Der Dornenmann
Die Mondfinsternis dauert nur wenige Minuten. Dann liegt Giebelstein wieder ruhig und verschlafen im kalten Licht des Vollmonds. Doch der Frieden trügt: Die Finsternis hat eine schaurige Kreatur geboren. Peitschende Zweige mit messerscharfen Dornen wuchern...
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Produktinformationen zu „Der Dornenmann “
Die Mondfinsternis dauert nur wenige Minuten. Dann liegt Giebelstein wieder ruhig und verschlafen im kalten Licht des Vollmonds. Doch der Frieden trügt: Die Finsternis hat eine schaurige Kreatur geboren. Peitschende Zweige mit messerscharfen Dornen wuchern aus dem Körper dieses Wesens, das Kyra und ihre Freunde in die Enge treibt ... direkt in die Arme einer gefährlichen Mondhexe, die einen dämonischen Plan verfolgt ...
Die Mondfinsternis dauert nur wenige Minuten. Dann liegt Giebelstein wieder ruhig und verschlafen im kalten Licht des Vollmonds. Doch der Frieden trügt: Die Finsternis hat eine schaurige Kreatur geboren. Peitschende Zweige mit messerscharfen Dornen wuchern aus dem Körper dieses Wesens, das Kyra und ihre Freunde in die Enge treibt - direkt in die Arme einer gefährlichen Mondhexe, die einen dämonischen Plan verfolgt ...
Band 4 der Erfolgsserie.
Band 4 der Erfolgsserie.
Lese-Probe zu „Der Dornenmann “
Sieben Siegel – Der Dornenmann von Kai MeyerMondfinsternis
Gegen elf Uhr abends hörte das Kind auf zu schreien. Endlich. Kyra sank erschöpft auf das Sofa vor dem Kamin.
Babysitten!, dachte sie verächtlich. Nie wieder! Das Ganze war natürlich Tante Kassandras Idee gewesen. Kyra selbst hätte sich niemals freiwillig dafür gemeldet.
»Du kannst dir damit dein Taschengeld aufbessern «, hatte Tante Kassandra gesagt.
»Ich bekomme doch genug«, hatte Kyra hastig – und zugegeben ein wenig unüberlegt – erwidert.
Tante Kassandra hatte listig gelächelt. »Das könnte man ja ändern …«
Und damit war eigentlich alles klar gewesen. Kyras Schicksal war besiegelt. Babysitten also. Wie einfach das klang, wie harmlos. Beinah niedlich.
Babysitten, fand Kyra, war eines dieser Worte, die nicht im Entferntesten das beschrieben, was sich tatsächlich dahinter verbarg. Ungefähr wie Sommergrippe.
Sommer, das klang nach Sonnenschein, baden gehen und langen Nachmittagen in Lambertos Eisdiele. Aber Sommergrippe – das bedeutete, dass all diese Dinge mit einem Mal flachfielen. Keine Wasserspiele, kein Spagettieis – stattdessen bittere Säfte, Schüttelfrost und ein Fieberthermometer, das immer kaputt war, wenn man es brauchte.
Mit Babysitten war es genau das gleiche Elend. Babys seien süß, erzählten in der Schule die Mädchen mit kleinen Geschwistern; knuffig und liebenswert, sagten sie. Pah! Kyra war da ganz anderer Ansicht, vor allem heute, an diesem schlimmsten aller schlimmen Abende. Liebenswert, liebe Güte! Leute, die solchen Unsinn verzapften, kannten Babys wahrscheinlich nur aus der Windelwerbung im Fernsehen.
Echte Babys kreischten, dass die Wände bebten. Sie patschten mit ihren Fäusten im Essen herum, spuckten einem Brei ins Gesicht und, Himmelherrgott, sie stanken
... mehr
fürchterlich.
Ja, alles in allem waren sie verdammte Nervensägen. Und keines, wirklich keines auf der ganzen Welt, war schlimmer als Tommy.
Tommy war der Graf Dracula der Wickeltische, der Darth Vader aller Krabbelgruppen. Tommy war, daran bestand nicht der leiseste Zweifel, der Teufel persönlich. Oder wenigstens sein Sohn. Jawohl.
Kyra sank in die Sofakissen und schloss einen Moment lang die Augen. Sie würde den Geruch von vollen Windeln für mindestens eine Woche nicht von ihren Fingern losbekommen. Ganz zu schweigen von dem Geschmack des Gemüsebreis, den sie in sich hineingestopft hatte, um Tommy zu zeigen, wie toll das Mistzeug schmeckte.
Aaargh …! Sie hätte sich die Haare ausreißen können vor Wut!
Im offenen Kamin tanzten die letzten Flammen über verglühender Asche. Das Feuer würde jeden Moment ausgehen. Der Anblick beruhigte Kyra ein wenig. Nicht dass sie sich nun besser fühlte … nein, aber sie begann, sich mit der Lage abzufinden. Das war es doch, was das Leben ausmachte: Sich mit Situationen abzufinden, ganz gleich, wie mies es einem ging.
