Der entseelte Patient
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Derentseelte Patient von AnnaBergmann
LESEPROBE
4.Hightech-Medizin und tabuisierte Magie
DieTransplantationsmedizin hat einen neuartigen Patiententypus mit ganz eigenenpsychischen Konflikten hervorgebracht. Zwischen 50 bis 70 Prozent allerEmpfänger von lebenswichtigen Organen (Herz, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse,Lunge) leiden an Persönlichkeitsveränderungen, Identitätskonflikten, Angst undDepressionen. Ausgehend von den USA, hat sich für diese speziellen Probleme einneuer psychiatrischer Zweig - die »Organ Transplantation Psychiatry(OTP)« - entwickelt. In den ersten beiden Wochen nach der Operation können beiOrganempfängern Wahnzustände, im weiteren Verlauf Depressionen, Psychosen undselbst eine Suizidgefährdung auftreten. Man vermutet eine hohe Dunkelziffer vonpsychischen Erkrankungen nach einer Organtransplantation, da viele dieserPatienten eine Scheu davor haben, ihre tabubelegtenKonflikte offenzulegen.
Diemagische Besetzung des einverleibten Organs, also die Vorstellung von dessenBeseelung mit der Konsequenz, daß der Spender imEmpfänger weiterlebt, ist eine gängige Begleiterscheinung dieser neuenHeilmethode, die in den Aufrufen zur Organspende streng tabuisiert wird.Organempfänger jedoch befinden sich durch die Einverleibung eines Körperteilsvon einer ihnen fremden Person in einer physischen aber auch seelischenExtremsituation. So berichtet ein in einem Herztransplantationszentrumarbeitender Psychiater, die Themen Raub und Tötung beherrschen diese Patientenunmittelbar nach ihrer Transplantation.
Susanne Krahe, eine Nierenempfängerin, hat ihren Dialog mit demOrgan, das sie mit der Seele und der Erlebnisebene des Spenders verbindet,niedergeschrieben:
Mein Schmerz, deinSchmerz. Nie sollst du die Gewalt vergessen, die mir die behandschuhten Prankenangetan haben, als sie mich aus meiner Behausung stahlen. Nie sollst du dieAngst loswerden, die Sehnsucht nach Ruhe. Meine Krankheit, deine Krankheit.Ich bin dein Atem. Ich bin dein Schmerz. Die Hände, diese riesigen Chirurgenhände,haben mich aus meiner Einheit herausgerissen und in den Spiegel entführt. Du,du zahlst das Lösegeld. [...] Sein Schweiß mein Schweiß. Ich war der letzteSchrei; ein Echo, das aus seinem Mund in meinen wanderte, um laut zu werden.Ich war ein zerrissener Gedanke, der sich wie ein Schneeball mit meinenHoffnungen umgab. Ich steckte tief unter der Beatmungsmaske, ich nahm vom Endedes Tubus den Klang seines sterbenden Herzens mit. Ich grub nach seinenunerfüllten Wünschen und steckte sie mir in die Tasche.
LieberUnbekannter.
Liebesunvollendetes Leben.
Lieber angeknüpfterTraum.
SindHirntote je richtige Tote?
