Der Außenseiter
Der Außenseiter von Minette Walters
LESEPROBE
Colliton Park, Highdown, Bournemouth
Montag, 4. Mai 1970, 13 Uhr 30
Ein toller Park war es nicht, ein Stück verdorrtes Gras amColliton Way, auf dem knapp einen Morgen groß, Leute aus der Gegend morgens undabends ihre Hunde ausführten. Tagsüber war kaum einer hier, von den paarSchulschwänzern einmal abgesehen, die hinten bei den Bäumen herumlungerten. DiePolizei schaute selten vorbei, was damit zu tun hatte, dass zwischen den jungenLeuten und dem einzigen Eingang eine freie Strecke von etwa hundert Metern lag.Bis zwei übergewichtige Polizisten es schafften dorthin zu kommen, waren dieJugendlichen längst fort. Sie sprangen einfach über die niedrige Umzäunung indie dahinter liegenden Gärten. Da es daraufhin von den Anliegern jedes MalBeschwerden hagelte, zog die Polizei, die ein ruhiges Leben schätzte, es vor,die Schüler in Ruhe zu lassen.
Solange sie im Park waren, so die Überlegung, klauten siewenigstens nicht, da war es gescheiter, ein Auge zuzudrücken und anderswo fürRecht und Ordnung zu sorgen. Schuleschwänzen stand bei den eher zynischdenkenden Ordnungshütern weit unten auf der Skala der Vergehen.
Über den Colliton Way, im ärmeren Teil Highdowns gelegen, gab eswenig Gutes zu sagen. Die Arbeitslosigkeit war hoch, der Bildungshunger gering,und das Neubauprojekt auf dem riesigen ungenutzten Gelände dahinter, dasArbeitsplätze und Wohnungen in Aussicht gestellt hatte, war zunächst insStocken geraten und dann ganz zum Stillstand gekommen. Derzeit wurde einzignoch am Fabrikgebäude der Firma Brackham Wright gebaut. Es sollte diegegenwärtig noch genutzte veraltete Fabrik in der Glazeborough Road ersetzen.Für die dort beschäftigten Arbeiter, von denen viele am Colliton Way wohnten,war das kein Trost. Neue Technologien und fortschreitende Automatisierungbrachten doch immer Entlassungen mit sich.
Die hartnäckigsten Schulschwänzer waren drei Jungen. Sie konntensehr gewinnend und großzügig sein, solange niemand ihren Führungsanspruch inFrage stellte, kam jedoch jemand ihnen in die Quere, waren sie äußerstgewalttätig. Das verlieh ihnen eine starke Anziehungskraft für unzufriedeneKinder, die Großzügigkeit mit Zuneigung verwechselten und Grausamkeit mitAufmerksamkeit und von denen keines begriff, wie krank diese Jungen waren. Wiesollten sie auch, wenn noch nicht einmal die Jungen selbst es wussten. Sieglaubten, kaum des Lesens und Schreibens mächtig, ihr Leben im Griff zu haben.
Dieser Montag im Mai verlief nicht anders als unzählige Tage davor.Das Schuleschwänzen war für die Jungen längst zur Selbstverständlichkeitgeworden, und ihre Mütter versuchten erst gar nicht mehr, sie morgens aus demBett zu zerren. Es war besser, Sie liegen zu lassen, sagten sie sich, als sichSchläge dafür einzuhandeln, dass man die Herren Söhne in ihrer Ruhe störte. DieJungen waren gar nicht in der Lage aufzustehen. Keiner von ihnen kam in derRegel - wenn überhaupt - vor den frühen Morgenstunden nach Hause, und dann imAllgemeinen so sturzbetrunken, dass ihr Schlaf einer völligen körperlichen undgeistigen Erstarrung glich. Die Mütter dieser drei waren allesamt irgendwanneinmal zu dem Schluss gekommen, dass ihre Söhne in einem Heim besser aufgehobenwären, aber die Einsicht hatte nie lange vorgehalten. Angst vor Rache undfalsch verstandene Liebe zu ihren Erstgeborenen hatten stets einen Sinneswandelherbeigeführt. Mit einem Mann im Haus hätte sich vielleicht manches andersentwickelt, aber den gab es in keiner der Familien, also taten die Frauen das,was ihre Söhne wünschten.