Oje, sie war wirklich in einer grauenvollen Laune! Wenn das so weiterging, würde sie noch den Fernseher einschalten. Und es gab wenig, was deprimierender war als das Samstagsprogramm nach dreiundzwanzig Uhr. Bei ihrem Glück würde sie wahrscheinlich auf das Wort zum Sonntag zappen und mit Sicherheit würde gerade in diesem Moment die Fernbedienung kaputtgehen. Ja, das fehlte eigentlich noch. Tante Kassandra war mit ihrer Freundin Ruth ins Theater gefahren. Nicht hier in Giebelstein, sondern weiter weg, in den nächstgrößeren Ort. Nach der Vorführung würden sie noch in irgendeine Kneipe gehen und Frauengespräche führen. Kyra hatte wenig Hoffnung, dass sie vor drei oder vier Uhr morgens zurück sein würden. Und bis dahin musste sie auf Tommy aufpassen.
Tommy war Ruths Sohn. Ruth war alleinstehend, Kyra hatte Tommys Vater nie kennengelernt. Eigentlich war Ruth ganz in Ordnung – ein Wunder, wenn man bedachte, dass sie es Tag für Tag mit diesem kleinen Ungeheuer aushielt. Sie und Tante Kassandra waren schon lange miteinander befreundet, und früher, als Tommy noch nicht auf der Welt gewesen war, hatte Ruth oft in Tante Kassandras Teeladen gesessen und die neuesten Teemischungen aus aller Welt durchprobiert. Heute aber, mit diesem Monster am Hals, waren die beiden Freundinnen froh, wenn sie ab und an mal einen Abend miteinander verbringen konnten. Und immer war Kyra die Leidtragende. Nicht dass sie den beiden ihren Spaß nicht gönnte. Aber musste denn ausgerechnet sie die Babysitterin spielen?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Gemüsebrei.
Volle Windeln. Geschrei ohne Ende.
Dann lieber doch das Wort zum Sonntag.
Kyra schleppte sich erschöpft zum Fernseher und schaltete ihn ein. Mit der Fernbedienung in der Hand fiel sie zurück in die Kissen.
Auf dem erstbesten Sender, der um diese Uhrzeit keinen Sexfilm aus den Siebzigerjahren zeigte, lief ein kurzer Bericht über die Mondfinsternis, die sich heute Nacht ereignen sollte.
Stimmte ja, das hatte Kyra ganz vergessen. Die Mondfinsternis! Sie hatte eigentlich dabei zuschauen wollen.
Sie sprang auf und lief zur Terrassentür. Die eine Wand des Wohnzimmers bestand komplett aus Glas. Wenn man die riesige Schiebetür beiseitezog, sah man eine Terrasse vor sich, so groß wie bei anderen Häusern der ganze Garten. Ein Bewegungsmelder klickte, als Kyra die Lichtschranke passierte. Scheinwerfer erhellten die vorderen Büsche und Bäume. Ein kühler Wind ließ die Zweige und Blätter rascheln, geisterhaftes Flüstern aus den Tiefen der Nacht. Kyra trat unter dem Vordach hervor und blickte zum Himmel. Erst glaubte sie, es sei zu bewölkt, um die Sterne sehen zu können. Dann aber wurde ihr klar, dass das Licht der Scheinwerfer das Funkeln der Gestirne überlagerte. Wenn sie die Mondfinsternis beobachten wollte, würde sie die Gartenbeleuchtung ausschalten müssen.
Die Frage war nur, wie. Die Lampen flammten auf, sobald sie eine der Lichtschranken durchschritt. Und im Wohnzimmer gab es ihres Wissens keinen Hauptschalter. Aber – Augenblick! – sie wusste doch, wo sich der Sicherungskasten befand! Wenn sie für ein paar Minuten den Strom im Wohnzimmer und im Garten abschaltete, würde sie den Mond und die Sterne besser erkennen können.
Sie setzte ihren Plan gleich in die Tat um, froh, dass es etwas gab, was sie von Tommy und ihrem Selbstmitleid ablenkte. Sie öffnete den Sicherungskasten im Flur, gleich neben der Küchentür. Neben einem Schalter klebte ein Schild mit der Aufschrift »Garten, Wohnzimmer & Flur«. Kyra klappte den Kippschalter nach unten und sogleich erlosch um sie herum das Licht.
Aus der Küche fiel der sanfte Schein der Herdbeleuchtung, und das reichte aus, um den Weg zurück ins finstere Wohnzimmer zu finden. Bald darauf stand sie wieder auf der Terrasse. Das fahle Licht des Mondes warf gespenstische Schatten. Das Wispern der Bäume klang auf einen Schlag ganz anders als zuvor. Heimtückischer, so als heckten jenseits der Blätter geheimnisvolle Wesen Gemeinheiten aus.
Kyra atmete tief durch. Seit sie und ihre drei besten Freunde Nils, Lisa und Chris zu Trägern der Sieben Siegel geworden waren, hatte sich vieles verändert. Mit einem Mal schien es für ein zwölfjähriges Mädchen wie sie ganz normal, zu jeder Tages und Nachtzeit mit den Angriffen blutrünstiger Dämonen rechnen zu müssen.