Schuldgefühlenach einer Transplantation führen mitunter zu einer ausgeprägten Frömmigkeit,die auf einem Versöhnungswunsch mit dem Spender beruht. Viele Patienten versuchendabei, sich ein positives Bild von dem Spender zu entwerfen, nicht zuletzt, umsich mit dem Fremden in ihrem Leib zu arrangieren. Dennoch gelingt dies nichtallen Transplantationspatienten, so daß sie vonZerstörungsphantasien geplagt werden. Der Herzchirurg Matthias Loebe vomBerliner Herzzentrum schildert einen solchen Fall:
Einsechzehnjähriger Junge hatte furchtbare Probleme. Niemand wußte,warum er so unruhig war. [...] Jedenfalls stellte sich heraus, daß er von der Idee besessen war, daßder Vorbesitzer dieses Herzens nicht gerne Moped gefahren sei. Er selbst fuhrgerne Moped und war sehr gut in der Schule, insbesondere in Mathematik. Jetztüberlegte er sich, ob er mit diesem Herzen noch Moped fahren könne und nochimmer gut in Mathematik sei oder ob das sein ganzes Leben verändert hat.1064
SolchePhantasien entsprechen dem Krankheitsbild der Schizophrenie, das nun alsnormale seelische Reaktion auf diese chirurgische Heilmethode entsteht. Derfranzösische Philosoph Jean-Luc Nancy, der als Herzempfänger sein Erleben aufschrieb,bezeichnet das Organ eines ihm fremden Menschen als »Eindringling«. Die»Fremdheit dieses Zustandes«
verbindeter mit der Abstoßungsreaktion, die tagtäglich von neuem medikamentösunterdrückt werden muß - »als würde sich an dieserStelle ein allgemeines Gesetz des Eindringens zu erkennen geben: Es gibt keineinmaliges Eindringen, sobald es ein Eindringen gibt, vervielfältigt es sichbereits.«
Infolgeeines zerteilten Körpers entsteht auch ein geteiltes Selbst: Eine unheimlichefremde Macht droht die Persönlichkeit des Patienten zu überrollen. Mit dieserMacht wird gesprochen, verhandelt, gekämpft. »Ja, das störrische Weib, wollt'sich nicht gleich unterordnen, aber jetzt dürften wir uns schon zusammengeraufthaben« - in dieses Bild faßt ein herztransplantierterMann sein Erleben mit dem Herzen einer ihm fremden Frau.
DieTatsache, daß die Transplantationsmedizin in der Verteilungvon Organen keine Rücksicht auf die Geschlechtsidentität des Empfängers nimmt,verstärkt Gefühle der Zerrissenheit bei den Empfängern. In der Regel sind esüberwiegend Männer, die ein Herz transplantiert bekommen. »Jetzt bin ich eineFrau«, erklärte ein Herzempfänger seiner Tochter.106s In solchenSelbstbeschreibungen drückt sich ein Identitätsproblem aus, mit dem viele transplantiertePatienten zu kämpfen haben. Dieser Konflikt kann zu regelrechtenHorrorvorstellungen führen, und er liefert auch den Stoff für das neueFilmgenre des Transplantationsthrillers. Kurz nach seiner Herztransplantationdrückte Louis Washkansky sein neues Lebensgefühl aus:
»Ich binein neuer Frankenstein.«
Die Machtmagischer Vorstellungen bzw. Angst und Gefühle der Besessenheit(Doppelgängerphantasien) treten, wie Oliver Decker erklärt, »in mehr oderweniger starker Ausprägung bei einem Großteil der Patienten auf, und dasbereits vor der eigentlichen Transplantation, soviel kann nach den bisherigenForschungsergebnissen als gesichert gelten«. Eine amerikanische Studie überseelische Probleme von 70 herztransplantierten Patientenspricht von dem aus der Geschichte von Kriegen und dem Holocaust bekanntenPhänomen der Überlebensschuld. In einer anderen Untersuchung von über 101Patienten, die auf eine Herzeinpflanzung warteten, wünschten sich spontan 34,5Prozent den Tod eines Spenders. 63,2 Prozent von ihnen fühlten sich aufgrundihrer Todesphantasien schuldig. 27,3 Prozent verspürten das starke Bedürfnis,sämtliche mit der Transplantation verbundenen Gefühle beiseite zu schieben.Schon auf der Warteliste befürchteten 23,7 Prozent der Patienten eineÜbertragung von Persönlichkeitsmerkmalen des Spenders auf ihre Identität.