Die Jungen hatten im Ortszentrum zwei dreizehnjährige Mädchenaufgelesen und in den Park mitgenommen. Die kleine dünne mit dem zehnjährigenBruder im Schlepptau interessierte sie nicht. Die andere, ein gut entwickelteshübsches Ding, dafür umso mehr. Die beiden Mädchen saßen sich mit hochgezogenenKnien auf einer Bank gegenüber, so dicht, dass ihre Zehen sich berührten, unddie vier Jungen fläzten zu ihren Füßen im Gras und schielten zu ihrenSchlüpfern hinauf. Die Mädchen, in kniehohen Stiefeln, Miniröcken unddurchsichtigen Häkeltops, unter denen sie schwarze Büstenhalter trugen, warensich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst und sie genossen es. Scheinbar ohne dieJungen zu beachten, unterhielten sie sich für alle gut hörbar über Sex.
Die Reaktion darauf war allerdings mäßig. Die Jungen reichten zwareine gestohlene Flasche Wodka herum, zeigten aber überhaupt kein Interesse anden plumpen Flirtversuchen, und ohne Endspiel wird jeder Sport mit der Zeitlangweilig, selbst das Scharfmachen. Die kleine Dünne verhöhnte die Jungen ausÄrger darüber, dass sie nichts von ihr wissen wollten, und nannte sie"Jungfrauen". Und die Größere, die Cill hieß, schwang kurzerhand dieBeine von der Bank, zog den Rock über ihrem Hinterteil herunter und sagte:"Das ist doch blöd. Komm, Lou. Wir gehen zurück in die Stadt."
Ihre unterernährte Freundin, mit schwarz geschminkten Augen undblassrosa Lippen, zog ihrerseits mit dem Po wackelnd ihren Rock herunter undstand auf. Beide wollten aussehen wie Cathy McGowan aus ihrer LieblingssendungReady, Steady, Go! - Gürtel auf der Hüfte und glatt gesträhntes Haar, das indichten Ponyfransen ins Gesicht hing. Cill mit dem kräftigen Gesicht stand dasrecht gut. Lou, die wie eine zweite Twiggy aussah, hätte viel lieber einen frechenKurzhaarschnitt getragen. Doch das erlaubte Cill nicht. Zu ihremFreundschaftspakt gehörte es, dass sie sich gleich zurechtmachten, um einanderzumindest äußerlich so ähnlich zu sein, wie das bei zwei Mädchen möglich war,von denen die eine schon einen richtigen Busen hatte, während die andere ihrenBüstenhalter mit Papiertaschentüchern ausfüllen musste.
"Nun komm schon!" Cill stupste den kleinen Bruder derFreundin mit der Fußspitze an. "Dein Vater dreht dir den Kragen um, wenndie Bullen dich erwischen, Billy. Du wirst schon sehen."
"Ach, lass mich doch in Ruhe", nuschelte der Kleinebetrunken.
"Scheiße!" Der Alkohol hatte sie streitlustig gemacht,und sie musterte die faul im Gras liegenden Jungen mit verächtlichem Blick."Mein Gott, seid ihr Schwächlinge. Lou und ich haben genauso vielgetrunken wie ihr, aber blau sind wir noch lange nicht."
"Gib doch nicht so an", sagte einer der Jungen. Er warnicht der größte, aber er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, und sie fand, ersähe aus wie Paul McCartney.
Ein anderer, ein sommersprossiger Rotschopf, hob die Hand zu LousOberschenkel. "Kleines Flittchen", meinte er verächtlich und drücktekräftig.
Kreischend schlug sie nach ihm und sprang zur Seite."Jungfrau! Jungfrau!", verspottete sie ihn. "Du kriegst bestimmtnie eine ab, so beschissen wie du ausschaust." Er packte sie beim Fuß, undsie rief mit Jammerstimme nach Cill, sie zu befreien. "Er reißt michgleich um!"
Das größere Mädchen stellte ihm den hochhackigen Stiefel auf dieBrust. "Lass sie sofort los!"
Er ließ grinsend los. "Was habt ihr denn erwartet? Ihr seiddoch nur zwei billige Flittchen."
Sie schob den Pfennigabsatz über seine Brustwarze. "Sag dasnoch mal!"
Der kleine Halbstarke mit dem pickeligen Gesicht und dem Flaum aufder Oberlippe war viel zu betrunken, um sich einschüchtern zu lassen."Mensch, du fette Schnecke", nuschelte er, "garantiert hast dune Fotze wie'n Parkhaus, weil du schon so viele rein gelassen hast."
Seine beiden Freunde wälzten sich auf den Bauch und verfolgten mitbegierigem Blick das Geschehen. Einem Mädchen mit mehr Erfahrung wäre das eineWarnung gewesen, aber Cill war neu in diesem Spiel. Sie legte ihr ganzesGewicht auf den Absatz ihres Stiefels, als sie über den Rothaarigenhinwegstieg, und tänzelte davon, bevor er sie packen konnte. "Und nennmich nie wieder fett, sonst ramm ich dir den Absatz das nächste Mal in denSchwanz."
