"Der Abgrund" und "Die Verschwörung"
Der Abgrund: Web London ist Special Agent in einer Elitetruppe des FBI. Eines Tages gerät sein Team in einen Hinterhalt. Nur Web überlebt den Kugelhagel und wird als Verräter verdächtigt.
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Der Abgrund: Web London ist Special Agent in einer Elitetruppe des FBI. Eines Tages gerät sein Team in einen Hinterhalt. Nur Web überlebt den Kugelhagel und wird als Verräter verdächtigt.
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Der Abgrund / Die Verschwörung von David BaldacciKAPITEL 1
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Web London besaß ein halbautomatisches SR75-Gewehr, das ein legendärer Waffenschmied für ihn maßgeschneidert hatte. Web verließ sein Haus niemals ohne dieses durchschlagkräftige Spitzenprodukt der Waffenkunst, denn er war ein Mann, der mit der Gewalt lebte. Töten war sein Job, und das mit unfehlbarer Effizienz. Nicht auszudenken, wenn er jemals den Falschen tötete! In einem solchen Fall wäre es besser, wenn er sich gleich selbst erschoss, um den furchtbaren Selbstvorwürfen zu entgehen. Web hatte einfach nur einen schwierigen Beruf, mit dem er sein tägliches Brot verdiente. Er konnte nicht behaupten, dass er diesen Job liebte, aber er war sehr gut darin.
Auch wenn er praktisch jeden Augenblick seines wachen Lebens mit einer Waffe in der Hand verbrachte, neigte Web nicht dazu, sie zu verhätscheln. Eine Pistole bezeichnete er niemals als Freund und er gab seinen Waffen auch keine Kosenamen. Trotzdem spielten sie eine wichtige Rolle in seinem Leben, wenngleich Waffen wie wilde Tiere waren und sich nicht ohne Weiteres zähmen ließen. Selbst ausgebildete Gesetzeshüter verfehlten in acht von zehn Fällen das Ziel. Für Web war das nicht nur untragbar, es grenzte außerdem an Selbstmord. Er verfügte über zahlreiche ungewöhnliche Eigenschaften, aber Todessehnsucht gehörte nicht dazu. Es gab ohnehin genügend Leute, die immer wieder versuchten, ihn zu töten, und einmal hätten sie ihn fast erwischt.
Vor etwa fünf Jahren hatte er einen oder zwei Liter Blut verloren, bevor er auf dem Boden der Turnhalle einer Schule zusammenbrach, die bereits mit Toten und Sterbenden übersät war. Nachdem er seinen Verletzungen getrotzt und die Ärzte, die ihn behandelten, verblüfft hatte, tauschte Web die Maschinenpistole, die seine Waffenbrüder vorzogen, gegen die SR aus. Sie ähnelte einer MI6, war mit großen Patronen vom Kaliber .308 geladen und hervorragend geeignet, Leuten Angst einzujagen. Wenn man eine SR besaß, wollte plötzlich jeder ein Freund sein. Dann war das Töten manchmal nicht einmal mehr nötig.
Durch die abgedunkelten Scheiben des Einsatzwagens, eines Suburban, beobachtete Web jede Menschenansammlung an den Ecken und jede verdächtige Gruppe in den dunkleren Seitenstraßen. Während sie weiter in feindliches Territorium vorstießen, kehrte Webs Blick zur Straße zurück. Er wusste, dass jedes Auto ein getarntes und schwer bewaffnetes Fahrzeug sein konnte. Er suchte nach wachsamen Blicken, einem Kopfnicken oder Fingern, die mit Handys spielten und in Wirklichkeit dem alten Web schweren Schaden zufügen wollten.
Der Suburban bog um eine Ecke und hielt an. Web sah sich zu den sechs anderen Männern um, die neben ihm kauerten. Er wusste, dass ihnen dieselben Gedanken wie ihm durch den Kopf gingen: schnell und ohne Schwierigkeiten nach draußen gelangen, Stellung beziehen und ein möglichst großes Schussfeld im Auge behalten. Angst war kein Faktor in dieser Gleichung. Es kam darauf an, die Nerven zu behalten. Hoch konzentriertes Adrenalin war ein gefährliches Gift, weil es sehr schnell töten konnte.
Web atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er musste seinen Puls auf sechzig bis siebzig runterkriegen. Bei fünfundachtzig Schlägen pro Minute zitterte die Waffe, selbst wenn man sie an den Körper presste; bei neunzig konnte man nicht mehr den Abzug betätigen, weil der Blutstau in den Adern und die Verspannung in Schultern und Armen das verhinderten. Bei über einhundert Schlägen pro Minute verlor man jede Feinmotorik und war nicht mehr in der Lage, einen Elefanten auf einen Meter Entfernung mit einer Kanone zu treffen. Wenn es so weit kam, konnte man sich genauso gut ein Schild mit der Aufschrift ERSCHIESST MICH auf die Stirn pappen, weil dieses Schicksal unausweichlich geworden war. Web schob die Unruhe beiseite und destillierte Gelassenheit aus dem brodelnden Chaos.
Der Suburban setzte sich wieder in Bewegung, bog um eine weitere Ecke und hielt an. Web wusste, dass es das letzte Mal war. Die Funkstille wurde gebrochen, als Teddy Riner in sein Knochenmikrofon sprach, das auch als »Mic« bezeichnet wurde. »Charlie an TOC«, sagte Riner, »erbitten Einsatzfreigabe und Erlaubnis, auf Gelb zu gehen.«
Über sein Mic hörte Web die knappe Antwort des Tactical Operations Center, der Taktischen Einsatzzentrale. »Verstanden, Charlie Eins, halten Sie sich bereit.« Nach der in Webs Welt gültigen Farbenlehre bezeichnete »Gelb« die letzte Deckungsposition.
»Grün« war die kritische Zone, der Augenblick der Wahrheit, der Durchbruch. Während sie sich auf dem heiligen Boden bewegten, der sich zwischen der relativen gelben Sicherheit und der grünen Wahrheit erstreckte, konnte sehr viel geschehen. »Einsatzfreigabe « - Web ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Damit wurde die Erlaubnis eingeholt, notfalls Menschen erschießen zu dürfen, obwohl es klang, als würde man seinen Chef fragen, ob man eine Maurerkolonne auf die Baustelle schicken durfte. Wieder wurde die Funkstille gebrochen, als die Einsatzzentrale durchgab:
»TOC an alle Einheiten, Sie haben Einsatzfreigabe und Erlaubnis, auf Gelb zu gehen.« Allerherzlichsten Dank, liebes TOC. Web rückte ein Stück näher an die Hecktüren des Suburban heran. Er bildete die Vorhut und Roger McCallam war die Nachhut. Jim Davies war der Pionier und Riner der Anführer der Gruppe. Big Cal Plummer und die zwei weiteren Kämpfer, Lou Patterson und Danny Garcia, standen bereit. Sie waren mit MP-5-Maschinengewehren, Blendgranaten, 45er-Pistolen und absoluter Ruhe ausgerüstet. Sobald sich die Tür öffnete, würden sie ausschwärmen und nach Bedrohungen aus jeder Richtung Ausschau halten. Sie würden sich gebückt und mit angewinkelten Knien vorwärts bewegen, um den Rückstoß aufzufangen, falls sie feuern mussten. Webs Gesichtsmaske schränkte sein Sichtfeld auf das absolut notwendige Maß ein. Das war sein Miniatur-Breitwandkino, auf dem sich das Chaos der realen Welt abspielen würde, Eintrittskarten inbegriffen.