DiePsychotherapeutin Elisabeth Wellendorf arbeitete mehr als zehn Jahre an derMedizinischen Hochschule Hannover mit transplantierten Patienten. Sieberichtet über die langfristigen Schuldgefühle von Organempfängern. Depressionennach der Transplantation können auch ihre Wurzel in den Todeswünschen aus derWartezeit haben:
Eine20jährige junge Frau [...] wurde nach einer Herz-LungenTransplantationdepressiv, weil sie geträumt hatte, sie stürze sich mit spitzen Zähnen inungeahnter Gier auf den Brustkorb eines anderen Menschen und fresse ihm dasHerz heraus. Sie war sehr erschrocken über ihren Traum und erinnerte sich, wiesie vor der Transplantation oft ungeduldig bei Nebel oder Glatteis gehoffthatte, jetzt habe es jemanden »erwischt«. Sie hatte sich den Tod eines anderenMenschen wünschen müssen, wenn sie leben wollte. Man hatte ihr zwar gesagt, derTod des Spenders habe nichts mit ihr zu tun, aber in der Tiefe des Unbewußten hängen Wunsch und Wunscherfüllung zusammen, unddaher stammte ihr Traumbild.1073
Diesehäufig auftretende Angst vor den im Empfängerleib wirkenden Seelenkräften einesFremden kann durch den Todeswunsch transplantierter Menschen gegenüber demSpender verstärkt werden. Hat sich der Wartelistenpatient erst einmal den Todeines Menschen gewünscht, kann es zu einer Furcht vor dem einverleibten Teildes Toten kommen, das mit einer unheimlichen Wirkmacht ausgestattet wird.
In den USA istder Begriff »donor weather«(»Spenderwetter«) üblich geworden. Er umschreibt das Dilemma, in dem sich die sogenannte Wartelistenpatienten befinden, denn einepotenzierte Todesgefahr für andere - Schnee, Glatteis, Nebel - könnte daslebensrettende Organ bringen. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat die moderneMedizin einen Patiententypus hervorgebracht, der auf den für ihn nützlichen Todanderer Menschen angewiesen ist. Die an den Tod geknüpfte und versprocheneHeilung basiert auf der Einverleibung des Fleisches aus dem Körper einesanderen Menschen und berührt empfindlich das in unserer modernen, aber auch injeder anderen Kultur herrschende Kannibalismustabu - ein Tabu, das eines dergrößten überhaupt darstellt. »Kannibalen« - eine Bezeichnung, die aus der EroberungsgeschichteAmerikas stammt und auf karibische Indianerstämme zurückgeht - waren vonvornherein »die Anderen«. Der Menschenfressereivorwurf stellt keineswegs nur inder westlichen Zivilisation eine der am meisten verbreiteten Methoden dar, umsich von Menschen fremder Kulturen und Religionen abzugrenzen, denn umgekehrtwurde in afrikanischen Ländern auch dem »weißen Mann« Kannibalismus nachgesagt.Anthropophagie gilt in allen Kulturen als das Böseschlechthin - eine Verhaltensweise, die vor dem Hintergrund der Pest- und vorallem den Hungerkatastrophen (vgl. S. 41) Juden, vermeintlichen Hexen und imZuge der kolonialen Unterwerfung anderen Völkern zugeschrieben wurde. Seit dem16. Jahrhundert drang sie als festes Klischee in das europäische Bild von allenfremden Kulturen.
©Aufbau-Verlag GmbH, Berlin 2004
Interview mit Anna Bergmann
Ihr Buch beschreibt in einem weiten,mehr als 500 Jahre umfassenden Bogen eine Kulturgeschichte des Todes, spezielldie Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der modernen Medizin und einemveränderten Verhältnis zum Tod. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? Wiehaben Sie die lange Beschäftigung mit oftmals bedrückenden Inhalten erlebt?
Meine Beschäftigung mit dem Thema beruht sowohl aufpersönlichen Erfahrungen als auch auf meinen früheren Untersuchungen über dieGeschichte der Euthanasie", der Rassenhygiene und der Humangenetik seit dem19. Jahrhundert. Darin habe ich mich mit dem Phänomen einer gewissenKaltblütigkeit der modernen Medizin dieser Epoche gegenüber behinderten undschwachen Menschen, aber auch gegenüber armen Unterschichtpatientenauseinandergesetzt. Schließlich waren es keine Pseudowissenschaftler, sondernUniversitätsprofessoren der Medizin, die eine medizinische Tötung bestimmterPatienten anordneten, durchführten und bereits vor dem Nationalsozialismus aufBasis der im 19. Jahrhundert begründeten Entartungslehre politisch eingeforderthatten.