Der Rotschopf drückte beide Hände auf seine Brust. "Hey, dashat verdammt wehgetan!"
"Sollte es auch, du Arsch." Sie forderte ihre Freundinmit einer kurzen Kopfbewegung auf, ihr zu folgen, als sie davonging.
Aber für Lou gab es kein so leichtes Entkommen. Sie war gegen dieBank gedrängt und verlor das Gleichgewicht, als der dunkelhaarige Junge sichauf sie stürzte. Er packte sie bei den Armen, als sie fiel, und drückte sierücklings ins Gras. Ihre angstvollen Schreie holten Cill zurück. Statt ihrenTöchtern klarzumachen, wie gefährlich derartige Spiele mit dem Feuer waren,hatten Cill und Lous Mutter nur gesagt: Wenn du dich herrichtest wie einFlittchen, wird dich noch mal einer vergewaltigen. Aber das ist dann deineeigene Schuld.
Cill, die sich einbildete, sie kenne sich aus, war die naivere vonbeiden. Während Lou wie ein angegriffener Käfer augenblicklich in eine ArtTotenstarre fiel und so für die erregten Jugendlichen alle Verlockung verlor,wehrte sich Cill wie eine Wilde und bekam die ganze Grausamkeit des Überfallszu spüren. Immer wieder schrie sie Billy an, er solle weglaufen und Hilfeholen, aber der Kleine, ganze zehn Jahre alt und betrunken dazu, zog nur denKopf ein und rollte sich ein wie ein Käfer.
Erst als sie sie bei den Haaren unter die Bäume schleiften, gabCill auf. Tränen liefen ihr über das geschminkte Gesicht, der Schmerz warunbeschreiblich und überdeckte alle anderen Schmerzen, die sie aushaltenmusste. Alle drei wollten sie niedermachen - sie war die Domina -, und sienahmen sie einer nach dem anderen. Der Dunkle vergewaltigte sie zweimal. Siewar zu jung, um etwas von seelischen Verletzungen zu wissen, aber das Geräuschihrer zerreißenden Kleider, an denen sie so sehr hing, der Schweiß, die Hitzeund der Dreck einer Massenvergewaltigung, die triumphierenden Fratzen derJungen, die sich mehrfach an ihr vergingen - das alles zerstörte sie mehr alsdie in der Übererregtheit nur kurzen Penetrationen der Jungen.
"So schnell schimpft mich keine mehr eine Jungfrau",sagte der Rotschopf, der über ihr stand und sich mit großtuerischer Geste denReißverschluss seiner Hose zuzog.
Der Dunkle versetzte ihr einen Tritt. "Blödes Luder! Wenn duzu den Bullen rennst, kriegst du dasselbe noch mal. Kapiert?"
Erst jetzt rührte sich Cills Selbsterhaltungstrieb, sie schlossdie Augen und blendete die Jungen aus. Sie konnte jeden von ihnen beim Namennennen, aber sie würde es niemals tun. Ihr Vater würde sie umbringen, wenn erhörte, dass sie vergewaltigt worden war, und bei der Polizei würde man ihrsowieso nicht glauben. Es war am helllichten Tag in einem Park in Bournemouthgeschehen, und kein Mensch hatte einen Finger gerührt, um ihr zu helfen. Siefragte sich flüchtig, ob die Straße so weit entfernt war, dass Vorüberkommendevon den Geschehnissen nichts hatten bemerken können, und machte sichgleichzeitig Vorwürfe, dass sie sich so aufreizend zurechtgemacht hatte. Ihre Mutterhatte Recht - sie hatte es selbst herausgefordert -, dabei hatte sie dochnichts anderes gewollt, als dass die Leute sie hübsch fanden.
Lou kroch zu ihr und legte sich neben ihr nieder. "Sie sindweg", flüsterte sie und schob ihre Hand in die Cills. "Bist duokay?"
Neiiiin! Tagelang würde dieser Schrei in ihrem Kopf widerhallen."Ja, ja. Und du?"
Das Mädchen rollte sich ganz klein zusammen und legte ihren Kopfauf Cills Brust. "Dein Dad schlägt dich windelweich, wenn er daserfährt."
"Ich erzähl's ihm gar nicht."
"Und wenn du schwanger bist?"
"Dann bring ich es um."
"Ganz bestimmt erzählt's Billy deiner Mam."
"Dann bring ich ihn auch um." Sie schob Lou weg undsetzte sich auf. "Wo ist er überhaupt?"
"Da drüben." Mit einer Kopfbewegung wies Lou zu derSitzbank. "Du hättest dich nicht auf ihn drauf stellen sollen, Cill. MeineMam sagt, wenn Männer wütend werden, sind immer die Frauen dran schuld."