Er sah, wie Danny Garcia sich bekreuzigte, was er vor jedem Einsatz tat. Und Web sagte darauf dasselbe, was er jedes Mal sagte, wenn Garcia sich bekreuzigte, kurz bevor die Türen des Chevys aufsprangen. »Gott weiß ganz genau, warum er sich hier nicht blicken lässt, Danny-Boy. Von ihm können wir keine Hilfe erwarten. « Er sagte es jedes Mal in scherzhaftem Tonfall, aber es war nicht als Scherz gemeint.
Von nun an mussten Handzeichen genügen. Wenn einem die Kugeln um die Ohren flogen, neigte man ohnehin nicht zur Geschwätzigkeit. Während der Arbeit sprach Web kaum ein Wort. Fünf Sekunden später sprangen die Türen auf, und die Gruppe stürmte nach draußen in die Nacht.
Sie waren viel zu weit vom Einsatzort entfernt. Normalerweise fuhren sie direkt bis zum Ziel und sprengten sich den Weg frei, aber in diesem Fall war die Logistik etwas komplizierter. Verlassene Autos, abgeladene Kühlschränke und andere sperrige Gegenstände blockierten den direkten Zugang.
Jetzt meldeten sich die Scharfschützen vom X-Ray-Team über Funk. Ein Stück weiter befanden sich Menschen auf der Straße, aber sie gehörten nicht zu der Gruppe, auf die Web Jagd machte. Zumindest machte es nicht den Eindruck. Aber man wusste ja nie. Geduckt rannten Web und das Charlie-Team die Straße entlang. Die sieben Mitglieder des Hotel-Teams waren von einem Wagen auf der gegenüberliegenden Seite des Blocks abgesetzt worden, um das Ziel von links hinten anzugreifen. Der Plan sah vor, dass Charlie und Hotel sich irgendwo mitten in dieser Kampfzone trafen, die sich als Wohnviertel tarnte.
Webs Leute bewegten sich jetzt in östlicher Richtung, dicht gefolgt von einem aufziehenden Sturm. Blitz, Donner, Wind und horizontaler Regen waren ein erheblicher Störfaktor für die direkte Kommunikation, die taktische Positionierung und die Nerven der Männer, vor allem während des kritischen Zeitpunkts, wenn alles perfekt funktionieren musste. Die hochgezüchtete Technik nützte ihnen überhaupt nichts; sie konnten nur auf die schlechte Laune von Mutter Natur reagieren, indem sie schneller rannten. Sie liefen die Straße entlang, einen schmalen Asphaltstreifen voller Schlaglöcher und Müll. Links und rechts erhoben sich Gebäude, deren Verputz nach jahrzehntelangen Schießereien pockennarbig geworden war. Bei einigen Gefechten war es um die Guten gegen die Bösen gegangen, doch die meisten hatten zwischen jungen Männern stattgefunden, die um Drogenreviere, Frauen oder einfach so gekämpft hatten. Hier war jeder ein Mann, der eine Waffe hatte - auch wenn er eigentlich noch ein Kind war, das nach den Zeichentrickserien am Samstagmorgen nach draußen lief und fest daran glaubte, dass ein erschossener Spielkamerad anschließend wieder aufstehen und weiterspielen würde ...
Sie erreichten die Gruppe, die die Scharfschützen beobachtet hatten. Es waren Schwarze, Latinos und Asiaten, alles Drogendealer, die sich nun erschrocken umdrehten. Offensichtlich überwand die Aussicht auf einen starken Kick und unkomplizierte Bargeschäfte alle Barrieren von Rasse, Hautfarbe, Religion oder politischen Tendenzen. Es war erstaunlich, dass dieser armselige Haufen von Verlierern überhaupt genügend Energie und Verstand aufbrachte, um die simple Transaktion geistig zu verarbeiten, kleine Päckchen mit Hirnverätzern, die notdürftig als Glücksbringer getarnt waren, gegen Bargeld zu tauschen und sich obendrein selbst daran zu vergiften.
Angesichts der Ehrfurcht gebietenden Front aus Waffen und Kevlar fielen alle Junkies bis auf einen auf die Knie und bettelten darum, nicht erschossen oder verhaftet zu werden. Web konzentrierte sich auf den einzigen jungen Mann, der stehen geblieben war. Er hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, das seine Zugehörigkeit zu irgendeiner Gang demonstrierte. Der Junge hatte eine Taille wie ein Tänzer und Schultern wie eine Hantel. Eine abgeranzte Turnhose hing ihm tief im Schritt und ein ärmelloses Shirt spannte sich um seinen muskulösen Oberkörper. Außerdem stand eine himmelhohe Überheblichkeit in seinen Gesichtszügen, als wollte er sagen: Ich bin schlauer und härter als ihr und ich werde euch alle überleben. Web musste stillschweigend anerkennen, dass ihm der Rapperlook sehr gut stand.
Es dauerte dreißig Sekunden, bis sie festgestellt hatten, dass alle bis auf den Jungen mit dem roten Kopftuch bedröhnt und unbewaffnet waren. Sie suchten nicht nur nach Waffen, sondern auch nach Handys, mit denen sie jemanden warnen konnten. Der Junge mit dem Kopftuch trug ein Messer bei sich, aber damit hatte er keine Chance gegen Kevlar und Maschinenpistolen. Also ließen sie ihm das Ding. Aber als das Charlie-Team weiterstürmte, folgte Cal Plummer den anderen im Rückwärtsgang und hielt die Straßenhändler mit seiner MP-5 in Schach, für alle Fälle. Der Junge rief ihnen etwas hinterher: dass er von Webs Gewehr beeindruckt sei und es kaufen wolle. Er würde ihnen einen guten Preis machen und anschließend würde er Web und alle anderen damit abknallen. Ha-ha! Web blickte zu den Dächern hinauf, wo die Leute vom Whiskey- und X-Ray-Team ihre Schusspositionen bezogen hatten, die Junkies fest im Visier. Die Scharfschützen waren Webs beste Freunde. Er wusste genau, wie sie an ihre Aufgaben herangingen, weil er viele Jahre lang selbst einer von ihnen gewesen war.
