Der Alchemist von London
Wo sich Drachen tummeln und Menschen zu Stein werden, verfolgt ein dunkler Magus einen teuflischen Plan. Er hat Jack als Gehilfen auserwählt, und Jack ist der Einzige, der sein Vorhaben vereiteln kann.
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Produktinformationen zu „Der Alchemist von London “
Wo sich Drachen tummeln und Menschen zu Stein werden, verfolgt ein dunkler Magus einen teuflischen Plan. Er hat Jack als Gehilfen auserwählt, und Jack ist der Einzige, der sein Vorhaben vereiteln kann.
Die Hitze verschlägt Jack den Atem. Im Labor des Magiers lodert ein mächtiges Feuer, zwei Jungen betätigen einen überdimensionalen Blasebalg. Gefäße mit Köpfen und Gliedmaßen darin reihen sich auf den Regalen, in den Reagenzgläsern brodelt es. Der Magus wirft eine Handvoll Staub ins Feuer, und plötzlich erscheint seine Vision einer goldenen Stadt: London Bridge, St. Pauls Kathedrale, die Themse - alles aus Gold. Der dunkle Magus ist seinem Ziel so nah wie nie. Allein die Kräfte des Auserwählten Jack fehlen ihm, um seinen heimtückischen Plan in die Tat umzusetzen. Mit seinem untrüglichen Gespür für Gut und Böse stellt sich Jack dem Magier entgegen. Doch wird er den bösen Alchemisten aufhalten und London retten können? Mit jeder Zeile dieses Buches stellt Jeanette Winterson ihre Lust am Erzählen unter Beweis: Der Alchemist von London ist ein Feuerwerk ihrer Fabulierkunst und ihrer unbändigen Fantasie.
Lese-Probe zu „Der Alchemist von London “
Der Alchemist von London von Jeanette Winterson Für meine Patenkinder, Eleanor und Cara Shearer, die das alles ermöglicht haben, und für mich, vor langer Zeit. Wuff!
Am vierzehnten August 1601 tauchte der Wächter der Gezeiten sein Netz in die Themse und zog einen goldenen Fisch heraus.
DIE UHR SCHLÄGT ZWÖLF
... mehr
Es begann, wie alle wichtigen Dinge beginnen per Zufall. Es war um die Mittagszeit. Die Themse wimmelte von Booten aller Art: Ruderboote, Segelboote, Schneckenfischerboote, Jollen, Flutboote, Austernfischerboote, Lastkähne, Boote so einfach wie Untertassen flach und mit gerade genug Platz für eine Katze darin. Große vergoldete Boote, geschmückt, genietet, gepolstert, in Samt und Purpur, stolz und mit wehenden Fahnen und Wimpeln. Boote mit Baumstämmen im Schlepptau, Fischerboote, in denen ein Junge winkend am Mast lehnte, hoch über dem Wogen und Branden der Gezeiten. Und die Boote kamen aus allen Richtungen und schipperten auch durch die Mitte, so dass es kein Flussaufwärts und kein Flussabwärts gab, nur ein Strom von Booten, eine Flut von Booten, ein Bootskuddelmuddel, einander ausweichende, einander streifende Boote. Die Boote kamen sich manchmal so nah, dass ein Mann, der sich gerade eine Wurst in den Mund schieben wollte, aus Versehen eine Frau an den Rudern eines vorbeifahrenden Schneckenfischerbootes damit fütterte. Die Sonne stand über dem Fluss, und alles schien an jenem Tag heller zu leuchten als sonst. Selbst die abgeschlagenen Köpfe der Verräter, die auf langen Pfählen auf dem Torbogen des Stadttors von Temple Bar gespießt waren, sahen aus wie Blütenknospen kurz vorm Erblühen. Jack hatte das Gefühl, einer der Köpfe würde ihn direkt ansehen, aber bestimmt hatte ihn nur die Sonne geblendet. Jack. Er