Nur einmal, nur heute Abend, wollte sie ein ganz normaler Teenager sein.
Aber standen normale Teenager wirklich nachts im Garten und beobachteten eine Mondfinsternis? Egal. Ich bin ich, dachte Kyra. Und ich will jetzt diese verflixte Mondfinsternis sehen. Und zwar sofort!
Als sie zum Mond hochschaute, war er bereits zur Hälfte verschwunden. Kyra wusste, wie selten ein solches Ereignis war. Sonne, Erde und Mond mussten auf einer exakten Linie liegen, damit der Schatten der Erde sich über die helle Mondkugel legte und sie verbarg.
Die Nacht war sternenklar. Auf jenem Stück des Mondes, das noch zu sehen war, konnte Kyra ganz deutlich den sagenumwobenen Mann im Mond erkennen. Eine schattenhafte Gestalt, die auf ihrem Rücken ein Bündel Dornenzweige trug.
Sie konnte jetzt beinahe zusehen, so schnell schob sich der Erdschatten über den Mond. Höchstens zehn Minuten vergingen, dann war die weiße Scheibe fast gänzlich verdeckt. Nur eine hauchfeine Sichel schwebte noch in der Schwärze des Weltalls. Kyra seufzte und wandte sich zurück zur offenen Terrassentür. Plötzlich war ihr unheimlich zumute. Die magischen Siegel, die sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte, erschienen stets dann wie Tätowierungen auf ihrem Unterarm, wenn Kreaturen der Hölle in der Nähe waren. Aber sie warnten Kyra und die anderen nicht nur – sie zogen die Diener der Finsternis auch an wie ein Magnet. Seitdem waren die vier Freunde nirgends mehr sicher. Überall mochten ungeahnte Schrecken auf sie lauern, jederorts verfolgte sie die Furcht vor der Dunkelheit und vor dem, was sie daraus beobachten mochte.
Auch jetzt war Kyra die Schwärze, die sie auf allen Seiten umgab, alles andere als gleichgültig. Trotzdem: Wenn sie auch nur ansatzweise ein Leben führen wollte, wie andere Jugendliche ihres Alters es taten, musste sie gewisse Risiken eingehen. Damit hatte sie sich allmählich abgefunden.
Etwas raschelte in den Büschen. Links von ihr. Kyra wirbelte herum. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie …
Aber es war nicht der Teufel. Auch keiner seiner Diener.
Es war Chris.
»Hi!«, meinte er knapp. Wie immer trug er pechschwarze Kleidung und hob sich kaum von der Dunkelheit ab. Auch sein Haar war schwarz. Im Augenblick war es ein wenig zerzaust, so als sei er gerannt. Kyra atmete erleichtert auf. »Scheiße. Hast mich ganz schön erschreckt.«
»Ich hab geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht. «
Natürlich, die Sicherung! »Ich hab den Strom abgeschaltet. Wahrscheinlich hängt die Klingel mit dran.«
Chris schaute sich im dunklen Garten um. »Wieso läufst du hier draußen rum? So ganz ohne Licht … und ohne Strom?«
Kyra seufzte und deutete zum Himmel. »Die Mondfinsternis. Ich wollte zuschauen.«
Die helle Sichel war jetzt so schmal, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen konnte. Chris suchte einige Sekunden lang mit seinen Blicken den schwarzen Nachthimmel ab, ehe er die kläglichen Überreste des Vollmondes entdeckte.
»Hmhm«, meinte er, was nicht besonders intelligent klang (und das, obwohl Chris ziemlich intelligent war – so schwer es Kyra auch fiel, das zuzugeben).
»Find ich nicht so besonders beeindruckend.«
»Aber ich«, gab sie trotzig zurück. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war jemand, der ihr erklärte, dass sie anders war. Denn normal wollte Kyra mehr als alles andere sein.
Mochte ihre Mutter auch eine berüchtigte Hexenjägerin gewesen sein, die zahllosen Kreaturen der Hölle den Garaus gemacht hatte; und mochte dieses Erbe auch auf Kyra übergegangen sein – alles, was sie wollte, war, so zu sein wie alle anderen. Insgeheim aber wusste sie, dass das unmöglich war. Sie war nun mal eine Trägerin der Sieben Siegel. Und mehr noch als ihre drei Freunde spürte sie die Verantwortung, die mit den magischen Malen einherging. »Ist das Konzert schon zu Ende?«, fragte sie.
Chris schüttelte den Kopf. »Es ist nach zehn. Sie mussten die Lautstärke runterdrehen. Danach war’s langweilig.«
Das war noch eines der Ärgernisse, die Kyra heute Abend in Kauf nehmen musste. Einmal im Jahr fand auf der Wiese vor Giebelsteins Südtor ein Rockkonzert statt, mit Bands aus der Gegend. Nichts Besonderes, aber irgendwie doch ganz witzig. Einfach rumhängen, über die Musik meckern und zuschauen, wie sich die älteren Jugendlichen lächerlich machten, wenn sie ein paar Bier zu viel getrunken hatten. Kleinstadtattraktionen eben. Trotzdem hätte Kyra eine Menge dafür gegeben, gerade heute dabei sein zu können. Sie hatte eine ihrer »Phasen«, wie Tante Kassandra es nannte. Sie hätte aus allen möglichen Gründen losheulen können, und wenn es auch nur so was Albernes wie ein verpasstes Konzert war. Ihre Tante verstand das gut, aber sie hatte die Theaterkarten schon vor Monaten gekauft, und der Termin ließ sich nun mal nicht mehr verschieben.