Web hatte mehrere Monate am Stück in dampfenden Sümpfen gelegen, während ständig Wassermokassinschlangen über ihn hinweggekrochen waren. Oder er hatte sich in enge Felsspalten gezwängt, durch die ein eiskalter Wind pfiff, das Lederpolster des maßgefertigten Gewehrkolbens fest an die Wange gepresst und durch das Zielfernrohr gestarrt, um das Gelände zu erkunden und zu sichern. Als Scharfschütze hatte er viele wichtige Fähigkeiten entwickelt, zum Beispiel, wie man lautlos in eine Konservendose pinkelte. Andere Lektionen hatten darin bestanden, sein Essen in geeigneten Portionen abzupacken, damit er sich auch in totaler Finsternis Kohlenhydrate zuführen konnte, und seine Patronen so bereitzulegen, dass er optimal nachladen konnte. Er arbeitete nach strengen Methoden, die sich immer wieder bewährt hatten. Nicht dass er irgendwelche dieser einzigartigen Talente auf den privaten Bereich übertragen konnte, aber Web führte ohnehin kaum ein Privatleben.
Das Leben eines Scharfschützen hing immer zwischen zwei Extremen. Man stand vor der Aufgabe, die beste Schussposition zu finden, bei der man selbst möglichst gut gedeckt war, und diese beiden Anforderungen waren manchmal einfach nicht in Einklang zu bringen. Stunden, Tage, Wochen oder sogar Monate verbrachte man mit Nichtstun, während die Langeweile an der Moral nagte, bis urplötzlich alles von einem gefordert wurde, in einer rasenden Abfolge von Augenblicken, die aus einem Ansturm wilder Schießerei und totaler Verwirrung bestand. Wenn man entschied, einen Schuss abzugeben, bedeutete das, dass jemand sterben würde, und man war sich niemals sicher, ob der eigene Tod eine Rolle in dieser Gleichung spielte oder nicht.
Web konnte diese Bilder jederzeit wie Schnappschüsse aus seinem Gedächtnis abrufen. Die aufblitzenden Erinnerungen waren äußerst lebhaft. Fünf Hohlspitzgeschosse warteten im Magazin darauf, in einer Salve freigesetzt zu werden und sich mit doppelter Schallgeschwindigkeit in einen Widersacher zu bohren, wenn Webs Finger den Abzug durchdrückte. Sobald jemand in sein Schussfeld geriet, würde Web feuern und ein Mensch würde sich plötzlich in eine Leiche verwandeln. Die wichtigsten Schüsse jedoch, mit denen Web als Scharfschütze zu tun gehabt hatte, waren jene gewesen, die er nicht abgefeuert hatte. So war es in diesem Job. Es war kein Job für Leute mit schwachen Nerven oder für geistig Arme, nicht einmal für Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz.
Web bedankte sich stumm bei den Scharfschützen, die dort oben die Stellung hielten, und lief weiter die Straße entlang. Als Nächstes stießen sie auf ein Kind, einen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, der ohne Hemd auf einem Betonbrocken saß, und weit und breit kein Erwachsener in der Nähe. Der aufziehende Sturm hatte die Temperatur um mindestens zehn Grad gesenkt und das Quecksilber fiel weiter. Trotzdem trug der Junge kein Hemd. Web fragte sich, ob er jemals eins trug. Er hatte schon viele Kinder erlebt, die in Armut lebten. Web hielt sich keineswegs für einen Zyniker, aber er war Realist. Diese Kinder taten ihm leid, aber er konnte nichts tun, um ihnen zu helfen. Und heutzutage musste man überall mit Gefahren rechnen, also suchte sein Blick automatisch den Körper des Jungen ab, ob er eine Waffe bei sich trug. Glücklicherweise fand er nichts. Web wäre es unangenehm gewesen, auf ein Kind schießen zu müssen.
Der Junge sah ihn unverwandt an. Im flackernden Schein der einzigen Straßenlampe, die aus irgendeinem Grund noch funktionierte, zeichnete sich die Gestalt des Kindes überdeutlich ab. Web bemerkte den zu schlanken Körper und die bereits verhärteten Muskeln in Armen und Schultern und an den hervortretenden Rippen, die an die Rindenwucherung über einer alten Verletzung eines Baumes erinnerten. Auf der Stirn des Jungen verheilte ein Messerschnitt. Ein runzliges Loch in der linken Wange rührte von einer Kugel her - daran gab es für Web keinen Zweifel.
»Donnerhall«, sagte der Junge mit erschöpfter Stimme, dann lachte er. Es war eher ein meckerndes Lachen. Die Worte und das Lachen klangen in Webs Kopf wie angeschlagene Becken nach, aber er hatte keine Ahnung, warum. Er spürte sogar ein Kribbeln auf der Haut. Er hatte schon viele Kinder gesehen, für die es keine Hoffnung gab, aber dieses Mal ging in seinem Kopf etwas vor sich, das er nicht einschätzen konnte. Vielleicht machte er diesen Job schon zu lange, obwohl jetzt alles andere als der geeignete Zeitpunkt war, um darüber nachzudenken.
Webs Finger verharrte in der Nähe des Abzugs, während er an der Spitze der Gruppe mit federnden Schritten weiterlief und versuchte, das Bild des Jungen aus seinem Kopf zu verdrängen. Obwohl er selbst sehr schlank war und nicht über imposante Muskeln verfügte, steckte eine enorme Kraft in seinen von Natur aus breiten Schultern, den langen Armen und starken Fingern. Und er war mit Abstand der schnellste Mann der Gruppe und verfügte zudem über eine beeindruckende Ausdauer. Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer - das war es, wofür sein muskulöser Körper trainiert war.
Patronen durchdrangen Muskeln genauso mühelos wie Fett. Aber das Blei konnte einem keine Schmerzen zufügen, wenn es einen nicht traf. Ein massiger Mann von eins achtzig, so hätte ihn jeder beschrieben, der ihn sah. Zumindest früher. Heute konzentrierten sich die meisten ganz auf den Zustand seiner linken Gesichtshälfte, beziehungsweise dessen, was davon noch übrig war. Wenngleich erstaunlich war, wie gut sich heutzutage zerstörte Körperteile rekonstruieren ließen. Bei günstiger Beleuchtung war fast nichts mehr von dem alten Einschusskrater zu bemerken, der durch einen wiederaufgebauten Wangenknochen und sorgsam verpflanztes Hautgewebe eingeebnet worden war. Wirklich beeindruckend, hatten
alle gesagt. Alle bis auf Web.
Am Ende der Straße hielt die Gruppe wieder an und ging geduckt zu Boden. Direkt neben Web hockte Teddy Riner. Über sein drahtloses Knochenmikrofon kommunizierte Riner mit der Einsatzzentrale und meldete, dass Charlie auf Gelb stand und die Erlaubnis benötigte, auf Grün zu gehen - die »kritische Zone« zu betreten, was in diesem Fall lediglich eine fantasievolle Bezeichnung für die Haustür war. Web hielt die SR75 mit einer Hand fest und tastete nach seiner maßgefertigten 45er, die in einem Halfter tief an seinem rechten Bein steckte. Eine identische Pistole hing an der kugelsicheren Weste, die seinen Brustkorb schützte, und auch diese berührte er während des kurzen Rituals unmittelbar vor dem Angriff.