hörte, wie die Uhr zu Mittag schlug. Es war nämlich so, dass Jack heute selbst zwölf schlug, genau wie das Mittagsläuten. Der 14. August war sein Geburtstag, und er wurde heute zwölf Jahre alt. Er zählte die Schläge, neun, zehn, elf, zwölf. Zwölf Jahre im Jahr des Herrn 1601. Jack rannte los und drängte sich im Zickzack zwischen den Kaufleuten und Händlern am Flussufer hindurch. Er war groß für sein Alter, und seine Mutter hatte ihm schon jetzt eine Stelle als Lehrling bei einem Drucker und Buchbinder besorgt. Dort würde er zusammen mit einem halben Dutzend anderer Jungen wohnen und sieben Jahre lang seinem Meister dienen. Dies alles begann erst morgen, denn zunächst würde er einen Spaniel zum Geburtstag geschenkt bekommen. Er wusste von dem Spaniel, er hatte den Spaniel schon gesehen, er hatte dem Spaniel schon einen Namen gegeben. Max. Max Max Max! Der Beste aus einem Wurf von vier Welpen und ein Hund ganz für Jack allein. An jenem Tag kreisten Jacks Gedanken um den Spaniel, um nichts als den Spaniel. Er vergaß zu essen und zu trinken, er vergaß die Schule, er vergaß die zu einem Ball aufgepustete Schweineblase, die er und seine Freunde durch halb London getreten hatten. Vor seinem inneren Auge sah Jack einen Spaniel, schwarz wie die Nacht, mit Augen wie Sterne und Ohren so weich wie der Schlaf. An jenem Tag war Jack selbst schon so sehr Spaniel, dass er fast auf allen vieren gerannt wäre, nur um schneller nach Hause zu kommen. Zuhause, das war in dem großen, zwischen der Straße The Strand und der Themse gelegenen Haus. Alle nannten es Haus Pegelstand, auch wenn keiner genau wusste, wieso, und es gehörte Sir Roger Rover, einem Mann mit grünen Augen und rotem Bart, von dem es hieß, er sei Pirat, doch wenn das stimmte, musste er wohl ein sehr guter Pirat sein, denn die Königin war ihm wohlgesinnt und schickte ihn oft in privater Sache zur See. In diesem Haus arbeitete Jacks Mutter Anne als Haushälterin, und Jack machte sich in den Ställen nützlich, holte Wasser, polierte Zaumzeug und fegte den Hof für die vielen Besucher, die, vom Strand kommend, klappernd durch den großen Bogen ritten. Es war ein vornehmes Haus, ein prächtiges Haus, dessen Garten zum Fluss hinunterführte, und Jack war gerade auf dem Weg durch dieses Wassertor und diesen Garten, als ... es geschah. Zwei gedrungene Männer in Umhängen, schwarzen Stiefeln und schwarzen Mützen warteten zu beiden Seiten des Wassertors. Als Jack keuchend hindurchtrat, packten ihn die Männer, verdrehten ihm die Arme auf dem Rücken, warfen ihm einen löchrigen Sack über den Kopf und stießen ihn in ein bereitstehendes Boot. »Ist er das?« »Das ist er, so wahr ich Zunge und ein Ohr habe.« Der Komplize lachte. »Wenn er nicht der Richtige ist, hast du Zunge und ein Ohr, aber nicht mehr zusammen an ein und demselben Kopf.« »Halt den Mund, du Wasserratte. Gib ihm den Trank.