»Dir geht’s nicht gut, oder?«, bemerkte Chris mit leichter Sorge im Blick.
»Ich komm schon klar. Danke.«
»Wenn es nur wegen des blöden Konzerts ist, dann –«
Kyra unterbrach ihn. »Nicht deswegen. Ich bin in Ordnung, wirklich.«
Einen Augenblick lang sah Chris aus, als wollte er tröstend einen Arm um sie legen. Liebe Güte, dachte Kyra, wenn Lisa das sehen könnte …
Lisa war schrecklich verliebt in Chris, und alle schienen das zu bemerken, außer Chris selbst. Er wiederum machte Kyra schöne Augen und eigentlich fand sie das ganz angenehm. Vor allem heute Abend. Sie konnte ein wenig Trost gut gebrauchen, auch wenn sie das um nichts in der Welt offen zugeben würde.
Aber Chris nahm sie nicht in den Arm. Vielleicht schämte er sich. Kyra redete sich ein, dass es wahrscheinlich ohnehin ziemlich unbeholfen ausgesehen hätte.
Wenn da einen Moment lang ein Knistern zwischen ihnen in der Luft gelegen hatte, so verschwand es jetzt abrupt.
Chris atmete tief durch. »Komm, wir gehen ins Haus.«
Kyra schaute zum Himmel. Keine Spur mehr vom Vollmond, so als hätte ihn ein schwarzes Loch verschluckt, das als Nächstes auch sie selbst, Chris und die ganze Welt verschlingen würde.
Tante Kassandra nahm Johanniskraut, wenn sie solche Launen hatte. Kyra griff stattdessen zu ihrer lauwarmen Cola, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Sie schmeckte wie Spülwasser.
Chris schloss hinter sich die Terrassentür. »Wo ist der Sicherungskasten?«
Kyra stellte die Dose ab. Erst jetzt fiel ihr wieder auf, wie dunkel es im Haus war. Die Schwärze schien von allen Seiten einen Satz auf sie zuzumachen wie eine Horde geschmeidiger Panter.
»Ich mach das schon«, sagte Kyra und tastete sich am Sofa und dem erloschenen Kaminfeuer vorüber. Irgendwo hinter ihr stolperte Chris polternd über Tommys Bauklötze. Fluchend ließ er sich in einen Sessel fallen und schimpfte ausgiebig über sein angeschlagenes Knie.
Kyra erreichte die Wohnzimmertür. Vor dem letzten Schritt durch den Türrahmen zögerte sie plötzlich. Etwas war anders.
Sie war nicht sicher, was es war. Aber irgendetwas hatte sich verändert.
Das Rechteck der Tür war rabenschwarz. Der Flur lag in völliger Finsternis, so undurchdringlich, als hätte jemand einen Vorhang vorgezogen. Kyra hatte mit einem Mal das Gefühl, die Schwärze berühren zu können, wenn sie die Hand danach ausstreckte. Aber die Dunkelheit war nicht ungewöhnlich. Nicht ohne Strom. Nicht ohne Licht.
»Bleib ganz ruhig«, sagte sie sich. »Krieg jetzt nur keine Panik. Nicht wenn Chris dabei ist. Und außerdem: Seit wann fürchtest du dich im Dunkeln?«
Das tat sie nicht, nein, gewiss nicht. Auch wenn sie seit dem ersten Erscheinen der Sieben Siegel allen Grund dazu hatte.
Die Herdbeleuchtung!
Natürlich, das war es! Als sie die Sicherung ausgeschaltet hatte, war das kleine Licht unter der Abzugshaube in der Küche immer noch an gewesen. Der Schein war hinaus in den Flur gefallen und hatte ihr den Weg zurück ins Wohnzimmer gewiesen. Jetzt aber war es aus.
Oder, nein, nicht aus. Es wurde verdeckt. Von etwas, das den gesamten Flur ausfüllte.
»Kyra!«, rief plötzlich Chris hinter ihrem Rücken.
»Die Siegel …!«
Sie musste nicht erst auf ihren Unterarm schauen, um zu wissen, was er meinte. Die Sieben Siegel waren erschienen.
Etwas war hier im Haus. Vor ihr im Flur!
Sie federte einen Schritt zurück und im gleichen Moment hatten sich ihre Augen endlich an die Finsternis gewöhnt. Sie erkannte, was dort draußen im Gang war.
Kein Mensch. Kein Monster.
Es waren Zweige. Ein dichtes Dickicht aus Dornenzweigen. Sie hatten den gesamten Korridor zugewuchert, so lückenlos, dass nicht einmal das Licht aus der Küche hindurchdrang.