Web schloss die Augen und stellte sich vor, wie die nächste Minute ablaufen würde. Sie würden zur Tür stürmen, Davies an der Spitze, damit er den Sprengsatz anbringen konnte. Die anderen würden ihre Blendgranaten locker in der schwachen Hand halten. Die Maschinenpistolen wären entsichert und die ruhigen Finger würden sich von den Abzügen fernhalten, bis die Zeit zum Töten gekommen war. Davis würde die mechanischen Sicherungen von der Kontrolleinheit entfernen und die Zündschnur überprüfen, die zum Sprengstoff führte. Er würde nach Problemen suchen und hoffen, dass er keine fand. Riner würde die unsterblichen Worte »Charlie auf Grün« an die TOC übermitteln, die wie immer mit »Bereithalten, wir haben die Kontrolle« antworten würde. Web ärgerte sich jedes Mal über diesen Satz, denn wer hatte wirklich die Kontrolle über das, was sie taten?
In seiner gesamten Karriere hatte Web noch nie erlebt, dass die Taktische Einsatzzentrale das Ende des Countdown erreichte. Bei »zwei« würden die Scharfschützen das Feuer auf die Ziele eröffnen und ein Hagel aus gleichzeitig abgefeuerten 3o8ern war ziemlich laut. Dann ging der Sprengsatz hoch, bevor TOC »eins« sagen konnte, und von diesem Dezibel-Hurrikan wurden sogar die eigenen Gedanken übertönt. Wenn man jemals hörte, wie die Zentrale den Countdown beendete, steckte man in großen Schwierigkeiten, denn das bedeutete, dass die Sprengladung nicht gezündet hatte. Und das war ein ziemlich miserabler Anfang für einen Arbeitstag. Wenn die Tür aufgesprengt war, würden Web und sein Team in das Zielobjekt eindringen und ihre Blendgranaten werfen. Diese Bezeichnung war treffend gewählt, weil der Blitz jeden Anwesenden vorübergehend blind machte. Außerdem würde der Knall jedes ungeschützte Trommelfell platzen lassen. Wenn sie auf weitere verriegelte Türen stießen, würden sie sich entweder öffnen, nachdem Davies mit seiner Schrotflinte »angeklopft« hatte oder nachdem sie ihre »Eintrittskarte« zum Einsatz gebracht hatten - einen Streifen, der wie ein Stück Reifengummi aussah, aber einen C4-Sprengsatz enthielt, dem praktisch keine Tür standhalten konnte. Sie würden nach eingeübten Manövern vorgehen, gezielt ihre Hände und Waffen einsetzen, präzise Schüsse abfeuern und ihre Handlungen wie Schachzüge planen. Die Kommunikation fand ausschließlich über Berührungen statt. Die kritischen Faktoren ausschalten, eventuelle Geiseln lokalisieren und sie schnell und lebend in Sicherheit bringen. Nur an den eigenen Tod dachten sie niemals. Das beanspruchte zu viel Zeit und Energie, die sie für ihre Aufgabe benötigten. Es beeinträchtigte die elementaren Instinkte und Fertigkeiten, die sie durch ständige Übung geschärft hatten, bis sie zu einem Teil ihrer Persönlichkeit geworden waren.
Zuverlässigen Quellen zufolge befand sich im Gebäude, das sie stürmen sollten, die komplette Finanzverwaltung eines großen Drogenkonzerns, der seine Zentrale in der Hauptstadt hatte. Zur potenziellen Beute des heutigen Tages gehörten Buchhalter und Erbsenzähler, die zu wertvollen Zeugen für die Regierung werden konnten, wenn es Web und seinen Männern gelang, sie lebend herauszuholen. So hatte die Bundespolizei mehrere Ansätze, um die Köpfe der Organisation straf- und zivilrechtlich zu verfolgen.
Selbst Drogenkönige fürchteten sich vor einer gründlichen Prüfung durch das Finanzamt, weil die Bosse nur selten Steuern an Onkel Sam abführten. Deshalb hatte man Webs Team zum Einsatz gerufen. Sie waren darauf spezialisiert, Leute zu töten, die es verdient hatten, aber sie waren auch verdammt gut darin, andere Leute am Leben zu lassen. Zumindest so lange, bis diese Leute eine Zeugenaussage machen konnten, um sich für einen längeren Zeitraum ein wesentlich größeres Übel vom Hals zu halten. Wenn sich die Zentrale zurückmeldete, würde der Countdown beginnen: »Fünf, vier, drei, zwei ...«
Web öffnete die Augen und sammelte sich. Er war bereit. Sein Puls lag bei vierundsechzig. Web wusste es ganz genau. Okay, Jungs, gleich stoßen wir zur Goldmine vor. Holen wir es uns! Erneut meldete sich die Taktische Einsatzzentrale über seinen Kopfhörer und gab das Okay, durch die Vordertür zu stürmen. Und genau in diesem Moment erstarrte Web London. Seine Gruppe verließ die Deckung und ging auf Grün, stieß in die kritische Zone vor - nur Web nicht. Es war, als würden seine Gliedmaßen nicht mehr zu seinem Körper gehören - als würde man einschlafen und auf einem Arm oder Bein liegen, bis man aufwachte und feststellte, dass dieser Körperteil von der Blutzirkula tion abgeschnitten war. Es schien keine Angst oder plötzliche Nervenschwäche zu sein, dazu hatte Web diesen Job schon zu lange gemacht. Trotzdem konnte er nur reglos zusehen, wie das Charlie- Team angriff.
Dieser Hinterhof war als letzte größere Gefahrenzone unmittelbar vor dem kritischen Punkt identifiziert worden. Die Männer beschleunigten ihren Vorstoß und blickten sich nach allen Seiten um, ob es irgendwo das leiseste Anzeichen für Widerstand gab. Keiner von ihnen schien zu bemerken, dass Web nicht bei ihnen war.
Sein Körper war schweißüberströmt, als er seine Muskeln gegen das ankämpfen ließ, was ihn zurückhielt. Web schaffte es, sich langsam zu erheben und zögernd ein paar Schritte zu gehen. Seine Füße und Arme schienen in Bleimanschetten zu stecken, sein Körper brannte und sein Kopf drohte zu platzen, als er sich wankend ein Stück weiter vorwagte. Er erreichte den Hof, dann ließ er sich zu Boden fallen, während sich sein Team weiter von ihm entfernte. Er blickte auf und sah noch, wie Charlie den Angriff fortsetzte, das Ziel in Sichtweite. Es schien sie noch etwas näher heranlocken zu wollen, damit sie sich holen konnten, was sie haben wollten. Es waren noch fünf Sekunden bis zum Ziel. Diese fünf Sekunden sollten Web Londons Leben für immer verändern.
Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Web London besaß ein halbautomatisches SR75-Gewehr, das ein legendärer Waffenschmied für ihn maßgeschneidert hatte. Web verließ sein Haus niemals ohne dieses durchschlagkräftige Spitzenprodukt der Waffenkunst, denn er war ein Mann, der mit der Gewalt lebte. Töten war sein Job, und das mit unfehlbarer Effizienz. Nicht auszudenken, wenn er jemals den Falschen tötete! In einem solchen Fall wäre es besser, wenn er sich gleich selbst erschoss, um den furchtbaren Selbstvorwürfen zu entgehen. Web hatte einfach nur einen schwierigen Beruf, mit dem er sein tägliches Brot verdiente. Er konnte nicht behaupten, dass er diesen Job liebte, aber er war sehr gut darin.
Auch wenn er praktisch jeden Augenblick seines wachen Lebens mit einer Waffe in der Hand verbrachte, neigte Web nicht dazu, sie zu verhätscheln. Eine Pistole bezeichnete er niemals als Freund und er gab seinen Waffen auch keine Kosenamen. Trotzdem spielten sie eine wichtige Rolle in seinem Leben, wenngleich Waffen wie wilde Tiere waren und sich nicht ohne Weiteres zähmen ließen. Selbst ausgebildete Gesetzeshüter verfehlten in acht von zehn Fällen das Ziel. Für Web war das nicht nur untragbar, es grenzte außerdem an Selbstmord. Er verfügte über zahlreiche ungewöhnliche Eigenschaften, aber Todessehnsucht gehörte nicht dazu. Es gab ohnehin genügend Leute, die immer wieder versuchten, ihn zu töten, und einmal hätten sie ihn fast erwischt.
Vor etwa fünf Jahren hatte er einen oder zwei Liter Blut verloren, bevor er auf dem Boden der Turnhalle einer Schule zusammenbrach, die bereits mit Toten und Sterbenden übersät war. Nachdem er seinen Verletzungen getrotzt und die Ärzte, die ihn behandelten, verblüfft hatte, tauschte Web die Maschinenpistole, die seine Waffenbrüder vorzogen, gegen die SR aus. Sie ähnelte einer MI6, war mit großen Patronen vom Kaliber .308 geladen und hervorragend geeignet, Leuten Angst einzujagen. Wenn man eine SR besaß, wollte plötzlich jeder ein Freund sein. Dann war das Töten manchmal nicht einmal mehr nötig.
Durch die abgedunkelten Scheiben des Einsatzwagens, eines Suburban, beobachtete Web jede Menschenansammlung an den Ecken und jede verdächtige Gruppe in den dunkleren Seitenstraßen. Während sie weiter in feindliches Territorium vorstießen, kehrte Webs Blick zur Straße zurück. Er wusste, dass jedes Auto ein getarntes und schwer bewaffnetes Fahrzeug sein konnte. Er suchte nach wachsamen Blicken, einem Kopfnicken oder Fingern, die mit Handys spielten und in Wirklichkeit dem alten Web schweren Schaden zufügen wollten.
Der Suburban bog um eine Ecke und hielt an. Web sah sich zu den sechs anderen Männern um, die neben ihm kauerten. Er wusste, dass ihnen dieselben Gedanken wie ihm durch den Kopf gingen: schnell und ohne Schwierigkeiten nach draußen gelangen, Stellung beziehen und ein möglichst großes Schussfeld im Auge behalten. Angst war kein Faktor in dieser Gleichung. Es kam darauf an, die Nerven zu behalten. Hoch konzentriertes Adrenalin war ein gefährliches Gift, weil es sehr schnell töten konnte.
Web atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er musste seinen Puls auf sechzig bis siebzig runterkriegen. Bei fünfundachtzig Schlägen pro Minute zitterte die Waffe, selbst wenn man sie an den Körper presste; bei neunzig konnte man nicht mehr den Abzug betätigen, weil der Blutstau in den Adern und die Verspannung in Schultern und Armen das verhinderten. Bei über einhundert Schlägen pro Minute verlor man jede Feinmotorik und war nicht mehr in der Lage, einen Elefanten auf einen Meter Entfernung mit einer Kanone zu treffen. Wenn es so weit kam, konnte man sich genauso gut ein Schild mit der Aufschrift ERSCHIESST MICH auf die Stirn pappen, weil dieses Schicksal unausweichlich geworden war. Web schob die Unruhe beiseite und destillierte Gelassenheit aus dem brodelnden Chaos.
Der Suburban setzte sich wieder in Bewegung, bog um eine weitere Ecke und hielt an. Web wusste, dass es das letzte Mal war. Die Funkstille wurde gebrochen, als Teddy Riner in sein Knochenmikrofon sprach, das auch als »Mic« bezeichnet wurde. »Charlie an TOC«, sagte Riner, »erbitten Einsatzfreigabe und Erlaubnis, auf Gelb zu gehen.«
Über sein Mic hörte Web die knappe Antwort des Tactical Operations Center, der Taktischen Einsatzzentrale. »Verstanden, Charlie Eins, halten Sie sich bereit.« Nach der in Webs Welt gültigen Farbenlehre bezeichnete »Gelb« die letzte Deckungsposition.
»Grün« war die kritische Zone, der Augenblick der Wahrheit, der Durchbruch. Während sie sich auf dem heiligen Boden bewegten, der sich zwischen der relativen gelben Sicherheit und der grünen Wahrheit erstreckte, konnte sehr viel geschehen. »Einsatzfreigabe « - Web ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Damit wurde die Erlaubnis eingeholt, notfalls Menschen erschießen zu dürfen, obwohl es klang, als würde man seinen Chef fragen, ob man eine Maurerkolonne auf die Baustelle schicken durfte. Wieder wurde die Funkstille gebrochen, als die Einsatzzentrale durchgab:
»TOC an alle Einheiten, Sie haben Einsatzfreigabe und Erlaubnis, auf Gelb zu gehen.« Allerherzlichsten Dank, liebes TOC. Web rückte ein Stück näher an die Hecktüren des Suburban heran. Er bildete die Vorhut und Roger McCallam war die Nachhut. Jim Davies war der Pionier und Riner der Anführer der Gruppe. Big Cal Plummer und die zwei weiteren Kämpfer, Lou Patterson und Danny Garcia, standen bereit. Sie waren mit MP-5-Maschinengewehren, Blendgranaten, 45er-Pistolen und absoluter Ruhe ausgerüstet. Sobald sich die Tür öffnete, würden sie ausschwärmen und nach Bedrohungen aus jeder Richtung Ausschau halten. Sie würden sich gebückt und mit angewinkelten Knien vorwärts bewegen, um den Rückstoß aufzufangen, falls sie feuern mussten. Webs Gesichtsmaske schränkte sein Sichtfeld auf das absolut notwendige Maß ein. Das war sein Miniatur-Breitwandkino, auf dem sich das Chaos der realen Welt abspielen würde, Eintrittskarten inbegriffen.