« Der Mann zog Jack den Kopf in den Nacken und öffnete ihm wie einem Hund mit den Fingern den Mund. Der andere Kerl goss ihm etwas Zähflüssiges in den Rachen. Jack spuckte, hustete und würgte, aber einiges davon schluckte er doch hinunter. Es schmeckte bitter. Es war grobkörnig. Es schmeckte wie Asche oder fein gemahlene Austernschalen vermischt mit Essig. Die Männer steckten Jack in einen engen Verschlag im Heck eines Bootes. Es war ein Geflügelboot, an dessen einem Ende eine große Kiste aus Holzlatten stand, in der Hühner zum Markt transportiert wurden. Jack spähte durch den löchrigen Sack und die Latten hindurch; das Boot wurde hastig in östliche Richtung gerudert. Jack wollte schreien, aber es ging nicht, denn ihm war schwindlig, und er sah nur noch, wie die Boote auf dem Fluss nicht mehr auf und ab, sondern im Kreis herumfuhren, immer im Kreis und immer im Kreis und immer im Kreis, wie ein Karussell. Jack fühlte sich ganz benommen, als würde sich die Welt am Ende der Zeit langsam aufhören zu drehen. Er sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf an einem schwarzen Ort. Schweigend ruderten die Männer weiter. Einer zündete sich eine Lehmpfeife an. Als das Boot die Anlegestelle erreichte, liefen mehrere grau gekleidete Dienstboten herbei, um es in Empfang zu nehmen. Jack wurde aus dem Verschlag gezerrt, das Boot und die beiden Männer darin ruderten weiter und entfernten sich in Richtung des Hafens von Limehouse. Die Dienstboten brachten Jack hinunter, immer weiter und weiter hinunter. Sie legten ihn nieder und gingen. Mehr war nicht zu tun. Zuhause war sein kleiner Spaniel untröstlich und lief auf und ab, ab und auf, blieb in einer Zimmerecke stehen und jaulte. Jacks Mutter stand am Wassertor und hatte eine dunkle Ahnung, ihr Instinkt sagte ihr, dass ihr Sohn zwar am Leben, aber in Gefahr war. »Er ist ein Junge, er ist hingefallen, er isst Äpfel, er hat einen Freund getroffen«, sagte der Stallknecht und fragte sich, warum Frauen sich immer wegen alberner Kleinigkeiten den Kopf zerbrechen mussten, statt ihren Verstand zu benutzen. »Er hätte mittags hier sein müssen«, sagte Jacks Mutter, »und wenn er um Mitternacht noch immer nicht hier ist, gehe ich ihn suchen.« »Und wie willst du das anstellen«, fragte der Stallknecht und lachte sie aus, »in dieser Stadt London, die von Menschen nur so wimmelt, mit ihren Gassen und Gasthäusern, Landstraßen und Seitenstraßen, Herbergen und Höhlen, wie willst du, eine Frau, einen einzelnen verschollenen Jungen finden?« Aber Jacks Mutter wusste genau, wie sie ihren Sohn finden würde. Sie ging hinauf in ihr Zimmer, öffnete eine kleine Tür in der Wand und holte einen Lederbeutel hervor, in dem sich etwas befand.
DER FISCH OHNE FLOSSEN
Jack erwachte. Es war dunkel. Aber was genau war eigentlich so dunkel? Jack hatte das Gefühl, im Innern eines sehr großen Tieres zu sein, und er musste an die Geschichte von Jona und dem Wal denken und fragte sich, ob das Boot auf dem Fluss gesunken und von einem riesigen Fisch verschluckt worden war. Als Jack die Hand zur Nase führte, konnte er seine Nase spüren, aber seine Hand nicht vor Augen sehen so dunkel war die Dunkelheit. Reglos lag er da. Er versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Zwei Männer ... das Boot ... Jack tastete den Boden ab; er schien aus hartem, glattem Stein zu sein. Er spitzte die Ohren; alles klang gedämpft wie ein Flüstern. Er hörte ein Plätschern. Er hatte keine Ahnung, wie es im Bauch eines Wals aussah, aber womöglich genau so. Wenn dies eine Art Zimmer war, musste es ja Wände geben, aber Jack konnte keine erkennen, nicht einmal jetzt, als er