»Chris!« Sie schrie seinen Namen und war noch in derselben Sekunde bei ihm, riss ihn am Arm aus dem Sessel.
Er stellte keine Fragen. Der Anblick der Siegel war Erklärung genug. Es ging wieder los. Schon wieder. Kyra erreichte die Terrassentür und riss den Hebel herunter. Die riesige Glaswand schob sich zur Seite. Ein kühler Windstoß wehte den beiden Freunden entgegen. Sie hatten kaum die Terrasse betreten, als vor ihnen ein lautes Knistern und Rasseln ertönte, wie von einem Bulldozer, der durch das Unterholz eines Waldes walzt.
Dornenzweige rasten wie Tentakel eines Oktopus auf sie zu, von irgendwo aus der Finsternis. Chris und Kyra sprangen schreiend zur Seite. Ein ganzes Bündel Zweige schoss an ihnen vorüber. Wie der Gewebestrahl einer Riesenspinne fächerten die Äste auseinander und verschlossen die offene Tür. Das Dornendickicht, das jetzt den ganzen Eingang ausfüllte, sah aus wie hölzerner Stacheldraht.
Chris und Kyra hetzten von der Terrasse auf den Rasen.
Der Erdschatten war weitergewandert und gab die helle Scheibe am Himmel allmählich wieder frei. Aber auch der Mond hatte sich verändert. Es gab keine dunklen Stellen mehr auf seiner Oberfläche, keine Schatten. Er war jetzt eine Kugel aus reinem, fleckenlosem Weiß. Etwas fehlte. (…)
© Omnibus Verlag
Ja, alles in allem waren sie verdammte Nervensägen. Und keines, wirklich keines auf der ganzen Welt, war schlimmer als Tommy.
Tommy war der Graf Dracula der Wickeltische, der Darth Vader aller Krabbelgruppen. Tommy war, daran bestand nicht der leiseste Zweifel, der Teufel persönlich. Oder wenigstens sein Sohn. Jawohl.
Kyra sank in die Sofakissen und schloss einen Moment lang die Augen. Sie würde den Geruch von vollen Windeln für mindestens eine Woche nicht von ihren Fingern losbekommen. Ganz zu schweigen von dem Geschmack des Gemüsebreis, den sie in sich hineingestopft hatte, um Tommy zu zeigen, wie toll das Mistzeug schmeckte.
Aaargh …! Sie hätte sich die Haare ausreißen können vor Wut!
Im offenen Kamin tanzten die letzten Flammen über verglühender Asche. Das Feuer würde jeden Moment ausgehen. Der Anblick beruhigte Kyra ein wenig. Nicht dass sie sich nun besser fühlte … nein, aber sie begann, sich mit der Lage abzufinden. Das war es doch, was das Leben ausmachte: Sich mit Situationen abzufinden, ganz gleich, wie mies es einem ging.
Oje, sie war wirklich in einer grauenvollen Laune! Wenn das so weiterging, würde sie noch den Fernseher einschalten. Und es gab wenig, was deprimierender war als das Samstagsprogramm nach dreiundzwanzig Uhr. Bei ihrem Glück würde sie wahrscheinlich auf das Wort zum Sonntag zappen und mit Sicherheit würde gerade in diesem Moment die Fernbedienung kaputtgehen. Ja, das fehlte eigentlich noch. Tante Kassandra war mit ihrer Freundin Ruth ins Theater gefahren. Nicht hier in Giebelstein, sondern weiter weg, in den nächstgrößeren Ort. Nach der Vorführung würden sie noch in irgendeine Kneipe gehen und Frauengespräche führen. Kyra hatte wenig Hoffnung, dass sie vor drei oder vier Uhr morgens zurück sein würden. Und bis dahin musste sie auf Tommy aufpassen.
Tommy war Ruths Sohn. Ruth war alleinstehend, Kyra hatte Tommys Vater nie kennengelernt. Eigentlich war Ruth ganz in Ordnung – ein Wunder, wenn man bedachte, dass sie es Tag für Tag mit diesem kleinen Ungeheuer aushielt. Sie und Tante Kassandra waren schon lange miteinander befreundet, und früher, als Tommy noch nicht auf der Welt gewesen war, hatte Ruth oft in Tante Kassandras Teeladen gesessen und die neuesten Teemischungen aus aller Welt durchprobiert. Heute aber, mit diesem Monster am Hals, waren die beiden Freundinnen froh, wenn sie ab und an mal einen Abend miteinander verbringen konnten. Und immer war Kyra die Leidtragende. Nicht dass sie den beiden ihren Spaß nicht gönnte. Aber musste denn ausgerechnet sie die Babysitterin spielen?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Gemüsebrei.
Volle Windeln. Geschrei ohne Ende.
Dann lieber doch das Wort zum Sonntag.
Kyra schleppte sich erschöpft zum Fernseher und schaltete ihn ein. Mit der Fernbedienung in der Hand fiel sie zurück in die Kissen.
Auf dem erstbesten Sender, der um diese Uhrzeit keinen Sexfilm aus den Siebzigerjahren zeigte, lief ein kurzer Bericht über die Mondfinsternis, die sich heute Nacht ereignen sollte.