Er sah, wie Danny Garcia sich bekreuzigte, was er vor jedem Einsatz tat. Und Web sagte darauf dasselbe, was er jedes Mal sagte, wenn Garcia sich bekreuzigte, kurz bevor die Türen des Chevys aufsprangen. »Gott weiß ganz genau, warum er sich hier nicht blicken lässt, Danny-Boy. Von ihm können wir keine Hilfe erwarten. « Er sagte es jedes Mal in scherzhaftem Tonfall, aber es war nicht als Scherz gemeint.
Von nun an mussten Handzeichen genügen. Wenn einem die Kugeln um die Ohren flogen, neigte man ohnehin nicht zur Geschwätzigkeit. Während der Arbeit sprach Web kaum ein Wort. Fünf Sekunden später sprangen die Türen auf, und die Gruppe stürmte nach draußen in die Nacht.
Sie waren viel zu weit vom Einsatzort entfernt. Normalerweise fuhren sie direkt bis zum Ziel und sprengten sich den Weg frei, aber in diesem Fall war die Logistik etwas komplizierter. Verlassene Autos, abgeladene Kühlschränke und andere sperrige Gegenstände blockierten den direkten Zugang.
Jetzt meldeten sich die Scharfschützen vom X-Ray-Team über Funk. Ein Stück weiter befanden sich Menschen auf der Straße, aber sie gehörten nicht zu der Gruppe, auf die Web Jagd machte. Zumindest machte es nicht den Eindruck. Aber man wusste ja nie. Geduckt rannten Web und das Charlie-Team die Straße entlang. Die sieben Mitglieder des Hotel-Teams waren von einem Wagen auf der gegenüberliegenden Seite des Blocks abgesetzt worden, um das Ziel von links hinten anzugreifen. Der Plan sah vor, dass Charlie und Hotel sich irgendwo mitten in dieser Kampfzone trafen, die sich als Wohnviertel tarnte.
Webs Leute bewegten sich jetzt in östlicher Richtung, dicht gefolgt von einem aufziehenden Sturm. Blitz, Donner, Wind und horizontaler Regen waren ein erheblicher Störfaktor für die direkte Kommunikation, die taktische Positionierung und die Nerven der Männer, vor allem während des kritischen Zeitpunkts, wenn alles perfekt funktionieren musste. Die hochgezüchtete Technik nützte ihnen überhaupt nichts; sie konnten nur auf die schlechte Laune von Mutter Natur reagieren, indem sie schneller rannten. Sie liefen die Straße entlang, einen schmalen Asphaltstreifen voller Schlaglöcher und Müll. Links und rechts erhoben sich Gebäude, deren Verputz nach jahrzehntelangen Schießereien pockennarbig geworden war. Bei einigen Gefechten war es um die Guten gegen die Bösen gegangen, doch die meisten hatten zwischen jungen Männern stattgefunden, die um Drogenreviere, Frauen oder einfach so gekämpft hatten. Hier war jeder ein Mann, der eine Waffe hatte - auch wenn er eigentlich noch ein Kind war, das nach den Zeichentrickserien am Samstagmorgen nach draußen lief und fest daran glaubte, dass ein erschossener Spielkamerad anschließend wieder aufstehen und weiterspielen würde ...
Sie erreichten die Gruppe, die die Scharfschützen beobachtet hatten. Es waren Schwarze, Latinos und Asiaten, alles Drogendealer, die sich nun erschrocken umdrehten. Offensichtlich überwand die Aussicht auf einen starken Kick und unkomplizierte Bargeschäfte alle Barrieren von Rasse, Hautfarbe, Religion oder politischen Tendenzen. Es war erstaunlich, dass dieser armselige Haufen von Verlierern überhaupt genügend Energie und Verstand aufbrachte, um die simple Transaktion geistig zu verarbeiten, kleine Päckchen mit Hirnverätzern, die notdürftig als Glücksbringer getarnt waren, gegen Bargeld zu tauschen und sich obendrein selbst daran zu vergiften.
Angesichts der Ehrfurcht gebietenden Front aus Waffen und Kevlar fielen alle Junkies bis auf einen auf die Knie und bettelten darum, nicht erschossen oder verhaftet zu werden. Web konzentrierte sich auf den einzigen jungen Mann, der stehen geblieben war. Er hatte sich ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, das seine Zugehörigkeit zu irgendeiner Gang demonstrierte. Der Junge hatte eine Taille wie ein Tänzer und Schultern wie eine Hantel. Eine abgeranzte Turnhose hing ihm tief im Schritt und ein ärmelloses Shirt spannte sich um seinen muskulösen Oberkörper. Außerdem stand eine himmelhohe Überheblichkeit in seinen Gesichtszügen, als wollte er sagen: Ich bin schlauer und härter als ihr und ich werde euch alle überleben. Web musste stillschweigend anerkennen, dass ihm der Rapperlook sehr gut stand.
Es dauerte dreißig Sekunden, bis sie festgestellt hatten, dass alle bis auf den Jungen mit dem roten Kopftuch bedröhnt und unbewaffnet waren. Sie suchten nicht nur nach Waffen, sondern auch nach Handys, mit denen sie jemanden warnen konnten. Der Junge mit dem Kopftuch trug ein Messer bei sich, aber damit hatte er keine Chance gegen Kevlar und Maschinenpistolen. Also ließen sie ihm das Ding. Aber als das Charlie-Team weiterstürmte, folgte Cal Plummer den anderen im Rückwärtsgang und hielt die Straßenhändler mit seiner MP-5 in Schach, für alle Fälle. Der Junge rief ihnen etwas hinterher: dass er von Webs Gewehr beeindruckt sei und es kaufen wolle. Er würde ihnen einen guten Preis machen und anschließend würde er Web und alle anderen damit abknallen. Ha-ha! Web blickte zu den Dächern hinauf, wo die Leute vom Whiskey- und X-Ray-Team ihre Schusspositionen bezogen hatten, die Junkies fest im Visier. Die Scharfschützen waren Webs beste Freunde. Er wusste genau, wie sie an ihre Aufgaben herangingen, weil er viele Jahre lang selbst einer von ihnen gewesen war.