Wie sehr viele Menschen unseres Kulturkreises habe auch ichpersönliche Erfahrungen mit der Krankenhausmedizin, die Gefühle des nicht Verstandenseinsund damit verbundene Missachtungen des individuell erlebten Leidenshinterlassen können, aber auch zusätzliche Verletzungen wegen der körpernahenärztlichen Macht über Leib und Leben der Patienten. Hinzu kam, dass ich in denachtziger Jahren im heutigen Klinikum Benjamin Franklin in Berlin einen Vortrageines Professors über den Hirntod" als die neue Definition des Sterbens unddes Todes hörte, den ich damals als eine Ungeheuerlichkeit empfand. Denn derReferent stellte den Hirntod in seiner instrumentellen Nacktheit unverblümt als nützlichen Tod" für die medizinische Verwertung von hirntoten Patienten" mitnoch lebendigen Körpern" vor. Dieser Vortrag und die mittlerweile zurNormalität gewordene Praxis, dass sich ein Mensch in der Hoffnung auf Heilungund Hilfe in einem Krankenhaus Ärzten anvertrauen und diese Klinik womöglichals ausgeweidete Leiche verlassen kann, nachdem bei noch schlagendem Herzen ihmOrgane, Haut und Knochen entnommen worden sind, hat mich letztlich dazu bewegt,dieses Thema gründlicher zu bearbeiten.
Um Details beschreiben zu können, ohne die eigeneMitleidsfähigkeit und Sensibilität zu verlieren, brauchte ich starke Nerven. Amschwersten fiel mir die Darstellung der Sektion von Tieren bei lebendigem Leibeund die Menschenversuchspraxis im 19. und 20. Jahrhundert, auf der ja letztlichunser gesamtes medizinisches Basiswissen beruht. Schließlich musste ich dieVersuchsanordnungen genau nachvollziehen, um das Experiment für Laien"verständlich beschreiben zu können. Ich habe aber auf Darstellungen vonbesonders brutalen Menschenexperimenten, die im Bereich der Chirurgie undGynäkologie zu finden waren, gänzlich verzichtet.
Sie schildern in Ihrem Bucheindrücklich, wie sich aus den Pestepidemien des 14. Jahrhunderts weitreichendeVeränderungen im kulturellen Umgang mit dem Tod ergaben. Können Sie uns kurzerzählen, um welche gravierenden Einschnitte es sich damals handelte?
Infolge der Kleinen Eiszeit - ein Klimawandel, der im 13.Jahrhundert einsetzte und sich bis zum 19. Jahrhundert vollzog - gab es im 14.Jahrhundert schwere Hungerkatastrophen, die nicht zuletzt auch zur rasantenVerbreitung der Pest in Europa führten. Diese grassierte in regelmäßigenAbständen bis ins 18. Jahrhundert, was zwangsläufig zu einem Wahrnehmungswandelvon Krankheit und Tod führte. Schon im 14. und zu Beginn des 15. Jahrhundertsentstanden im Zeichen dieses Massensterbens das Lazarett und die Quarantäne alseine Art Lager, in dem Pestverdächtige und Kranke isoliert und bis zu ihremTode interniert wurden. Ebenso kam das außerhalb der Städte und Dörfer gelegeneMassengrab zum Verscharren von Pestleichen auf. Dabei wurden Menschen aussozialen Randgruppen für die Absonderung, Überwachung und Pflege vonPestkranken sowie für die Bestattungstätigkeiten zwangsverpflichtet. Bräucheund Gesetze des Totenkults, wonach die Verstorbenen nicht als endgültig totgalten, sondern mit Totenrechten ausgestattet waren und als weiterhin lebendiggalten, wurden in Pestzeiten komplett aufgehoben. Aus dieser Praxis entstandvor allem die Angst, selbst in einem solchen Grab zu enden - möglicherweiselebendig. Die europaweit im 18. Jahrhundert sich ausbildende Furcht vor demLebendigbegrabenwerden beruhte meines Erachtens auf der mit der Zerstörung desTotenkults verbundenen Einführung des Massengrabes in Pestzeiten. Außerdem wardie Entstehung der Quarantäne mit einem neu aufkommenden Projektionsmusterverknüpft: Sehr schnell standen mobile Randgruppen - vor allem Juden, Zigeuner,Bettler - im Verdacht der Pestverbreitung. Seit dem 17. Jahrhundert schlug sichdieses Projektionsmuster in den Pestordnungen nieder, in denen eine regelrechteJagd auf diese Gruppen als Maßnahme der Seuchenabwehr angeordnet wurde.