Cill zog das zerfetzte Top über ihren nackten Busen und starrteauf das Blut an ihren Oberschenkeln. Sie brauchte jetzt keine Belehrungen überSchuld, sie musste schauen, dass sie nach Hause kam, ohne bemerkt zu werden.Zornig packte sie Lou bei den Haaren und drehte sie in ihrer Faust zusammen."Es wär gar nicht so weit gekommen, wenn du ihn nicht eine Jungfraugenannt hättest. Also, hilfst du mir jetzt, oder willst du mich noch mal in diePfanne hauen?"
Lou begann zu weinen. "Du tust mir weh", jammerte sie.
"Klar", versetzte Cill ungerührt.
"Es ist doch nicht meine Schuld, dass das passiert ist."
"Und ob es deine Schuld ist! Du hast sie verspottet. Du bisteine echt blöde Kuh, Lou, und du hast nicht mal versucht, mir irgendwie zuhelfen."
"Ich hab Angst gehabt."
"Ich auch - aber ich bin zu dir zurückgekommen."
Lou antwortete mit einem verlegenen Schulterzucken: "Hättdoch überhaupt nichts gebracht, wenn wir's alle beide gekriegt hätten."
"Da hast du Recht." Cill drehte die Haarsträhne in ihrerFaust noch fester zusammen und drückte Lou die Fingerknöchel in die Kopfhaut."Aber kriegen tust du's auf jeden Fall, wenn einer von euch was sagt, duoder dein Bruder." Die Augen voller Tränen, starrte sie Lou an. "Hastdu verstanden? Weil wenn mein Dad mich noch mal anrührt, bin ich weg - und dannkomm ich nie mehr zurück."
Eltern und Lehrern fiel die Abkühlung zwischen den beiden Mädchenauf. Ein- oder zweimal versuchte Louise Burtons Vater von seiner Tochter zuerfahren, was der Grund dafür war, aber Lou zuckte nur mit den Schultern undsagte, Cill habe sich eine andere Freundin gesucht. Billy stahl sich bei diesenGelegenheiten stets aus dem Zimmer, aber seine Eltern kamen gar nicht auf denGedanken, dass er etwas wissen könnte. Und sie fanden die Frage auch nichtinteressant genug, um sie weiter zu verfolgen. Frei von Cills Einfluss begannLouise, sich wieder zu kleiden wie es einer Dreizehnjährigen angemessen war,und das Schuleschwänzen, mit dem sie die unwillkommene Aufmerksamkeit derRektorin auf sich gezogen hatte, hörte auf.
Auch Priscilla Trevelyans Eltern war der Bruch zwischen den beidenMädchen nur recht. Louise Burton hatte mit ihrer blinden Ergebenheit Priscillagegenüber diese noch in dem aufsässigen Verhalten unterstützt, das sie mit derPubertät plötzlich an den Tag gelegt hatte. Enttäuscht über den mangelndenLerneifer seiner Tochter und besorgt angesichts ihrer frühen körperlichenReife, hatte Cills Vater versucht, sie mit strenger körperlicher Zucht inSchranken zu halten, und die plötzliche Entfremdung zwischen den beiden Mädchenwurde mit Erleichterung wahrgenommen, aber niemals angesprochen. Er fürchtete,wenn man darüber spräche, würde die Freundschaft womöglich von neuemaufflammen, und verbot seiner Frau, Teilnahme zu zeigen. Cills missmutigeStimmung schrieb er der Entzweiung von Louise zu und ignorierte sie, froh, dassseine Tochter neuerdings gewissenhaft zur Schule ging.
Die Lehrer der beiden Mädchen sahen die Sache weniger positiv,nachdem am Freitag, dem 29. Mai, in der Sportstunde ein wütender Streitzwischen ihnen ausgebrochen war. Drei Wochen lang hatte feindseliges Schweigengeherrscht, bevor Louise eine Bemerkung machte, die Priscilla zu heftigerReaktion veranlasste. Es gab eine Balgerei mit Kratzen und Beißen, bei der daskleinere Mädchen den Hauptteil abbekam, ehe die beiden endlich von derTurnlehrerin getrennt und der Rektorin vorgeführt wurden. Priscilla stand mitsteinerner Miene und sagte kein Wort, während Louise schluchzend erklärte, Cillhabe sie an den Haaren gezogen und versucht, sie wieder zum Schuleschwänzen zuverleiten. Die Rektorin glaubte ihr nicht, verdonnerte Priscilla, die weder zueiner Erklärung noch zu einer Entschuldigung zu veranlassen war, aber dennochzu einer Woche Schulausschluss, während Louise mit einer Verwarnung davonkam.