Stimmte ja, das hatte Kyra ganz vergessen. Die Mondfinsternis! Sie hatte eigentlich dabei zuschauen wollen.
Sie sprang auf und lief zur Terrassentür. Die eine Wand des Wohnzimmers bestand komplett aus Glas. Wenn man die riesige Schiebetür beiseitezog, sah man eine Terrasse vor sich, so groß wie bei anderen Häusern der ganze Garten. Ein Bewegungsmelder klickte, als Kyra die Lichtschranke passierte. Scheinwerfer erhellten die vorderen Büsche und Bäume. Ein kühler Wind ließ die Zweige und Blätter rascheln, geisterhaftes Flüstern aus den Tiefen der Nacht. Kyra trat unter dem Vordach hervor und blickte zum Himmel. Erst glaubte sie, es sei zu bewölkt, um die Sterne sehen zu können. Dann aber wurde ihr klar, dass das Licht der Scheinwerfer das Funkeln der Gestirne überlagerte. Wenn sie die Mondfinsternis beobachten wollte, würde sie die Gartenbeleuchtung ausschalten müssen.
Die Frage war nur, wie. Die Lampen flammten auf, sobald sie eine der Lichtschranken durchschritt. Und im Wohnzimmer gab es ihres Wissens keinen Hauptschalter. Aber – Augenblick! – sie wusste doch, wo sich der Sicherungskasten befand! Wenn sie für ein paar Minuten den Strom im Wohnzimmer und im Garten abschaltete, würde sie den Mond und die Sterne besser erkennen können.
Sie setzte ihren Plan gleich in die Tat um, froh, dass es etwas gab, was sie von Tommy und ihrem Selbstmitleid ablenkte. Sie öffnete den Sicherungskasten im Flur, gleich neben der Küchentür. Neben einem Schalter klebte ein Schild mit der Aufschrift »Garten, Wohnzimmer & Flur«. Kyra klappte den Kippschalter nach unten und sogleich erlosch um sie herum das Licht.
Aus der Küche fiel der sanfte Schein der Herdbeleuchtung, und das reichte aus, um den Weg zurück ins finstere Wohnzimmer zu finden. Bald darauf stand sie wieder auf der Terrasse. Das fahle Licht des Mondes warf gespenstische Schatten. Das Wispern der Bäume klang auf einen Schlag ganz anders als zuvor. Heimtückischer, so als heckten jenseits der Blätter geheimnisvolle Wesen Gemeinheiten aus.
Kyra atmete tief durch. Seit sie und ihre drei besten Freunde Nils, Lisa und Chris zu Trägern der Sieben Siegel geworden waren, hatte sich vieles verändert. Mit einem Mal schien es für ein zwölfjähriges Mädchen wie sie ganz normal, zu jeder Tages und Nachtzeit mit den Angriffen blutrünstiger Dämonen rechnen zu müssen.
Nur einmal, nur heute Abend, wollte sie ein ganz normaler Teenager sein.
Aber standen normale Teenager wirklich nachts im Garten und beobachteten eine Mondfinsternis? Egal. Ich bin ich, dachte Kyra. Und ich will jetzt diese verflixte Mondfinsternis sehen. Und zwar sofort!
Als sie zum Mond hochschaute, war er bereits zur Hälfte verschwunden. Kyra wusste, wie selten ein solches Ereignis war. Sonne, Erde und Mond mussten auf einer exakten Linie liegen, damit der Schatten der Erde sich über die helle Mondkugel legte und sie verbarg.
Die Nacht war sternenklar. Auf jenem Stück des Mondes, das noch zu sehen war, konnte Kyra ganz deutlich den sagenumwobenen Mann im Mond erkennen. Eine schattenhafte Gestalt, die auf ihrem Rücken ein Bündel Dornenzweige trug.
Sie konnte jetzt beinahe zusehen, so schnell schob sich der Erdschatten über den Mond. Höchstens zehn Minuten vergingen, dann war die weiße Scheibe fast gänzlich verdeckt. Nur eine hauchfeine Sichel schwebte noch in der Schwärze des Weltalls. Kyra seufzte und wandte sich zurück zur offenen Terrassentür. Plötzlich war ihr unheimlich zumute. Die magischen Siegel, die sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte, erschienen stets dann wie Tätowierungen auf ihrem Unterarm, wenn Kreaturen der Hölle in der Nähe waren. Aber sie warnten Kyra und die anderen nicht nur – sie zogen die Diener der Finsternis auch an wie ein Magnet. Seitdem waren die vier Freunde nirgends mehr sicher. Überall mochten ungeahnte Schrecken auf sie lauern, jederorts verfolgte sie die Furcht vor der Dunkelheit und vor dem, was sie daraus beobachten mochte.
Auch jetzt war Kyra die Schwärze, die sie auf allen Seiten umgab, alles andere als gleichgültig. Trotzdem: Wenn sie auch nur ansatzweise ein Leben führen wollte, wie andere Jugendliche ihres Alters es taten, musste sie gewisse Risiken eingehen. Damit hatte sie sich allmählich abgefunden.