Das Pestlazarett und das Massengrab gingen als elementare Merkmalein die Organisation der Massenvernichtungspolitik im Nationalsozialismus ein.Für die Patiententötungen - die Euthanasie"-Aktionen - und für die Vernichtungvon den in Konzentrationslagern internierten Menschen benutzte man den Begriffder Desinfektion". In der antisemitischen Propaganda wurde die jüdischeBevölkerung mit Pestratten und Ungeziefer gleichgesetzt. Die in der Pestpolitikwie auch in den nationalsozialistischen Judenpogromen benutzte Stigma-Farbe wargelb. Ebenso wurden die in den Tötungslagern ankommenden Menschen wie früher inder Quarantäne - in so genannten Kontumaz-Stationen - von Ärzten untersucht undmussten ein Bad" nehmen. Die Massenvernichtung im Nationalsozialismus selbsterfolgte mit dem Pestizid Zyklon B,das aus einem Duschkopf strömte. Auch war das Warschauer Ghetto durch eine sogenannte Seuchenmauer abgeriegelt und als Fleckfiebergebiet" gekennzeichnet,in dem nun das für das ursprüngliche Pestlazarett charakteristische Hunger- undTodesszenario bewusst erzeugt wurde.
Ein Hauptthema Ihres Buches sind dieZusammenhänge von Justiz und Medizin. So wurden in den vergangenenJahrhunderten Sektionen zu Studienzwecken durchgeführt. Oder auch nur als bloßegesellschaftliche Attraktion, z.B. in den Anatomischen Theatern, wo Hingerichtete,so genannte arme Sünder", seziert wurden. Diese Spektakel erscheinen ausheutiger Sicht sehr grausam. Vielleicht sind sie aber auch gar nicht so weitentfernt von Gunther von Hagens Körperwelten". Worin mag die Faszinationsolcher Veranstaltungen gelegen haben?
Gunther von Hagens Körperwelten"-Ausstellung und das vonihm in London aufgeführte Zergliederungsspektakel haben eine bis ins 14.Jahrhundert zurückliegende Vorgeschichte. Die Anatomie verband diewissenschaftliche Erforschung des menschlichen Körpers durch dieLeichenzergliederung von Hingerichteten und die Vivisektion von Tieren miteinem gesellschaftlichen Ereignis, indem die Sektion als Theater inszeniertwurde. In der Tat knüpft Gunther von Hagens genau an diese Tradition an - einUnterschied zu seiner in London vorgeführten und von einer TV-Gesellschaftübertragenen öffentlichen Zergliederung eines Toten, der aus Deutschlandstammte, besteht darin, dass er allen Interessierten Eintritt gewährte. DasAnatomische Theater hingegen hatte noch bis zum 19. Jahrhundert exklusiv diegesellschaftliche Elite zu Gast - Könige, Fürsten, Priester und so genannteehrbare Bürger mit ihren Ehefrauen. Auch waren früher die den AnatomischenTheatern zugehörigen Museen, in denen die aus der Leichensektion gewonnenen undhergestellten Präparate ausgestellt wurden, nur höheren Schichten zugänglich.Immerhin stammten die verwendeten Leichen aus den Hinrichtungen und seit dem18. Jahrhundert außerdem aus der Armutsbevölkerung, was teilweise zu Skandalenund Kämpfen um die Leichen mit den Angehörigen führte.