Wie vorauszusehen machte Priscillas Vater seinem Ärger mit einerTracht Prügel Luft, worauf Cill wie angedroht irgendwann in den frühenMorgenstunden des 30. Mai von zu Hause weglief. Mr. Trevelyan sprach von"zwei Ohrfeigen", als die Polizei wissen wollte, ob es einen Grundfür die Flucht seiner Tochter gebe, und behauptete, er könne sich diesesungewöhnliche Verhalten seiner Tochter nicht erklären. So etwas habe sie nochnie getan, sie lebe schließlich in einem ordentlichen Zuhause und sei auch inder Schule gut. Ja, sicher, es habe mal eine Zeitlang Probleme gegeben, weil siedie Schule geschwänzt hatte, aber daran sei nur dieses moderneGesamtschulsystem schuld. Priscilla langweile sich eben, wenn sie im Unterrichtunterfordert werde.
Louise, die von einer einfühlsamen Polizistin befragt wurde,erklärte zuerst, Cill würde sie umbringen, wenn sie mit der Wahrheitherausrücke, und berichtete dann von der Vergewaltigung. Die Namen der Jungenkannte sie nicht, aber dank ihrer Beschreibung konnten sie ausfindig gemachtund ihre Wohnungen nach Spuren des verschwundenen jungen Mädchens durchsuchtwerden. Sie bestritten alle die Vergewaltigung, ja sogar die beiden Mädchen zukennen und man fand nichts bei ihnen, was auf eine Verbindung mit den Mädchenhingewiesen oder den Tatvorwurf bekräftigt hätte. Es war keine Hilfe, dass Louiseihre Namen nicht wusste und sie nur vage beschreiben konnte, sich nichterinnerte, wie sie gekleidet gewesen waren, und dass Cill ihre zerfetztenKleider in den Müll geworfen hatte. Und als Louise unter Tränen erklärte, Cillsei selber schuld gewesen, sie habe getrunken und aufreizende Bemerkungengemacht, glaubte die Polizei überhaupt nicht mehr an eine Vergewaltigung. Eshatte vielleicht eine wilde Knutscherei gegeben, aber ganz sicher keineVergewaltigung durch mehrere Täter.
Da das angebliche Opfer zu einer Aussage nicht zur Verfügungstand, wurden die Jungen am Montag, dem 1. Juni, um 13 Uhr 23 nachoberflächlicher Befragung auf freien Fuß gesetzt. Vergewaltigung wurde 1970noch nicht so ernst genommen.
© Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: Mechtild Sandberg-Ciletti
Autoren-Porträt von Minette Walters
MinetteWalters gilt als die britische "Queen of Crime"und hat eine Fangemeinde von Millionen Leserinnen und Leser. Viele ihrer bishererschienenen Romane wurden mit wichtigen internationalen Preisen ausgezeichnet.Minette Walters lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Hampshire,England.
Interview mitMinette Walters
In "Der Außenseiter" wird der geistig und körperlichzurückgebliebene Howard Stamp wegen Mordes an seiner Großmutter verurteilt undstirbt im Gefängnis. 30 Jahre später wird das Verbrechen neu aufgerollt. Wiekommt es dazu?
Dafür sind zwei Personen verantwortlich. Zum einenJonathan Hughes. Er hat ein Buch über berühmte Justizirrtümer in Großbritanniengeschrieben, das in meinem Roman so etwas wie ein "Buch im Buch" ist. AlleFälle, mit denen er sich beschäftigt hat, sind real. Z.B. der von StephenDowning. Just als ich an dem Buch arbeitete, wurde Downings Unschuld bewiesen -27 Jahre, nachdem er wegen Mordes verurteilt worden war. DNA-Tests spielenheute bei der Aufarbeitung solcher lange zurückliegender Mordfälle eine großeRolle.
Jonathan Hughes hat sich, wie gesagt, vor allem mit"etablierten" Justizirrtümern befasst - bis er im Buch eines Psychiaterszufällig auf den Fall von Howard Stamp stößt. Die Gespräche, die der Psychiatermit Howard geführt hat, lassen Jonathan daran zweifeln, dass bei derVerurteilung alles mit rechten Dingen zuging.
Auch George Gardener, die zweite für den Fall wichtigePerson, glaubt nicht an die Schuld Howards. Sie lebt in exakt der Straße, inder damals der Mord von Howard begangen worden sein soll. Als sie mit denNachbarn spricht, stößt sie u.a. auf einen Zeugen, der damals Beweise fürHowards Unschuld vorlegen wollte, aber bei der Polizei schlicht nichtdurchdrang. George nimmt schließlich Kontakt zu Jonathan Hughes auf, dessenBuch sie kennt. Zusammen gehen sie der Frage nach, ob Howard den Mord begangenhat oder nicht.
