Der alte Goya
Eine glänzend geschriebene, ergreifende Studie - näher kann man Goya nicht kommen!
Der alteGoya von Julia Blackburn
LESEPROBE
Ich habe mich viele Jahre lang mit Goya beschäftigt. Inmeiner Kindheit gab es eine broschierte Ausgabe seiner Radierungen, die kleinund unauffällig im Atelier meiner Mutter im Regal stand. Der weiße Buchrückenwar gebrochen und teilweise abgerissen und entblößte die Intimität der Heftung,mit der die Seiten zusammenhielten. Auf dem Umschlagbild eine junge Frau, dieauf einem niedrigen Schemel saß und mich oder jeden anderen Fremden mit ihrem herausforderndenBlick musterte. Ihr langes Haar wurde von einer lächelnden Frau gebürstet, diefast im Schatten verschwand, während eine dritte Frau, alt und unheimlich undin weiße Gewänder gekleidet, daneben auf dem Boden kauerte wie ein Haufen bleicherSteine, an ihrem Rosenkranz die Perlen und in ihrem Kopf die gefährlichenGedanken kreisen ließ. Darunter prangte die Signatur des Künstlers, Fran deGoya, in einem leuchtenden Rot, das für mich wie frisches Blut aussah; mit derungestümen Energie eines Kreisels vollführt der Abstrich des a mehrereSchleifen abwärts. Oft holte ich mir heimlich dieses Buch aus dem Regal und verschwanddamit in mein Zimmer. Ich starrte auf das Umschlagbild und versuchte mirauszudenken, welche geheimen Dinge hier passiert waren und weiter passierenwürden. Aufs Geratewohl schlug ich einzelne Seiten auf und ließ die anderen geheimnisvollen,im Augenblick des Betrachtens unterbroche- nen Geschichten vor meinen Augenablaufen. Aus Menschen wurden Tiere und aus Tieren Menschen. Masken, die einGesicht verbargen, und Gesichter, die sich in Masken verwandelten. Ledrige alteHaut neben weicher junger Haut und eine von den Rändern hereindrängende satteSchwärze, aus der Ungeheuer hervorquellen konnten wie ein endloser Strom vonKaninchen aus dem Hut eines Zauberers. Was ich sah, machte mir Angst, zugleichaber kam ich mir tapfer und irgendwie unbesiegbar vor, weil ich es gewagthatte, hinzuschauen. Dasselbe Buch liegt jetzt neben mir auf dem Tisch, nochangeschlagener als früher: Der lädierte Rücken hält nur noch mit Klebstreifenzusammen, der trocken und spröde geworden ist, ein Tropfen Tinte ist auf dasKleid der sitzenden Frau gefallen und in einer kleinen Explosion auf dem zartenStoff zerplatzt, eine Ecke des Umschlags fehlt. Aber wenn ich die Seitenumblättere, ist die schaudererregende Eindringlichkeit dieser Bilder unvermindertund so lebhaft wie meine Erinnerung daran. Das ist die erste Wurzel meinerVerbindung zu Goya. Er schien zu mir zu gehören wie ein Familienmitglied, fernzwar, aber doch blutsverwandt. Lange verharrte er still irgendwo in meinemHinterkopf, rührte sich hin und wieder, stellte aber keine Forderungen, bis icheines Tages das Museo del Prado in Madrid besuchte und die beiden Räume betrat,in der seine Schwarzen Gemälde hängen. Was mir als Erstes auffiel, war ihr Lärm:ein hallender Nachklang wilder menschlicher Stimmen, die miteinanderwetteiferten, um sich Gehör zu verschaffen. Erst später begann ich auch dasSchweigen wahrzunehmen, weite Tümpel der Stille, die genauso beherrschend warenwie der Lärm. Neben mir stand jemand und erklärte, Goya sei taub gewesen, alser diese Bilder malte: stocktaub von seinem siebenund- vierzigsten Jahr bis zuseinem Tod mit zweiundachtzig. Und in dem Moment war mir klar, dass ich mehrwissen wollte. Ich wollte wissen, was für eine Welt dieser taube Mann bewohnt hatte,wie er es geschafft hatte, in der Isolation der Taubheit zu leben, undinwieweit sie den Gebrauch seiner übrigen Sinne verändert hatte. Mich auf dieSuche nach ihm zu machen war eine sonderbare Aufgabe. Ich kann, einigermaßenflüssig, eine Art Spanisch kauderwelschen, kann sogar ausführlicheUnterhaltungen führen, sofern meine Gesprächspartner Geduld mit mir haben, abervon geschriebenem Spanisch bewältige ich selbst mit der Hilfe einesumfangreichen Wörterbuchs allenfalls ein paar Seiten, so dass ich bei meinenRecherchen größtenteils auf Quellen angewiesen war, die es auch auf Englischoder Französisch gibt. Doch wann immer ich den Mut verlor, sagte ich mir, dassselbst jemandem, der wesentlich besser qualifiziert ist als ich, zurRekonstruktion der Geschichte von Goyas Leben auch nicht mehr zur Verfügungsteht als die bruchstückhaften Informationen, die ihn überlebt haben. So könntedas vor dem Verkauf eines Hauses erstellte Inventar einen Hinweis geben, wannein bestimmtes Bild entstand; die Zeichnung einer nackten Frau könnte auf eineLiebesaffäre, ein flüchtiger Kommentar in einem Brief auf eine politischeMeinung hindeuten. Oder auch nicht. Goya überlässt es jedem selbst, sich einBild von ihm zu machen, sich zusammenzureimen, woran er glaubte oder nicht glaubte,wen er liebte und wen nicht, und ob er von grauenhaften Alpträumen heimgesuchtwurde, die ihn an den Rand des Wahnsinns trieben, oder ob er lediglichZeitzeuge einer Epoche war, in der an jedem Tag der Woche Alpträume der einenoder anderen Art in den Straßen der Stadt oder draußen auf dem LandWirklichkeit wurden.
© Berlin Verlag
Übersetzung: Barbara Schaden
- Autor: Julia Blackburn
- 2004, 255 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schaden, Barbara
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 382700148X
- ISBN-13: 9783827001481
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der alte Goya".
Kommentar verfassen