Web hatte mehrere Monate am Stück in dampfenden Sümpfen gelegen, während ständig Wassermokassinschlangen über ihn hinweggekrochen waren. Oder er hatte sich in enge Felsspalten gezwängt, durch die ein eiskalter Wind pfiff, das Lederpolster des maßgefertigten Gewehrkolbens fest an die Wange gepresst und durch das Zielfernrohr gestarrt, um das Gelände zu erkunden und zu sichern. Als Scharfschütze hatte er viele wichtige Fähigkeiten entwickelt, zum Beispiel, wie man lautlos in eine Konservendose pinkelte. Andere Lektionen hatten darin bestanden, sein Essen in geeigneten Portionen abzupacken, damit er sich auch in totaler Finsternis Kohlenhydrate zuführen konnte, und seine Patronen so bereitzulegen, dass er optimal nachladen konnte. Er arbeitete nach strengen Methoden, die sich immer wieder bewährt hatten. Nicht dass er irgendwelche dieser einzigartigen Talente auf den privaten Bereich übertragen konnte, aber Web führte ohnehin kaum ein Privatleben.
Das Leben eines Scharfschützen hing immer zwischen zwei Extremen. Man stand vor der Aufgabe, die beste Schussposition zu finden, bei der man selbst möglichst gut gedeckt war, und diese beiden Anforderungen waren manchmal einfach nicht in Einklang zu bringen. Stunden, Tage, Wochen oder sogar Monate verbrachte man mit Nichtstun, während die Langeweile an der Moral nagte, bis urplötzlich alles von einem gefordert wurde, in einer rasenden Abfolge von Augenblicken, die aus einem Ansturm wilder Schießerei und totaler Verwirrung bestand. Wenn man entschied, einen Schuss abzugeben, bedeutete das, dass jemand sterben würde, und man war sich niemals sicher, ob der eigene Tod eine Rolle in dieser Gleichung spielte oder nicht.
Web konnte diese Bilder jederzeit wie Schnappschüsse aus seinem Gedächtnis abrufen. Die aufblitzenden Erinnerungen waren äußerst lebhaft. Fünf Hohlspitzgeschosse warteten im Magazin darauf, in einer Salve freigesetzt zu werden und sich mit doppelter Schallgeschwindigkeit in einen Widersacher zu bohren, wenn Webs Finger den Abzug durchdrückte. Sobald jemand in sein Schussfeld geriet, würde Web feuern und ein Mensch würde sich plötzlich in eine Leiche verwandeln. Die wichtigsten Schüsse jedoch, mit denen Web als Scharfschütze zu tun gehabt hatte, waren jene gewesen, die er nicht abgefeuert hatte. So war es in diesem Job. Es war kein Job für Leute mit schwachen Nerven oder für geistig Arme, nicht einmal für Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz.
Web bedankte sich stumm bei den Scharfschützen, die dort oben die Stellung hielten, und lief weiter die Straße entlang. Als Nächstes stießen sie auf ein Kind, einen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, der ohne Hemd auf einem Betonbrocken saß, und weit und breit kein Erwachsener in der Nähe. Der aufziehende Sturm hatte die Temperatur um mindestens zehn Grad gesenkt und das Quecksilber fiel weiter. Trotzdem trug der Junge kein Hemd. Web fragte sich, ob er jemals eins trug. Er hatte schon viele Kinder erlebt, die in Armut lebten. Web hielt sich keineswegs für einen Zyniker, aber er war Realist. Diese Kinder taten ihm leid, aber er konnte nichts tun, um ihnen zu helfen. Und heutzutage musste man überall mit Gefahren rechnen, also suchte sein Blick automatisch den Körper des Jungen ab, ob er eine Waffe bei sich trug. Glücklicherweise fand er nichts. Web wäre es unangenehm gewesen, auf ein Kind schießen zu müssen.
Der Junge sah ihn unverwandt an. Im flackernden Schein der einzigen Straßenlampe, die aus irgendeinem Grund noch funktionierte, zeichnete sich die Gestalt des Kindes überdeutlich ab. Web bemerkte den zu schlanken Körper und die bereits verhärteten Muskeln in Armen und Schultern und an den hervortretenden Rippen, die an die Rindenwucherung über einer alten Verletzung eines Baumes erinnerten. Auf der Stirn des Jungen verheilte ein Messerschnitt. Ein runzliges Loch in der linken Wange rührte von einer Kugel her - daran gab es für Web keinen Zweifel.
»Donnerhall«, sagte der Junge mit erschöpfter Stimme, dann lachte er. Es war eher ein meckerndes Lachen. Die Worte und das Lachen klangen in Webs Kopf wie angeschlagene Becken nach, aber er hatte keine Ahnung, warum. Er spürte sogar ein Kribbeln auf der Haut. Er hatte schon viele Kinder gesehen, für die es keine Hoffnung gab, aber dieses Mal ging in seinem Kopf etwas vor sich, das er nicht einschätzen konnte. Vielleicht machte er diesen Job schon zu lange, obwohl jetzt alles andere als der geeignete Zeitpunkt war, um darüber nachzudenken.
Webs Finger verharrte in der Nähe des Abzugs, während er an der Spitze der Gruppe mit federnden Schritten weiterlief und versuchte, das Bild des Jungen aus seinem Kopf zu verdrängen. Obwohl er selbst sehr schlank war und nicht über imposante Muskeln verfügte, steckte eine enorme Kraft in seinen von Natur aus breiten Schultern, den langen Armen und starken Fingern. Und er war mit Abstand der schnellste Mann der Gruppe und verfügte zudem über eine beeindruckende Ausdauer. Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer - das war es, wofür sein muskulöser Körper trainiert war.
Patronen durchdrangen Muskeln genauso mühelos wie Fett. Aber das Blei konnte einem keine Schmerzen zufügen, wenn es einen nicht traf. Ein massiger Mann von eins achtzig, so hätte ihn jeder beschrieben, der ihn sah. Zumindest früher. Heute konzentrierten sich die meisten ganz auf den Zustand seiner linken Gesichtshälfte, beziehungsweise dessen, was davon noch übrig war. Wenngleich erstaunlich war, wie gut sich heutzutage zerstörte Körperteile rekonstruieren ließen. Bei günstiger Beleuchtung war fast nichts mehr von dem alten Einschusskrater zu bemerken, der durch einen wiederaufgebauten Wangenknochen und sorgsam verpflanztes Hautgewebe eingeebnet worden war. Wirklich beeindruckend, hatten
alle gesagt. Alle bis auf Web.
Am Ende der Straße hielt die Gruppe wieder an und ging geduckt zu Boden. Direkt neben Web hockte Teddy Riner. Über sein drahtloses Knochenmikrofon kommunizierte Riner mit der Einsatzzentrale und meldete, dass Charlie auf Gelb stand und die Erlaubnis benötigte, auf Grün zu gehen - die »kritische Zone« zu betreten, was in diesem Fall lediglich eine fantasievolle Bezeichnung für die Haustür war. Web hielt die SR75 mit einer Hand fest und tastete nach seiner maßgefertigten 45er, die in einem Halfter tief an seinem rechten Bein steckte. Eine identische Pistole hing an der kugelsicheren Weste, die seinen Brustkorb schützte, und auch diese berührte er während des kurzen Rituals unmittelbar vor dem Angriff.