blind und auf allen vieren herumkroch, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, das er aus seinem alten Leben kannte. Es fühlte sich an wie ein anderes Leben; alles, was vor dem Moment gewesen war, als er an diesem schwarzen Ort die Augen aufgeschlagen hatte, fühlte sich an wie ein anderes Leben. Seine Mutter sie machte sich bestimmt Sorgen. Sein Spaniel, sein neuer Spaniel, den er zwischen seinen drei Brüdern und Schwestern auf einem Haufen Säcke gesehen hatte, war ihm für heute versprochen worden. Es war doch noch derselbe Tag, oder? Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Beim Herumkriechen, den Kopf voran wie ein Hund, stieß Jack gegen etwas Grobes, Baumelndes. Er tastete danach; es war ein Seil. Erst behutsam, dann mit aller Kraft zog Jack daran wie an der großen Glocke in der Kirche. Das Seil hielt. Jack richtete sich daran auf und hängte sich mit seinem vollen Gewicht an das Seil und baumelte knapp über dem Boden. Das Seil hielt. »Ich klettere jetzt daran hoch«, sagte Jack laut. Er war ein guter Kletterer, kraftvoll und geschmeidig, und er kletterte und kletterte, rechte Hand, linke Hand, presste die Füße aufeinander, das Seil zwischen beiden Beinen. Er kletterte und kletterte, ohne zu merken, dass er müde wurde. Was er jedoch merkte, war, dass das Seil jetzt nass war. Nicht feucht, sondern klatschnass. Er kletterte durch Wasser, was eigentlich unmöglich war, denn er atmete ganz normal weiter. Es war, als wäre er ein Fisch in seinem Element. Bin ich jetzt ein Fisch?, dachte Jack. Bin ich von einem Fisch verschluckt und selbst zum Fisch geworden? Dann wurde Jack etwas klar, und es machte ihm große Angst; als Junge kletterte er senkrecht an einem Seil nach oben. Als Fisch wurde er waagerecht an einem Seil durchs Wasser gezogen. Wenn er ein Junge war, kletterte er. Wenn er ein Fisch war, dann war dieses Seil eine Angelschnur und er gefangen. Plötzlich spürte er ein Ziehen von oben und hörte auf zu klettern, aber er hielt sich fest, und während er mit Schwung durch die Wasseroberfläche stieß, rann das Wasser an ihm hinunter, und sein zusammengebundenes Haar löste sich und das Wasser strömte hindurch wie der Fisch, der er selbst war. Ohne Vorwarnung flog Jack über den steinernen Rand eines Brunnens und fiel kopfüber auf das Kopfsteinpflaster eines Innenhofs. Da lag er und schnappte nach Luft sein Mund klappte auf und zu. Er sah ein Paar blankpolierte Reitstiefel und zwei Paar Schuhe aus Stoff. »Sei gegrüßt, mein junger Fisch«, sagte eine Stimme, und dann: »Junge Herren! Endlich seht ihr vor euch den Beginn des Opus. Dies ist ganz sicher der, den wir gesucht haben. Hier ist der Fisch ohne Flossen!« Jack hob den Kopf. Er versuchte aufzustehen, rutschte aber in seiner eigenen Pfütze aus. Der Mann klatschte in die Hände. »William! Robert!« Zwei Jungen in seinem Alter beugten sich hinunter, um Jack aufzuhelfen. Er klopfte sich den Schmutz von den Sachen, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar und wischte sich über die Augen. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, und als er die Hand wegzog, sah er glitzernde Schuppen auf ihr. Er rieb sich über die Hand und sie gingen ab, und seine Haut war wieder so jung und glatt wie eh und je.