Sicherlich trifft die Polizei Schuld. Man weiß zumBeispiel, dass seinerzeit Beweise manipuliert wurden, als es darum ging,IRA-Terroristen zu "überführen". Es gab also innerhalb der Polizei Fälle vonmoralischem Versagen. 1984, nachdem solche Vergehen öffentlich geworden waren,wurden per Gesetz durch "The Police and Criminal Evidence Act" (kurz "PACE") die Verfahren derBeweisführung durch die Polizei und insbesondere das Verhör streng reglementiert.Dadurch soll ausgeschlossen werden, dass z.B. jemand wie Howard in ein falschesGeständnis getrieben wird.
Gleichzeitig muss man zur Verteidigung der Polizeianführen, dass sie unter extremem Druck stand und immer noch steht. Wir, dieÖffentlichkeit und die Medien, tragen durch unseren mitunter gnadenlosen Rufnach "Gerechtigkeit" eine erhebliche Mitschuld an einigen Justizirrtümern. Diesgilt insbesondere für die IRA-Anschläge, bei denen der Druck auf die Ermittler,binnen kurzer Zeit einen Schuldigen zu präsentieren, enorm hoch war. Das führtedazu, dass die Polizei bei der Aufklärung oft unüberlegt und viel zu schnellagierte.
Beim technischen Aspekt des Versagens bin ich mir nichtganz sicher. Früher gab es z.B. einfach die DNA-Tests noch nicht, oder siewaren noch nicht ausgereift. Erst seit relativ kurzer Zeit kann man sie gezieltund mit Erfolg einsetzen - auch und gerade um länger zurückliegende Fälleaufzuklären.
Der Roman spielt im Sommer 2003, als auch England Krieggegen den Irak führte. Ist das eher ein atmosphärisches Detail oder hat diesauch eine symbolische Bedeutung?
Beides. Seitdem es Kriminalromane gibt, also etwa seit 150Jahren, haben die Autoren versucht, ihre Zeit und ihre Umgebung so präzise wiemöglich einzufangen. Details sind enorm wichtig. Es reicht nicht, nur dieEinzelheiten genau zu beschreiben, die direkt mit dem jeweiligen Kriminalfallzu tun haben. Sie müssen eingebettet sein in ebenso genaue Schilderungen derLebensumstände, in denen das Verbrechen stattgefunden hat. Wer z.B. etwas überdas Leben im viktorianischen London im späten 19. Jahrhundert erfahren möchte,sollte die Sherlock Holmes-Geschichten lesen. Arthur Conan Doyle malt einfaszinierendes Bild des damaligen London: wie sich die Leute kleideten, wie siemiteinander sprachen, wie sich Beziehungen gestalteten, z.B. zwischen denHerrschaften und ihren Dienern - dasalles findet man in Doyles Büchern! Und eine tolle Geschichte bekommt manobendrein. Agatha Christie hat das Gleiche für das England der 1930er Jahregetan. In ihren Büchern erfährt man ganz genau, wie die Mittelklasse lebte, wassie aß oder welche Namen damals "in" waren. Man erhält ein absolut präzisesBild der Zeit.
Und das ist es auch, was ich mir wünsche; dass in, sagenwir, 10 oder 20 Jahren die Leute sagen: "Jetzt weiß ich genau, wie die Leutedamals, zur Zeit des Irak-Krieges, in Großbritannien fühlten."
Aber dieser Hintergrund hat auch eine symbolischeBedeutung. Im "Außenseiter" geht es nicht zuletzt um Einschüchterungen. Als ichdas Buch schrieb, versuchten die USA und Großbritannien gerade, den Rest derWelt einzuschüchtern, damit diese ihren Standpunkt übernehme. Und die britischeRegierung hat das eigene Volk bedrängt, damit es diesen Krieg akzeptiere undmittrage - aber die Mehrheit der Briten wollte diesen Krieg nicht. DieseEinschüchterung im Großen spiegelt sich auf der "Mikroebene" des Romans; in derkleinen Gemeinschaft nämlich, in der Howard als Mörder abgestempelt wird. Eshat mir Spaß gemacht, diese Ebenen miteinander zu verknüpfen.
Zum Erfolgsrezept vieler Krimiautoren gehört einwiederkehrender Ermittler. Sie erfinden Ihr Personal jedes Mal aufs Neue.Warum?