Web schloss die Augen und stellte sich vor, wie die nächste Minute ablaufen würde. Sie würden zur Tür stürmen, Davies an der Spitze, damit er den Sprengsatz anbringen konnte. Die anderen würden ihre Blendgranaten locker in der schwachen Hand halten. Die Maschinenpistolen wären entsichert und die ruhigen Finger würden sich von den Abzügen fernhalten, bis die Zeit zum Töten gekommen war. Davis würde die mechanischen Sicherungen von der Kontrolleinheit entfernen und die Zündschnur überprüfen, die zum Sprengstoff führte. Er würde nach Problemen suchen und hoffen, dass er keine fand. Riner würde die unsterblichen Worte »Charlie auf Grün« an die TOC übermitteln, die wie immer mit »Bereithalten, wir haben die Kontrolle« antworten würde. Web ärgerte sich jedes Mal über diesen Satz, denn wer hatte wirklich die Kontrolle über das, was sie taten?
In seiner gesamten Karriere hatte Web noch nie erlebt, dass die Taktische Einsatzzentrale das Ende des Countdown erreichte. Bei »zwei« würden die Scharfschützen das Feuer auf die Ziele eröffnen und ein Hagel aus gleichzeitig abgefeuerten 3o8ern war ziemlich laut. Dann ging der Sprengsatz hoch, bevor TOC »eins« sagen konnte, und von diesem Dezibel-Hurrikan wurden sogar die eigenen Gedanken übertönt. Wenn man jemals hörte, wie die Zentrale den Countdown beendete, steckte man in großen Schwierigkeiten, denn das bedeutete, dass die Sprengladung nicht gezündet hatte. Und das war ein ziemlich miserabler Anfang für einen Arbeitstag. Wenn die Tür aufgesprengt war, würden Web und sein Team in das Zielobjekt eindringen und ihre Blendgranaten werfen. Diese Bezeichnung war treffend gewählt, weil der Blitz jeden Anwesenden vorübergehend blind machte. Außerdem würde der Knall jedes ungeschützte Trommelfell platzen lassen. Wenn sie auf weitere verriegelte Türen stießen, würden sie sich entweder öffnen, nachdem Davies mit seiner Schrotflinte »angeklopft« hatte oder nachdem sie ihre »Eintrittskarte« zum Einsatz gebracht hatten - einen Streifen, der wie ein Stück Reifengummi aussah, aber einen C4-Sprengsatz enthielt, dem praktisch keine Tür standhalten konnte. Sie würden nach eingeübten Manövern vorgehen, gezielt ihre Hände und Waffen einsetzen, präzise Schüsse abfeuern und ihre Handlungen wie Schachzüge planen. Die Kommunikation fand ausschließlich über Berührungen statt. Die kritischen Faktoren ausschalten, eventuelle Geiseln lokalisieren und sie schnell und lebend in Sicherheit bringen. Nur an den eigenen Tod dachten sie niemals. Das beanspruchte zu viel Zeit und Energie, die sie für ihre Aufgabe benötigten. Es beeinträchtigte die elementaren Instinkte und Fertigkeiten, die sie durch ständige Übung geschärft hatten, bis sie zu einem Teil ihrer Persönlichkeit geworden waren.
Zuverlässigen Quellen zufolge befand sich im Gebäude, das sie stürmen sollten, die komplette Finanzverwaltung eines großen Drogenkonzerns, der seine Zentrale in der Hauptstadt hatte. Zur potenziellen Beute des heutigen Tages gehörten Buchhalter und Erbsenzähler, die zu wertvollen Zeugen für die Regierung werden konnten, wenn es Web und seinen Männern gelang, sie lebend herauszuholen. So hatte die Bundespolizei mehrere Ansätze, um die Köpfe der Organisation straf- und zivilrechtlich zu verfolgen.
Selbst Drogenkönige fürchteten sich vor einer gründlichen Prüfung durch das Finanzamt, weil die Bosse nur selten Steuern an Onkel Sam abführten. Deshalb hatte man Webs Team zum Einsatz gerufen. Sie waren darauf spezialisiert, Leute zu töten, die es verdient hatten, aber sie waren auch verdammt gut darin, andere Leute am Leben zu lassen. Zumindest so lange, bis diese Leute eine Zeugenaussage machen konnten, um sich für einen längeren Zeitraum ein wesentlich größeres Übel vom Hals zu halten. Wenn sich die Zentrale zurückmeldete, würde der Countdown beginnen: »Fünf, vier, drei, zwei ...«
Web öffnete die Augen und sammelte sich. Er war bereit. Sein Puls lag bei vierundsechzig. Web wusste es ganz genau. Okay, Jungs, gleich stoßen wir zur Goldmine vor. Holen wir es uns! Erneut meldete sich die Taktische Einsatzzentrale über seinen Kopfhörer und gab das Okay, durch die Vordertür zu stürmen. Und genau in diesem Moment erstarrte Web London. Seine Gruppe verließ die Deckung und ging auf Grün, stieß in die kritische Zone vor - nur Web nicht. Es war, als würden seine Gliedmaßen nicht mehr zu seinem Körper gehören - als würde man einschlafen und auf einem Arm oder Bein liegen, bis man aufwachte und feststellte, dass dieser Körperteil von der Blutzirkula tion abgeschnitten war. Es schien keine Angst oder plötzliche Nervenschwäche zu sein, dazu hatte Web diesen Job schon zu lange gemacht. Trotzdem konnte er nur reglos zusehen, wie das Charlie- Team angriff.
Dieser Hinterhof war als letzte größere Gefahrenzone unmittelbar vor dem kritischen Punkt identifiziert worden. Die Männer beschleunigten ihren Vorstoß und blickten sich nach allen Seiten um, ob es irgendwo das leiseste Anzeichen für Widerstand gab. Keiner von ihnen schien zu bemerken, dass Web nicht bei ihnen war.
Sein Körper war schweißüberströmt, als er seine Muskeln gegen das ankämpfen ließ, was ihn zurückhielt. Web schaffte es, sich langsam zu erheben und zögernd ein paar Schritte zu gehen. Seine Füße und Arme schienen in Bleimanschetten zu stecken, sein Körper brannte und sein Kopf drohte zu platzen, als er sich wankend ein Stück weiter vorwagte. Er erreichte den Hof, dann ließ er sich zu Boden fallen, während sich sein Team weiter von ihm entfernte. Er blickte auf und sah noch, wie Charlie den Angriff fortsetzte, das Ziel in Sichtweite. Es schien sie noch etwas näher heranlocken zu wollen, damit sie sich holen konnten, was sie haben wollten. Es waren noch fünf Sekunden bis zum Ziel. Diese fünf Sekunden sollten Web Londons Leben für immer verändern.
Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
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Bibliographische Angaben
- Autor: David Baldacci
- 2011, 1, 1118 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005714
- ISBN-13: 9783868005714
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