Die Faszination, auf den Tod" anderer zu schauen, mag u. a. darin begründet liegen, dass dieAnatomie die Illusion erzeugt, wir könnten sowohl das Rätsel des Todes" alsauch das des Lebens" sehen - und wie auch schon Sigmund Freud erklärte: wennwir als Lebende den Tod" schauen, vergewissern wir uns eher unseresLebendigsein, als dass wir uns mit den Toten identifizieren und unsererSterblichkeit bewusst werden. Da der eigene Tod unvorstellbar bleibt, werdenwir insbesondere als unbeteiligte Zuschauer des Todes" von unserer eigenen Unsterblichkeit überzeugt.
Außerdem finden wir heutzutage dieses Phänomennoch deutlicher in den von den Medien zum Konsum gereichten Gewalt- undTodesbildern des Krieges, die für die Zuschauer eine Trennung von Unterhaltungund Information nicht mehr erlauben. Insbesondere das Fernsehen stillt dabeiunsere eigenen Bedürfnisse nach Ordnungsstrukturen in Extremsituationen wieSterben und Gewalterfahrungen, so dass unsere Illusionen und die Wirklichkeitdes Krieges beim Empfang blutiger Todesszenarien in die Sicherheit bietendeWohnstube gänzlich verwischt werden. Vor diesem Hintergrund ist der im ErstenIrakkrieg aufgekommene Witz zu verstehen: Stell Dir vor, es ist Krieg, undDein Fernseher ist kaputt".
Nach der Lektüre Ihres Bucheserscheinen manche Nachrichten in einem neuen Licht. Zum Beispiel die von deramerikanischen Regierung behauptete Bedrohung durch Krankheitserreger, die vonarabischen Terroristen verbreitet worden sein sollten. Sehen Sie solcheMeldungen aus einem "kulturgeschichtlichen Blickwinkel"?
Ja,denn sie entsprechen einem uralten Grundmuster, das im Zuge unserer Geschichtemit der Pest in Europa entwickelt worden ist und sich so verfestigt hat, dasses sehr schnell jedem plausibel erscheint. So ist es kulturhistorischinteressant, dass Ansteckungskrankheiten in der Regel einen weiblichen Namentragen und allein durch ihre Bezeichnung in ein fern liegendes, meist östlichesHerkunftsland verfrachtet werden: z.B. die Cholera asiatica", die EnglischeKrankheit", die Franzosenkrankheit", die Ungarische Krankheit", dieSpanische Grippe". Auch die Siamesischen Zwillinge" wurden nicht zufällig sogetauft und heißen nicht etwa Preußische Zwillinge". Infektionskrankheitenkursieren selbstverständlich in Spanien, Frankreich, Asien oder Ungarn unteranderen Namen - in England z. B. werden Röteln als German Measles" bezeichnet.
BeimAusbruch der Maul- und Klauenseuche im Februar 2001 wurden von den Medien nachgenau diesem Muster Erklärungen geliefert, ohne dass sie in einen Beweiszwanggerieten. Sofort war klar: diese Tierseuche war aus Asien importiert, obwohlsie allein in Deutschland während des 20. Jahrhunderts bereits drei Malaufgetreten war. Auch erschien in der FrankfurterAllgemeinen Zeitung ein Artikel unter dem Titel Die Maul- und Klauenseucheist ein Vorbote der Schwarzen Biologie ". Darin lenkte der Autor den Verdachtauf den Irak. Er holte bis ins 14. Jahrhundert aus, suggerierte die wissenschaftlichnicht haltbare Legende von dem Pestausbruch 1347 als eine von den Tartarenbewusst erzeugte Kriegsstrategie, und er stellte die MKS-Verbreitung inwesteuropäischen Ländern in den Zusammenhang der Produktion biologischer Waffenmit Pest- und Milzbranderregern im Irak. Tatsächlich wurde auch schon im 14.Jahrhundert der Seuchentod als ein von der jüdischen Bevölkerung ausgeübterMord an den Christen interpretiert. Während eine Mordlogik und bestimmteProjektionsmuster, mit denen man u. a. auch den Seuchenursprung auf Asien oderden Orient festschreibt, im Zusammenhang mit MKS reaktualisiert wurden, wargleichzeitig die Tatsache aus dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht, dass dieim großen Maßstab erfolgte Entwicklung biologischer Waffentechnologien von denLabors der westlichen Welt ausging und auch weiterhin dort stattfindet. Unterdem Stichwort Bioterrorismus" hingegen wird der eigentliche Gefahrenherd inLändern des arabischen Raums behauptet.
