete sich hin und tastete widerstrebend nach dem Fleck. Ihre Fingerspitzen berührten den Teppich und zuckten zurück. War er nass oder nur kalt? Sie zitterte. Wurde sie nur von den Pfauenaugen beobachtet, oder stand etwas Unsichtbares hinter ihr, bereit sie anzuspringen?
Sie stand schnell auf und sah sich um.
Da war niemand.
Aber das Spukgefühl verschwand nicht, und Eva sah, wie sich der Fleck unten ausbreitete - die Schwärze tropfte auf die unterste Stufe und näherte sich ihren Füßen.
Mit einem gewaltigen Satz sprang sie darüber weg, klammerte sich an das Geländer und drehte sich um aus Angst, der Blutfleck würde sie verfolgen. Aber die Dunkelheit war reglos, und der Fleck lag hinter ihr, jetzt unbewegt.
Gelächter splitterte durch die Halle, es kam nicht aus dem Speisezimmer, sondern von weiter oben. Auf dem oberen Flur erhaschte das Licht den Spitzenrand einer weißen Haube, und ein bleiches Gesicht sah zu ihr herunter: das Elstermädchen.
Eva eilte die Stufen hinauf, aber als sie in der Galerie ankam, war das Mädchen verschwunden. Sie blieb stehen und wusste nicht, was sie tun sollte, als sie ein leises Geräusch vernahm. Eine Diele knarrte unter einem schweren Tritt. Ein nächster, noch schwererer Tritt folgte: Langsame, leise Schritte kamen die Treppe herauf.
Eva machte einen Schritt, und hinter ihr im Flur machte irgendetwas ebenfalls einen leisen Schritt nach vorn. Eva bewegte sich nicht mehr, und die Schritte verharrten nach einer Sekunde ebenfalls, sie ahmten Evas Bewegungen nach. Sie wurde verfolgt.
Eva hatte Geister finden wollen, und nun hatten die sie gefunden. Aber nichts an diesen Schritten deutete auf einen Verbündeten hin - oder auf etwas, mit dem man vernünftig reden konnte. Alle ihre Instinkte schrien auf aus Angst der Verfolgten vor dem Verfolger. Der Geist hinter ihr folgte ihr nicht einfach - er verfolgte sie.
Mit den riesigen Räumen vor sich und den Schritten hinter sich zögerte sie und blickte sich unentschlossen im Flur um. Währenddessen setzten die Schritte wieder ein, diesmal warteten sie nicht auf sie, sie klangen noch schwerer und langsamer. Eva strengte die Augen an, um irgendeine Bewegung wahrzunehmen, aber in dem schlechtbeleuchteten Flur war nichts zu sehen, obwohl die Schritte immer näher kamen.
Noch drei Meter, zwei Meter, ein Meter.
Evas Füße scharrten über den Fußboden, ihre Beine zitterten, und sie konnte es nicht unterdrücken. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, er fasste ohne sie einen Entschluss und bestand darauf, weiterzugehen.
Ein schwerer Tritt ließ die Dielen vibrieren, und Eva verlor die Beherrschung. Sie drehte sich um und bewegte sich entschlossen von den Schritten weg zum Ostflügel hin. Hinter ihr knarrten die Dielen, als die Tritte ihr folgten und mit ihr Schritt hielten.
Sie beschleunigte ihre Schritte, doch die hinter ihr wurden ebenfalls schneller. Schon rannte sie los, ihre Sandalen klatschten wild auf den Fußboden und rutschten kratzend um eine Ecke im Flur, donnerten über drei niedrige Stufen und klackerten weiter. Die anderen Schritte folgten: Sie hallten von den Dielen wider und bogen um die Ecke, donnerten über die Stufen und jagten hinter ihr her.
Die rennenden Schritte hörten sich noch bedrohlicher an, das war kein unheimliches Geräusch mehr, sondern hinter ihr war der nackte Horror. Der unsichtbare Verfolger schloss auf, kam näher trotz ihrer wilden Flucht. Sie wagte nicht, sich umzublicken, aus Angst, was sie dann sehen würde - oder was sie nicht sehen würde. Wäre der Korridor leer trotz der Schritte fast neben ihr? War das ein Lufthauch oder ein kalter, feuchter Atem in ihrem Nacken?
Ihre Sicht verschwamm, ihr Herz hämmerte, ihr Puls jagte schwindelerregend, ihre Lungen schrien nach mehr Luft, als sie einatmen konnte.
»Hier lang!« Ein schwarzweißer Blitz tauchte plötzlich vor ihr auf, und Eva hielt darauf zu, ihre Sandalen rutschten, als sie auf das Elstermädchen am Ende des Korridors zustürzte.