Der Mann, der vor ihm stand, wirkte belustigt und reichte Jack sein Taschentuch, damit er sich das Gesicht trocknen konnte. Jack wischte sich über Gesicht und Hals und stopfte das Taschentuch in seine durchnässte Jackentasche. Der Mann sprach. »Willkommen, Adam Kadmon.« »Ich bin nicht Adam«, sagte Jack. »Ich heiße Jack Snap.« »Dennoch ist Adam dein Name.« Der Sprecher war groß, dunkel, bärtig, von unbestimmbarem Alter, nicht jung, nicht alt, vornehm gekleidet, und er trug an jedem seiner Finger einen goldenen Ring. Der Mann gab ein Zeichen und ein Diener wickelte Jack in eine graue Decke. Zitternd hüllte sich Jack ein und betrachtete den Brunnen hinter sich. Es war ein ganz normaler Brunnen in einem Innenhof, wenn auch ohne Eimer und Flaschenzug. Das Seil, an dem er hochgezogen worden war, wand sich um eine Vorrichtung, wie sie Schiffe zum Lichten des Ankers verwenden. Der Brunnen befand sich in einem von hohen Steinmauern umgebenen Hof. Es gab nur eine einzige Tür. »Hier führt kein Weg hinaus«, sagte der Mann, der Jacks Gedanken las, »zumindest keinen solchen, wie du ihn suchst. Wenn deine Arbeit getan ist, kommst du frei, aber dazu musst du erst einmal anfangen.« »Ich soll bei einem Drucker und Buchbinder in die Lehre gehen«, sagte Jack, »und meine Mutter wartet zu Hause auf mich. Lasst mich gehen.« Der Mann lachte. »Ich habe Ozeane überquert, um dich zu finden. Ich bin durch fremde Länder gereist, um dich zu finden. So schnell kommst du mir nicht davon, mein kleiner Fisch.« »Am Grund des Brunnens gab es kein Wasser«, sagte Jack, »und trotzdem war der Brunnen mit Wasser gefüllt. Wie kann das sein?« »In diesem Brunnen ist kein gewöhnliches Wasser«, erwiderte der Mann. »Die Dinge sind hier nicht wie anderswo.« »Wo sind wir hier?«, fragte Jack und sah hinauf zum bleiernen Dach des Gebäudes. Das Haus war wie eine Kirche und doch keine Kirche. Es schien aus Stein und Blei zu sein, was eigenartig war in einer größtenteils aus Holz gebauten Stadt; hölzerne Häuser, Läden und Märkte, Brücken und Werften, Theater und Tavernen, alles aus Holz. London war eine hölzerne Stadt, wie ein Wald, der neu erbaut wurde, um den Menschen ein Zuhause zu sein, und manchmal sprossen Blätter an Stellen, wo das Holz noch lebendig war. Dieses Haus aber fühlte sich nicht so an, als wäre jemals etwas darin lebendig gewesen. »Dies ist das dunkle Haus«, sagte der Mann. »Komm herein ...«
Aus dem Englischen von Monika Schmalz
DER FISCH OHNE FLOSSEN
Jack erwachte. Es war dunkel. Aber was genau war eigentlich so dunkel? Jack hatte das Gefühl, im Innern eines sehr großen Tieres zu sein, und er musste an die Geschichte von Jona und dem Wal denken und fragte sich, ob das Boot auf dem Fluss gesunken und von einem riesigen Fisch verschluckt worden war. Als Jack die Hand zur Nase führte, konnte er seine Nase spüren, aber seine Hand nicht vor Augen sehen so dunkel war die Dunkelheit. Reglos lag er da. Er versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Zwei Männer ... das Boot ... Jack tastete den Boden ab; er schien aus hartem, glattem Stein zu sein. Er spitzte die Ohren; alles klang gedämpft wie ein Flüstern. Er hörte ein Plätschern. Er hatte keine Ahnung, wie es im Bauch eines Wals aussah, aber womöglich genau so. Wenn dies eine Art Zimmer war, musste es ja Wände