Der Fluch der Odi
Roman
Der Zeitpunkt ist gekommen: Anaíd muss sich auf einen gefahrenvollen Weg begeben, um die Omarhexen vor den Odish zu retten. Verrat, Zurückweisung und die verführerische Kraft der Macht - wird es Anaíd gelingen, den langersehnten Frieden zu bringen?
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Produktinformationen zu „Der Fluch der Odi “
Der Zeitpunkt ist gekommen: Anaíd muss sich auf einen gefahrenvollen Weg begeben, um die Omarhexen vor den Odish zu retten. Verrat, Zurückweisung und die verführerische Kraft der Macht - wird es Anaíd gelingen, den langersehnten Frieden zu bringen?
Klappentext zu „Der Fluch der Odi “
Der Krieg der Hexen steht kurz bevor. Anaíd, die von der Prophezeiung Auserwählte, kann den Moment nicht länger hinauszögern, in dem sie das Zepter ergreifen und die furchterregenden Odish vernichten soll. Wie viel lieber würde sie ein ganz gewöhnliches Leben führen, gemeinsam mit ihrer Mutter Selene, ihrem Freund Roc und natürlich Gunnar, ihrem Vater, den sie gerade erst kennengelernt hat. Doch Anaíd kann ihrer Bestimmung nicht entgehen, und die Hoffnung aller Omar ruht auf ihr. Auf ihrem Weg muss Anaíd eine Reihe schwerer Prüfungen bestehen - und begeht all jene Fehler, die laut der Prophezeiung den Fluch der Odi auslösen. Sie ist zum Sterben verurteilt. Kann sie trotzdem gerettet werden?
Der Krieg der Hexen steht kurz bevor. Anaíd, die von der Prophezeiung Auserwählte, kann den Moment nicht länger hinauszögern, in dem sie das Zepter ergreifen und die furchterregenden Odish vernichten soll. Wie viel lieber würde sie ein ganz gewöhnliches Leben führen, gemeinsam mit ihrer Mutter Selene, ihrem Freund Roc und natürlich Gunnar, ihrem Vater, den sie gerade erst kennengelernt hat. Doch Anaíd kann ihrer Bestimmung nicht entgehen, und die Hoffnung aller Omar ruht auf ihr. Auf ihrem Weg muss Anaíd eine Reihe schwerer Prüfungen bestehen - und begeht all jene Fehler, die laut der Prophezeiung den Fluch der Odi auslösen. Sie ist zum Sterben verurteilt. Kann sie trotzdem gerettet werden?
Lese-Probe zu „Der Fluch der Odi “
Der Fluch der Odi von Maite CarranzaKapitel 1
Die Begegnung
Der große blonde Mann mit den blauen Augen und den kräftigen Händen erdrückte sie fast, so fest
schloss er sie in seine Arme.
Anaíd wusste nicht, ob sie deshalb keine Luft mehr bekam oder weil sie so aufgeregt war.
Seit fünfzehn Jahren träumte sie von dieser Umarmung.
Der Mann war ihr Vater. Er hieß Gunnar, und sie sah ihn heute zum ersten Mal.
In Gunnars Armen überkam Anaíd ein wohliges Kribbeln am ganzen Körper, und sie hätte fast geschnurrt wie ihr Kater Apollo. Sie schmiegte sich an seine Brust, schloss die Augen, genoss den Augenblick, und lauschte seinem Herzschlag, der ihr eben so fremd war wie sein Geruch nach Salpeter oder sein isländischer Akzent. Tock-tock, tock-tock. Das Geräusch erinnerte sie an ihren alten apfelgrünen Wecker.
Ein Vater aus Fleisch und Blut, das war so beruhigend wie Hausschuhe, die morgens am Bett standen, oder ein Regenschirm in der Hand, wenn es regnete.
Ihren Vater mit Hausschuhen oder einem Regenschirm zu vergleichen, war zwar ein wenig unpassend, doch sie hatte keine Zeit, ihn in etwas Poetischeres wie den Ostwind oder die Frühlingssonne zu verwandeln, denn in diesem Moment zerstörte Selene den magischen Augenblick.
»Anaíd!«, schrie sie.
Ihre Stimme hatte denselben vorwurfsvollen Ton, wie früher, wenn Anaíd als kleines Mädchen die Pommes frites mit Fingern aß oder vergaß, die Tür hinter sich zuzumachen.