Etwas raschelte in den Büschen. Links von ihr. Kyra wirbelte herum. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie …
Aber es war nicht der Teufel. Auch keiner seiner Diener.
Es war Chris.
»Hi!«, meinte er knapp. Wie immer trug er pechschwarze Kleidung und hob sich kaum von der Dunkelheit ab. Auch sein Haar war schwarz. Im Augenblick war es ein wenig zerzaust, so als sei er gerannt. Kyra atmete erleichtert auf. »Scheiße. Hast mich ganz schön erschreckt.«
»Ich hab geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht. «
Natürlich, die Sicherung! »Ich hab den Strom abgeschaltet. Wahrscheinlich hängt die Klingel mit dran.«
Chris schaute sich im dunklen Garten um. »Wieso läufst du hier draußen rum? So ganz ohne Licht … und ohne Strom?«
Kyra seufzte und deutete zum Himmel. »Die Mondfinsternis. Ich wollte zuschauen.«
Die helle Sichel war jetzt so schmal, dass man sie mit bloßem Auge kaum noch erkennen konnte. Chris suchte einige Sekunden lang mit seinen Blicken den schwarzen Nachthimmel ab, ehe er die kläglichen Überreste des Vollmondes entdeckte.
»Hmhm«, meinte er, was nicht besonders intelligent klang (und das, obwohl Chris ziemlich intelligent war – so schwer es Kyra auch fiel, das zuzugeben).
»Find ich nicht so besonders beeindruckend.«
»Aber ich«, gab sie trotzig zurück. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war jemand, der ihr erklärte, dass sie anders war. Denn normal wollte Kyra mehr als alles andere sein.
Mochte ihre Mutter auch eine berüchtigte Hexenjägerin gewesen sein, die zahllosen Kreaturen der Hölle den Garaus gemacht hatte; und mochte dieses Erbe auch auf Kyra übergegangen sein – alles, was sie wollte, war, so zu sein wie alle anderen. Insgeheim aber wusste sie, dass das unmöglich war. Sie war nun mal eine Trägerin der Sieben Siegel. Und mehr noch als ihre drei Freunde spürte sie die Verantwortung, die mit den magischen Malen einherging. »Ist das Konzert schon zu Ende?«, fragte sie.
Chris schüttelte den Kopf. »Es ist nach zehn. Sie mussten die Lautstärke runterdrehen. Danach war’s langweilig.«
Das war noch eines der Ärgernisse, die Kyra heute Abend in Kauf nehmen musste. Einmal im Jahr fand auf der Wiese vor Giebelsteins Südtor ein Rockkonzert statt, mit Bands aus der Gegend. Nichts Besonderes, aber irgendwie doch ganz witzig. Einfach rumhängen, über die Musik meckern und zuschauen, wie sich die älteren Jugendlichen lächerlich machten, wenn sie ein paar Bier zu viel getrunken hatten. Kleinstadtattraktionen eben. Trotzdem hätte Kyra eine Menge dafür gegeben, gerade heute dabei sein zu können. Sie hatte eine ihrer »Phasen«, wie Tante Kassandra es nannte. Sie hätte aus allen möglichen Gründen losheulen können, und wenn es auch nur so was Albernes wie ein verpasstes Konzert war. Ihre Tante verstand das gut, aber sie hatte die Theaterkarten schon vor Monaten gekauft, und der Termin ließ sich nun mal nicht mehr verschieben.
»Dir geht’s nicht gut, oder?«, bemerkte Chris mit leichter Sorge im Blick.
»Ich komm schon klar. Danke.«
»Wenn es nur wegen des blöden Konzerts ist, dann –«
Kyra unterbrach ihn. »Nicht deswegen. Ich bin in Ordnung, wirklich.«
Einen Augenblick lang sah Chris aus, als wollte er tröstend einen Arm um sie legen. Liebe Güte, dachte Kyra, wenn Lisa das sehen könnte …
Lisa war schrecklich verliebt in Chris, und alle schienen das zu bemerken, außer Chris selbst. Er wiederum machte Kyra schöne Augen und eigentlich fand sie das ganz angenehm. Vor allem heute Abend. Sie konnte ein wenig Trost gut gebrauchen, auch wenn sie das um nichts in der Welt offen zugeben würde.
Aber Chris nahm sie nicht in den Arm. Vielleicht schämte er sich. Kyra redete sich ein, dass es wahrscheinlich ohnehin ziemlich unbeholfen ausgesehen hätte.
Wenn da einen Moment lang ein Knistern zwischen ihnen in der Luft gelegen hatte, so verschwand es jetzt abrupt.
Chris atmete tief durch. »Komm, wir gehen ins Haus.«
Kyra schaute zum Himmel. Keine Spur mehr vom Vollmond, so als hätte ihn ein schwarzes Loch verschluckt, das als Nächstes auch sie selbst, Chris und die ganze Welt verschlingen würde.
Tante Kassandra nahm Johanniskraut, wenn sie solche Launen hatte. Kyra griff stattdessen zu ihrer lauwarmen Cola, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Sie schmeckte wie Spülwasser.