geben, aber Jack konnte keine erkennen, nicht einmal jetzt, als er blind und auf allen vieren herumkroch, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, das er aus seinem alten Leben kannte. Es fühlte sich an wie ein anderes Leben; alles, was vor dem Moment gewesen war, als er an diesem schwarzen Ort die Augen aufgeschlagen hatte, fühlte sich an wie ein anderes Leben. Seine Mutter sie machte sich bestimmt Sorgen. Sein Spaniel, sein neuer Spaniel, den er zwischen seinen drei Brüdern und Schwestern auf einem Haufen Säcke gesehen hatte, war ihm für heute versprochen worden. Es war doch noch derselbe Tag, oder? Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Beim Herumkriechen, den Kopf voran wie ein Hund, stieß Jack gegen etwas Grobes, Baumelndes. Er tastete danach; es war ein Seil. Erst behutsam, dann mit aller Kraft zog Jack daran wie an der großen Glocke in der Kirche. Das Seil hielt. Jack richtete sich daran auf und hängte sich mit seinem vollen Gewicht an das Seil und baumelte knapp über dem Boden. Das Seil hielt. »Ich klettere jetzt daran hoch«, sagte Jack laut. Er war ein guter Kletterer, kraftvoll und geschmeidig, und er kletterte und kletterte, rechte Hand, linke Hand, presste die Füße aufeinander, das Seil zwischen beiden Beinen. Er kletterte und kletterte, ohne zu merken, dass er müde wurde. Was er jedoch merkte, war, dass das Seil jetzt nass war. Nicht feucht, sondern klatschnass. Er kletterte durch Wasser, was eigentlich unmöglich war, denn er atmete ganz normal weiter. Es war, als wäre er ein Fisch in seinem Element. Bin ich jetzt ein Fisch?, dachte Jack. Bin ich von einem Fisch verschluckt und selbst zum Fisch geworden? Dann wurde Jack etwas klar, und es machte ihm große Angst; als Junge kletterte er senkrecht an einem Seil nach oben. Als Fisch wurde er waagerecht an einem Seil durchs Wasser gezogen. Wenn er ein Junge war, kletterte er. Wenn er ein Fisch war, dann war dieses Seil eine Angelschnur und er gefangen. Plötzlich spürte er ein Ziehen von oben und hörte auf zu klettern, aber er hielt sich fest, und während er mit Schwung durch die Wasseroberfläche stieß, rann das Wasser an ihm hinunter, und sein zusammengebundenes Haar löste sich und das Wasser strömte hindurch wie der Fisch, der er selbst war. Ohne Vorwarnung flog Jack über den steinernen Rand eines Brunnens und fiel kopfüber auf das Kopfsteinpflaster eines Innenhofs. Da lag er und schnappte nach Luft sein Mund klappte auf und zu. Er sah ein Paar blankpolierte Reitstiefel und zwei Paar Schuhe aus Stoff. »Sei gegrüßt, mein junger Fisch«, sagte eine Stimme, und dann: »Junge Herren! Endlich seht ihr vor euch den Beginn des Opus. Dies ist ganz sicher der, den wir gesucht haben. Hier ist der Fisch ohne Flossen!« Jack hob den Kopf. Er versuchte aufzustehen, rutschte aber in seiner eigenen Pfütze aus. Der Mann klatschte in die Hände. »William! Robert!« Zwei Jungen in seinem Alter beugten sich hinunter, um Jack aufzuhelfen. Er klopfte sich den Schmutz von den Sachen, schüttelte sich das Wasser aus dem Haar und wischte sich über die Augen. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, und als er die Hand wegzog, sah er glitzernde Schuppen auf ihr. Er rieb sich über die Hand und sie gingen ab, und seine Haut war wieder so jung und glatt wie eh und je.