Ein Kapitel Ihres Buches widmet sichder Transplantationsmedizin und beschreibt die schwierigen Auswirkungen diesermedizinischen Technik auf alle Beteiligten. Ein anderes aktuell brisantes Themasind Experimente an Föten, überhaupt die Gentechnologie. Was halten Sie vondieser zeitgenössischen Ausformung des Experimentes am Menschen?
Wie ichauch in meinem Buch zitiere, beziehen sich namhafte Gentechnologen auf dieBegründung der Anatomie im 16. Jahrhundert und führen die Erforschung desHuman-Genoms unmittelbar auf die Renaissance-Anatomie zurück, was ja gewissermaßenrichtig ist. Denn die Experimente der Gentechnologie, Transplantationsmedizinund Humangenetik beruhen auf Techniken der chirurgischen Zergliederung. Siezerteilen den Menschen in Körper und Geist, in einzelne Organe und schließlichin Gene, die jeweils eine von dem individuellen Menschen abstrahierte autonomeBedeutung gewinnen. Das heißt, sietrennen mit dem Messer,aber auch in unserer Mentalität dasursprünglich Zusammengehörige, so dass wir uns mittlerweile ein neues Herz" ohne den dazugehörigenMenschen, einen Fötus ohne Mutterleib, ein Gen - allenfalls den Träger einesGens" -, nicht aber den Menschen in seiner Gesamtheit vorstellen. Auf derZerteilung und anschließenden Neuzusammensetzung aus tierischen undmenschlichen Genen, Zellen, Embryonen, Organen, Gliedern beruhen die aktuellenExperimente der Gentechnologie. Ich halte diese grenzüberschreitende, diemenschliche Natur nicht respektierende Experimentierweise für verwerflich, undzwar nicht nur aus ethischen Gründen, denn sie beruht auf dem Opfer. Vielmehrsollten sich deren tatsächlich erzielte Erfolge auch an dem Wohl der Patientenund nicht nur an ihren Verheißungen messen lassen. Ich schließe mich in dieserFrage einem Pionier der Genforschung, Erwin Chargaff, an, der später als scharferKritiker der Gentechnologie auftrat. Er betonte anlässlich der im Jahre 2000 verkündeten Entschlüsselung" des Genoms, dass in den USA zwar eine Reihegentherapeutischer Institute gegründet worden sind, aber der einzige Erfolgbisher war, dass ein Mann gestorben ist". Anhand der Transplantationsmedizinhabe ich dargelegt, welche neuen physischen und seelischen Leidensquellen,welche magischen, mit Horrorphantasien verbundenen Ängste die chirurgischeEinverleibung von Organen eines fremden Menschen mit sich bringen kann. Ähnlichstellt auch die auf der Zergliederungsmethode beruhende Forschungspraxis derGentechnologie, die übrigens in der Entwicklung des Xenoschweins" zurÜbertragung tierischer Organe auf den Menschen mit der Transplantationsmedizinvollends identisch ist, nicht nur ein medizinisches, sondern ebenso einkulturelles Experiment an der Gesellschaft insgesamt dar.
Die Fragen stellte UlrikeKünnecke, literaturtest.de.
(Redaktion: Eva Hepper,literaturtest.de)
- Autor: Anna Bergmann
- 2004, 455 Seiten, 23 Abbildungen, Maße: 13,8 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Aufbau-Verlag
- ISBN-10: 3351025874
- ISBN-13: 9783351025878
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