Chris schloss hinter sich die Terrassentür. »Wo ist der Sicherungskasten?«
Kyra stellte die Dose ab. Erst jetzt fiel ihr wieder auf, wie dunkel es im Haus war. Die Schwärze schien von allen Seiten einen Satz auf sie zuzumachen wie eine Horde geschmeidiger Panter.
»Ich mach das schon«, sagte Kyra und tastete sich am Sofa und dem erloschenen Kaminfeuer vorüber. Irgendwo hinter ihr stolperte Chris polternd über Tommys Bauklötze. Fluchend ließ er sich in einen Sessel fallen und schimpfte ausgiebig über sein angeschlagenes Knie.
Kyra erreichte die Wohnzimmertür. Vor dem letzten Schritt durch den Türrahmen zögerte sie plötzlich. Etwas war anders.
Sie war nicht sicher, was es war. Aber irgendetwas hatte sich verändert.
Das Rechteck der Tür war rabenschwarz. Der Flur lag in völliger Finsternis, so undurchdringlich, als hätte jemand einen Vorhang vorgezogen. Kyra hatte mit einem Mal das Gefühl, die Schwärze berühren zu können, wenn sie die Hand danach ausstreckte. Aber die Dunkelheit war nicht ungewöhnlich. Nicht ohne Strom. Nicht ohne Licht.
»Bleib ganz ruhig«, sagte sie sich. »Krieg jetzt nur keine Panik. Nicht wenn Chris dabei ist. Und außerdem: Seit wann fürchtest du dich im Dunkeln?«
Das tat sie nicht, nein, gewiss nicht. Auch wenn sie seit dem ersten Erscheinen der Sieben Siegel allen Grund dazu hatte.
Die Herdbeleuchtung!
Natürlich, das war es! Als sie die Sicherung ausgeschaltet hatte, war das kleine Licht unter der Abzugshaube in der Küche immer noch an gewesen. Der Schein war hinaus in den Flur gefallen und hatte ihr den Weg zurück ins Wohnzimmer gewiesen. Jetzt aber war es aus.
Oder, nein, nicht aus. Es wurde verdeckt. Von etwas, das den gesamten Flur ausfüllte.
»Kyra!«, rief plötzlich Chris hinter ihrem Rücken.
»Die Siegel …!«
Sie musste nicht erst auf ihren Unterarm schauen, um zu wissen, was er meinte. Die Sieben Siegel waren erschienen.
Etwas war hier im Haus. Vor ihr im Flur!
Sie federte einen Schritt zurück und im gleichen Moment hatten sich ihre Augen endlich an die Finsternis gewöhnt. Sie erkannte, was dort draußen im Gang war.
Kein Mensch. Kein Monster.
Es waren Zweige. Ein dichtes Dickicht aus Dornenzweigen. Sie hatten den gesamten Korridor zugewuchert, so lückenlos, dass nicht einmal das Licht aus der Küche hindurchdrang.
»Chris!« Sie schrie seinen Namen und war noch in derselben Sekunde bei ihm, riss ihn am Arm aus dem Sessel.
Er stellte keine Fragen. Der Anblick der Siegel war Erklärung genug. Es ging wieder los. Schon wieder. Kyra erreichte die Terrassentür und riss den Hebel herunter. Die riesige Glaswand schob sich zur Seite. Ein kühler Windstoß wehte den beiden Freunden entgegen. Sie hatten kaum die Terrasse betreten, als vor ihnen ein lautes Knistern und Rasseln ertönte, wie von einem Bulldozer, der durch das Unterholz eines Waldes walzt.
Dornenzweige rasten wie Tentakel eines Oktopus auf sie zu, von irgendwo aus der Finsternis. Chris und Kyra sprangen schreiend zur Seite. Ein ganzes Bündel Zweige schoss an ihnen vorüber. Wie der Gewebestrahl einer Riesenspinne fächerten die Äste auseinander und verschlossen die offene Tür. Das Dornendickicht, das jetzt den ganzen Eingang ausfüllte, sah aus wie hölzerner Stacheldraht.
Chris und Kyra hetzten von der Terrasse auf den Rasen.
Der Erdschatten war weitergewandert und gab die helle Scheibe am Himmel allmählich wieder frei. Aber auch der Mond hatte sich verändert. Es gab keine dunklen Stellen mehr auf seiner Oberfläche, keine Schatten. Er war jetzt eine Kugel aus reinem, fleckenlosem Weiß. Etwas fehlte. (…)
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Autoren-Porträt von Kai Meyer
Kai Meyer, geb. 1969 studierte Film und Theater, arbeitete einige Jahre als Journalist und widmet sich seit 1995 ganz dem Schreiben von Büchern. Viele seiner Romane wurden zu Bestsellern. Seine Bücher erscheinen in mehr als 40 Ländern, u.a. in den USA, in England, Japan, Italien, Frankreich und Russland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kai Meyer
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2007, 126 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Omnibus TB bei Bertelsmann
- ISBN-10: 3570216055
- ISBN-13: 9783570216057
Rezension zu „Der Dornenmann “
»Kai Meyer - Deutschlands Aushängeschild für fantastische Abenteuerliteratur.«
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