Die Schritte waren nur noch Sekunden entfernt, sie landeten bereits auf ihren Fußspuren, als sie sich mit letzter Kraft nach vorn warf. Ein drahtiger Arm griff nach ihrem Ärmel und zerrte sie weiter zu einer Wand und in das dunkle Loch, das sich darin auftat. Dunkelheit umgab Eva, als sie hart auf einen kalten Boden stürzte, der Aufprall erschütterte sie, und im gleichen Moment gab der Boden unter ihr mit rasselndem Getöse nach.
In hilfloser Panik rang sie keuchend nach Luft und merkte, dass der Boden sich senkte. In einem metallenen Käfig fiel sie in einen dunklen Schacht, der nur von einer schwachen Glühbirne an der Decke des Käfigs erhellt wurde. Es war der Lastenaufzug. Ihr gegenüber stand das Hausmädchen in ihrer schwarzweißen Uniform, das sie hierhergelotst hatte. Das Gesicht des Mädchens war schmutzig. Sie drehte an einem Metallrad, das den Aufzug durch den Schacht senkte. Die Schritte über ihnen waren völlig verklungen.
»Du willst dich von dem nicht erwischen lassen«, sagte das Elstermädchen mit leichter Dialektfärbung. »Das ist der Stalker, und der bleibt immer hinter dir, wohin du auch gehst oder rennst.«
Eva stand zitternd auf, das Rumpeln des Käfigs übertönte ihr Gefühl der Unsicherheit, nachdem es ihr buchstäblich die Füße weggerissen hatte. Der Lastenaufzug war zu Zeiten von Königin Viktoria eingebaut worden und war, soweit sie wusste, seit fünfzig Jahren nicht benutzt worden. Die Steinmauern des Hauses glitten dunkel-ölig hinter dem schmiedeeisernen Gitter des Aufzugs vorbei. Während sie sich von Stockwerk zu Stockwerk bewegten, begriff Eva, dass sie einen Schritt zur Seite in eine andere Welt getan hatte: eine, die schattenhaft verborgen parallel zu ihrer eigenen lag.
»Ich kenne dich«, sagte das Hausmädchen. Ihre dunklen Augen blickten Eva forschend über die kleine Fläche des Metallkäfigs hinweg an. »Ich habe dich unten gesehen, du hast bei deiner Familie gesessen, und niemand hat dir Beachtung geschenkt.«
»Du hast mir zugezwinkert«, sagte Eva, und das Mädchen zuckte die Achseln.
»Du hast mich gesehen. Sonst niemand. Ich dachte eine Sekunde lang, du wärst wie ich, aber das stimmt nicht, nicht wahr? Du bist eine von ihnen. Eine von den Chances.«
»Ich bin Eva.« Eva versuchte, die schwarzen Augen zu ergründen. »Evangeline Chance.«
»Mir egal, wie du heißt.« Das Elstermädchen ruckte am Ende jeden Satzes mit dem Kopf nach vorn, als wollte sie zubeißen. »Wieso kannst du mich sehen, wenn die anderen von deiner Familie das nicht können?«
»Das weiß ich nicht.« Eva schüttelte den Kopf. »Ich habe immer schon Dinge sehen können, die - Dinge, die angeblich nicht existieren, wie Geister.«
»Glaubst du, ich bin ein Geist?«, fragte das Mädchen mit raschem, vogelähnlichem Blick, und Eva schrak zurück.
»Ja«, gestand sie. »Tut mir leid. Entschuldige. Aber nicht so ein Geist wie das, was mich gejagt hat. Ihr seid beide Geister, stimmt's? Aber du hast mir geholfen, und das Ding da ...«
»Der Stalker«, sagte das Elstermädchen ausdruckslos. »Wenn er dich erwischt hätte, hätte er dich umgebracht. Das macht er immer. Er folgt dir, dann jagt er dich, und wenn er dich einholt, stirbst du.«
Eva überlief ein Schauder. Sie wollte fragen, ob der Stalker- Geist auch lebendige Menschen umbrachte oder nur Geister verfolgte, aber sie ahnte, dass diese Frage unpassend war. Doch da keine erwähnenswerte Anzahl von Leichen herumlag oder Gerippe aus den Schränken fielen, nahm sie an, dass der Stalker wohl meistens andere Geister attackierte.
»Warum hast du mir geholfen?«, fragte sie stattdessen.