Oh, da bin ich eigentlich in guter Gesellschaft. Siewissen ja, dass Conan Doyle Sherlock Holmes um die Ecke brachte, weil er dieNase voll von ihm hatte. Aber er musste ihn wieder zum Leben erwecken, weilsein Verleger auf der Figur bestand. Agatha Christie wollte sich Poirot wiederund wieder vom Hals schaffen - aber ihre Verleger ließen sie nicht. Und es gibtnoch eine Reihe anderer Krimiautoren, denen es mit ihren "Helden" genauso geht.Ich kann sie verstehen. Ich habe mir mal überlegt, dass ich vielleicht vierBücher mit ein und demselben Protagonisten schreiben könnte, bevor ich ihnkomplett langweilig finden würde. Ein Serienheld bringt einfach Probleme mitsich. Man kann z.B. nicht beliebig die Orte wechseln - außer, man schicktseinen Helden in die Ferien, wo er dann mit einem Mordfall konfrontiert wird.Man ist also an eine Person, einen Ort und eine Zeit "gekettet". Das wollte icheinfach nicht. Ich wollte frei darüber entscheiden können, über wen in welcherZeit und an welchem Ort ich schreibe.
Vielleicht ist dies ein Teil meines Beitrags zu diesemaufregenden und dynamischen Genre. So viele Leute lesen Krimis, ob sie es nunzugeben oder nicht. Ständig entstehen neue Subgenres. Der Kriminalroman ist wieein Baum, ständig wachsend, mit immer neuen Ästen und Zweigen. Ich hoffe, dassmeine Version des psychologischen Thrillers, in dem es eben nicht den einen,wiederkehrenden Helden gibt, zur Entwicklung des Genres beiträgt. Ich freuemich sehr über meinen Erfolg und möchte mich überhaupt nicht beklagen - aberhätte ich mich für einen Serienhelden entschieden, ich hätte wahrscheinlichsehr viel mehr Geld verdienen können. Wichtiger ist mir, dass meine Bücher,jedes für sich, ihre Kraft behalten. Ich glaube und hoffe, dass zumindest einoder zwei von ihnen auch in einigen Jahren noch gerne gelesen werden. Und ichbin mir nicht sicher, ob dies für all die Serienhelden gelten wird, die jetztso erfolgreich sind. Für einige sicher, aber für die meisten nicht. Aber, werkann das schon genau wissen...
Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass man zum Schreiben eine"Haut wie ein Nashorn" braucht. Ist sie bei Ihnen immer noch stark genug, oderhaben Sie manchmal das Gefühl, dass sie noch dicker sein dürfte wird?
Dieses Gefühl habe ich immer. Ich hasse Rezensionen, dennman erinnert sich nie an die guten, sondern nur an die schlechten. Es stimmtschon, eigentlich bräuchte man eine Haut dick wie die eines Nashorns, aber ichglaube nicht, dass viele sie haben. Die meisten Menschen verletzt es, wenn sieeine Absage von einem Verlag erhalten oder ihr Buch schlecht besprochen wird.Aber wenn man Erfolg haben will, muss man solche Schläge einstecken können.Wenn einen eine Ablehnung so sehr trifft, dass man seine Manuskripte nirgendwomehr hinschicken mag, wird man niemals ein Schriftsteller. Entweder manversucht es bei einem anderen Verlag oder man schreibt eben eine neueGeschichte. In dieser Hinsicht habe ich wahrscheinlich eine "dicke Haut".Manchmal verletzt mich etwas, aber ich schaffe es dann doch, mich aufzuraffenund es erneut zu versuchen. Als Autor kann man sich Sensibilität also durchausleisten - solange man sich durch Ablehnungen und Kritik nicht von seinem Wegabbringen lässt.
In der Regel schreiben Sie lieber an einem Buch, als dassSie sich um Publicity kümmern. Wie hat der deutsche Verlag es geschafft, Sie zudieser Lesereise zu bewegen?