Der Mann, der vor ihm stand, wirkte belustigt und reichte Jack sein Taschentuch, damit er sich das Gesicht trocknen konnte. Jack wischte sich über Gesicht und Hals und stopfte das Taschentuch in seine durchnässte Jackentasche. Der Mann sprach. »Willkommen, Adam Kadmon.« »Ich bin nicht Adam«, sagte Jack. »Ich heiße Jack Snap.« »Dennoch ist Adam dein Name.« Der Sprecher war groß, dunkel, bärtig, von unbestimmbarem Alter, nicht jung, nicht alt, vornehm gekleidet, und er trug an jedem seiner Finger einen goldenen Ring. Der Mann gab ein Zeichen und ein Diener wickelte Jack in eine graue Decke. Zitternd hüllte sich Jack ein und betrachtete den Brunnen hinter sich. Es war ein ganz normaler Brunnen in einem Innenhof, wenn auch ohne Eimer und Flaschenzug. Das Seil, an dem er hochgezogen worden war, wand sich um eine Vorrichtung, wie sie Schiffe zum Lichten des Ankers verwenden. Der Brunnen befand sich in einem von hohen Steinmauern umgebenen Hof. Es gab nur eine einzige Tür. »Hier führt kein Weg hinaus«, sagte der Mann, der Jacks Gedanken las, »zumindest keinen solchen, wie du ihn suchst. Wenn deine Arbeit getan ist, kommst du frei, aber dazu musst du erst einmal anfangen.« »Ich soll bei einem Drucker und Buchbinder in die Lehre gehen«, sagte Jack, »und meine Mutter wartet zu Hause auf mich. Lasst mich gehen.« Der Mann lachte. »Ich habe Ozeane überquert, um dich zu finden. Ich bin durch fremde Länder gereist, um dich zu finden. So schnell kommst du mir nicht davon, mein kleiner Fisch.« »Am Grund des Brunnens gab es kein Wasser«, sagte Jack, »und trotzdem war der Brunnen mit Wasser gefüllt. Wie kann das sein?« »In diesem Brunnen ist kein gewöhnliches Wasser«, erwiderte der Mann. »Die Dinge sind hier nicht wie anderswo.« »Wo sind wir hier?«, fragte Jack und sah hinauf zum bleiernen Dach des Gebäudes. Das Haus war wie eine Kirche und doch keine Kirche. Es schien aus Stein und Blei zu sein, was eigenartig war in einer größtenteils aus Holz gebauten Stadt; hölzerne Häuser, Läden und Märkte, Brücken und Werften, Theater und Tavernen, alles aus Holz. London war eine hölzerne Stadt, wie ein Wald, der neu erbaut wurde, um den Menschen ein Zuhause zu sein, und manchmal sprossen Blätter an Stellen, wo das Holz noch lebendig war. Dieses Haus aber fühlte sich nicht so an, als wäre jemals etwas darin lebendig gewesen. »Dies ist das dunkle Haus«, sagte der Mann. »Komm herein ...«
Aus dem Englischen von Monika Schmalz
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Autoren-Porträt von Jeanette Winterson
Jeanette Winterson wurde 1954 in Lancashire, England geboren. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Whitbread Award und dem E. M. Foster Award der Ame rican Academy for Arts and Letters. Jeanette Winterson lebt als freie Schriftstellerin in London
Bibliographische Angaben
- Autor: Jeanette Winterson
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2010, 317 Seiten, Maße: 14,5 x 22,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmalz, Monika
- Übersetzer: Monika Schmalz
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827054079
- ISBN-13: 9783827054074
Rezension zu „Der Alchemist von London “
"Jedem Wort, jeder Figur merkt man an, dass Jeanette Winterson beim Schreiben einen Riesenspaß hatte. Das Buch erstrahlt in der Vorstellungskraft einer endlos erfinderischen Autorin, die sich auf der Höhe ihres Schaffens befindet."The Guardian"Ein Feuerwerk der Fantasie"NZZ, 1.12.2010"Ein virtuos erzählter Jugendroman vor der farbenprächtigen Kulisse des elisabethanischen Londons. Eine echte Alternative zum herkömmlichen Fantasy-Roman."Deutschlandfunk, 21.12. 2010"Jeanette Winterson legt in ihrem jüngsten Roman ein wahres Feuerwerk an Ideen und Fabulierkunst vor."Buchmarkt, September 2010
Kommentar zu "Der Alchemist von London"
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