»Das geht dich nichts an«, fauchte das Mädchen, offensichtlich verärgert über die Frage. Sie drehte heftig am Rad, so dass sie schneller nach unten fuhren und die Wände nur noch so vorbeirauschten. »Vielleicht wollte ich rausfinden, warum er dich verfolgt. Was ist an dir so Besonderes, dass du das ganze Haus in Aufruhr versetzt? Du stinkst nach Ärger!«
»Gar nicht wahr!« Eva war gekränkt und dachte, immer bekommt der Bote die Schuld. »Das bin ich nicht. Ich mache keinen Ärger.«
»Alle Chances machen Ärger.« Als der Aufzug rumpelnd zum Stehen kam, drehte sich das Elstermädchen wieder zu Eva um. »Du bist entweder bösartig oder verrückt, und die Schlimmsten von euch sind beides gleichzeitig.«
»Dafür kann ich nichts.« Eva funkelte sie an. »Ich kann nichts für die Familie, in die ich hineingeboren wurde, oder dafür, wer meine Verwandten sind. Außer meinen Großvater kann ich keinen von denen ausstehen.«
»Oh, jammern, jammern, jammern.« Das Elstermädchen war kein bisschen beeindruckt. »Dann versuch mal, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang diese launenhaften, kaltherzigen Monster zu bedienen, eine miesgelaunte Sau und einen Wurf Mistviecher, von denen keins wert ist, deine Stiefel zu lecken.«
Eva erschauerte wieder. Die Luft um das Geistmädchen war frostig, kälter als die Steinwände ringsumher. Jedes Mal, wenn sich das Elstermädchen aufregte, wurde es noch ein paar Grad kälter.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht beklagen. « Sie hatte genug Erfahrung in Hausarbeit, um sich dafür zu schämen, wie rücksichtslos ihre Vorfahren ihre Dienstboten behandelt hatten. »Hast du gehört, worüber die Gäste beim Essen geredet haben?«
»Über Besucher, die Geister sehen wollen.« Das Elstermädchen warf ihr einen lauernden Blick zu. »Ich hab's dir doch gesagt: Sie sind entweder böse oder verrückt genug, um es zu versuchen. Und wenn sie es tun, droht ihnen Gefahr. «
»Wie meinst du das? Was für eine Gefahr?«
»Du solltest das wissen«, sagte der Geist. »Du steckst doch mittendrin, auf dir liegt ein Fluch. Auch wenn du das nicht weißt. Ich bin keine Unruhestifterin, das war ich nie - trotz allem, was behauptet wird.« Jahrhundertealte Wut loderte kurz auf. »Aber ich weiß, woher der Wind weht. Und das Glück hat die Chances verlassen, ist doch so, oder?« Sie sah Eva durchdringend an.
»Ich weiß nicht.« Eva dachte an ihren kränkelnden Großvater und dass Felix demnächst das Haus erben würde und drohte, daraus einen Golfclub oder ein Hotel zu machen, und dass sich bald die Touristen versammeln würden wie Geier, die sich von einer Leiche ernähren. »Vielleicht hat uns das Glück verlassen. Aber noch sind wir nicht tot.«
»Wenn du meinst.« Das Elstermädchen sah sie wütend an, und Eva wurde rot.
»Entschuldige. Aber wenn mein Großvater stirbt, wird mein Cousin Felix mich rausschmeißen. Und Großvater wird nicht gesund werden, wenn im ganzen Haus die Geister verrückt spielen. Falls es gefährlich wird, muss ich sie daran hindern.«
»Dann bist du also eine von den Verrückten.« Das Elstermädchen lächelte bissig und zeigte ihre Zähne. »Tja, aber gib nicht mir die Schuld, wenn du eines Morgens tot bist.« Sie rüttelte an der Tür, die sich daraufhin öffnete, und trat in den Flur dahinter.
»Wart mal«, sagte Eva. »Es muss doch irgendwas geben, was ich tun kann. Ich brauche deine Hilfe.«
»Ach wirklich?« Das Elstermädchen wandte Eva ruckartig das Gesicht zu. »Pah, wenn du unbedingt Ärger kriegen willst, dann solltest du mal im Keller nachschauen.«
Dann war sie verschwunden, zwischen zwei Herzschlägen, ihre weiße Schürze war ein Spritzer Mondlicht auf der Wand, das dunkle Kleid die finstere Kurve des Tunnels.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Rhiannon Lassiter
Rhiannon Lassiter kam 1977 in London zur Welt und studierte in Oxford, wo sie noch heute lebt. Sie ist die älteste Tochter der Jugendbuchautorin Mary Hoffman. Ihren ersten Roman '2367 - Experiment Hex' veröffentlichte sie im Alter von neunzehn Jahren. Am liebsten liest und schreibt sie Fantasy und Science Fiction, arbeitet aber auch als Journalistin und Webdesignerin. Ihre Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rhiannon Lassiter
- Altersempfehlung: 12 - 16 Jahre
- 2013, 464 Seiten, Maße: 14 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Schindler, Nina
- Übersetzer: Nina Schindler
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596854938
- ISBN-13: 9783596854936
Rezension zu „Der 13. Gast “
Eine gelungene Mischung aus Fantasy-und Kriminalroman. Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (ajum) Berlin 20130623
Kommentar zu "Der 13. Gast"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der 13. Gast“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der 13. Gast".
Kommentar verfassen