Oh, ich glaube, das interessiert den Verlag auch.Bestimmte Aspekte der Publicity mag ich wirklich nicht. Ich genieße es, nachDeutschland zu kommen, ich liebe es, mich mit den Menschen zu unterhalten. Aberdieses ganze Fotografieren mag ich überhaupt nicht. Das kommt mir vollkommenlächerlich vor, ich bin doch Schriftstellerin und kein Model! Ich mag es nicht,mich in einer bestimmten Weise "verkaufen" zu müssen. Und es macht mir wenigFreude zu erklären, was ich geschrieben habe. Eigentlich erklärt sich ein Buchselbst. Gerade ist mein neues Buch fertig geworden, mein Kopf ist voll davon -aber ich bin auf Lesereise mit "Der Außenseiter"! Ich muss versuchen, mich zuerinnern, und zum Glück klappt das im Moment ganz gut. Aber es ist schonmerkwürdig: Wenn man als Schriftsteller ein Buch abgeschlossen hat, muss man esim Grunde sofort vergessen, und zwar so vollständig wie möglich. Denn sonstkann man nicht mit der Arbeit an einem neuen Buch beginnen. Das führt dazu,dass mir manchmal noch nicht einmal mehr die Namen der Charaktere in einem meinerälteren Bücher einfallen. Ich erinnere mich an eine Lesereise, ich glaube, eswar in Slowenien. Dort wollten die Leute mit mir über jedes einzelne Buchsprechen, über Bücher, die für mich zum Teil 12 oder 14 Jahre zurücklagen. Eswar ganz schön anstrengend, mich einigermaßen genau zu erinnern, was ich damalsgeschrieben hatte. Es gibt Autoren, die sich sogar noch an Details ihrerälteren Bücher erinnern, das kann ich nicht. Und man setzt sich ja auch nichthin und liest immer wieder seine eigenen Bücher.
Noch einmal: Ich liebe es wirklich, Menschen zu treffen.Aber es macht mir keinen Spaß, mich in einem bestimmten Licht "präsentieren" zumüssen. Es ist mir lieber, dass jemand ein Buch von mir liest, weil ein Freundes empfohlen hat. Oder würden Sie ein Buch kaufen, weil die Autorin Ihnengesagt hat: "Oh, das ist ein wirklich gutes Buch."? Ich würde das jedenfallsnicht machen.
Erzählen Sie uns doch ein bisschen von Ihren Eindrücken aufIhrer "Tour" durch Deutschland und Österreich. Was hat Ihnen besondersgefallen?
Am deutschsprachigen Publikum hatmich wirklich beeindruckt, wie selbstverständlich es bei meinen Lesungen mitder englischen Sprache umgegangen ist. In Wien und Köln haben die Leutewirklich alles verstanden, haben über alle meine Witze gelacht (die übrigensziemlich gut waren). In Köln zum Beispiel hat die Veranstaltung, inklusiveeiner Signierstunde, drei Stunden gedauert! In England sind die Leute nicht sogeduldig, sie würden nicht so lange sitzen bleiben.
Ich bin jetzt zum dritten odervierten Mal hier in Deutschland. Und, ob Sie es glauben oder nicht: Ich magDeutschland sehr! Bevor ich mit dem Schreiben anfing, bin ich nie inDeutschland gewesen. Meine Mutter, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, warnicht besonders gut auf die Deutschen zu sprechen. Als ich beim ersten Malerzählte, dass ich auf Lesereise durch Deutschland gehen würde, sagte sie: "Wiefurchtbar, Du solltest nicht in dieses schreckliche Land fahren." Mit dieserEinstellung bin ich aufgewachsen. Ich wusste also eigentlich nicht, was michhier erwarten würde.
Kennen Sie den berühmten Sketchvon John Cleese aus der Fernsehserie "Fawlty Towers"? Ein Hotelier, derdeutsche Gäste erwartet, schärft seinen Angestellten ein: "Bloß nicht denZweiten Weltkrieg erwähnen! Niemand darf den Zweiten Weltkrieg erwähnen!" Alsich zum ersten Mal im Flugzeug nach Deutschland saß, habe ich mir auch immergesagt: "Bloß nicht den Zweiten Weltkrieg erwähnen!" Und tatsächlich: Währendder ganzen Woche, die ich dann hier war, habe ich den Krieg nicht ein einzigesMal erwähnt - aber alle Leute, denen ich begegnet bin, kamen immer irgendwieauf den Krieg zu sprechen! Die Einstellung, dass man über diese Dinge offenreden muss, hat mir sehr gefallen, da habe ich mich ein bisschen in dieDeutschen verliebt. Außerdem ist der deutsche Sinn für Humor meinem sehrähnlich. Hier versteht man meine Witze - ganz anders als etwa in den USA. Dortbin ich nicht gerne, denn immer mache ich Witze über die falschen Dinge, z.B.über Mütter, über Geld oder über Gott. Auch mit Frankreich ist es schwierig,zum französischen Humor habe ich noch keinen richtigen Zugang gefunden. Ichfühle mich einfach in den nördlicheren Ländern Europas zu Hause: inSkandinavien (die Dänen sind einfach toll!), in Holland und eben in Deutschland.
Die Fragen stellte Roland Große Holtforth, Literaturtest.
- Autor: Minette Walters
- 2005, 511 Seiten, Maße: 14,5 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Mechtild Sandberg-Ciletti
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442310784
- ISBN-13: 9783442310784
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