Anaíd reagierte nicht darauf, doch Gunnar hob den Kopf und löste die Umarmung.
»Selene!«, rief er bewegt aus.
Anaíd fühlte sich mit einem Mal verlassen. So fest und liebe voll war die Umarmung gewesen, sie hätte ruhig länger andauern können.
Ganz anders Selene. »Keinen Schritt weiter«, fauchte sie Gunnar an und
... mehr
drohte ihm mit ihrem Athame.
»Hallo Selene.« Gunnar sah sie liebevoll an.
Auch das war eine Form der Umarmung, doch Selene blieb abwehrend. »Was willst du?«
Sie waren nicht gerade ein harmonisches Paar. Eigentlich gar kein Paar. Und doch pass ten sie zu einander. Wie schade, dachte Anaíd, dass alles so kompliziert war. Und erinnerte sich wehmütig an die Stelle in Selenes Erzählung, als diese sich auf den ersten Blick unsterblich in Gunnar verliebt
hatte. Das war nun fünf zehn Jahre her. Seitdem war viel Wasser den Ebro hinabgeflossen.
»Ich dachte, ihr wärt tot!«
»Das sind wir nicht, wie du siehst. Du kannst also wieder gehen.« Selenes Stimme war so aggressiv wie ihre Körperhaltung.
»Lange Zeit habe ich geglaubt, die Eisbärin hätte euch aufgefressen.«
»Der Einzige, der meine Tochter fressen wollte, warst du«, erwiderte Selene schroff.
Das traf Anaíd wie eine Ohrfeige. Wollte Selene damit etwa sagen, dass ihr Vater sie nicht liebte?
Zum Glück nahm Gunnar den Fehdehandschuh nicht auf, den Selene ihm hin geworfen hatte. »Anaíd ist genauso, wie ich sie mir in meinen Träumen ausgemalt habe.«
»Du und Träume?«, sagte Selene bissig. »Ich dachte, ihr Odish könnt gar nicht träumen.«
»Mama! Hör auf damit!«, fuhr Anaíd sie an. Mehr noch als die Feindseligkeit ihrer Mutter störte sie, dass Selene ausschloss, ihr Vater habe von ihr geträumt. War sie etwa eifersüchtig?
»Es gibt vieles, was du nicht weißt, Selene. Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich die ganze Zeit über gefühlt und wie oft ich an dich und Anaíd gedacht habe.«
Anaíd über lief ein warmer Schauer. »Hast du deshalb die Bärin getötet? Um uns zu rä hen?«, fragte sie.
Gunnar wandte sich ihr zu. Seine Stimme klang auf richtig.
»Es tut mir leid. Ich habe erst später erfahren, dass ihr der Bärin euer Leben zu verdanken hattet. Aber falls es dich tröstet: Ihr Fell zu erbeuten, hat mein Gewissen nicht beruhigt.«
Selene grinste hämisch, oder zumindest kam es Anaíd so vor. »Du und ein Gewissen? Dass ich nicht lache. Willst du mir etwa weismachen, dass du all die Jahre Reue empfunden hast? Das ist ja ganz was Neu es. Soviel ich weiß, haben Odish gar kein Gewissen.«
Anaíd ärgerte sich über ihre Mutter. Selene weidete sich an der Aussprache des Wortes »Odish«, zischte das »sh« besonders scharf. Und zog die Trennlinie zwischen Gunnar und sich damit noch deutlicher. Für sie gab es nur Schwarz und Weiß: sie die gute Omar, Gunnar der böse Odish. Ohne
die Möglichkeit einer Annäherung. Gunnar war ein Aussätziger für sie.
Doch was war dann mit ihr, Anaíd? War sie nicht auch die Tochter eines Odish? Und daher weder das eine noch das andere?
Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass ihre Mutter ihren Vater bei der erstbesten Gelegenheit wieder aus ihrem Leben jagte. »Isst du mit uns zu Abend?«
Schweigen. Die Anspannung war fast mit den Händen zu greifen.
»Ist das eine Einladung?«, fragte Gunnar vorsichtig.
»Na klar, du bist mein Gast«, beeilte sich Anaíd ihrer Mutter zuvor zukommen. »Bitte! Bleib zum Abendessen.«
Dies mal zögerte Gunnar nicht. »Danke, mit Vergnügen.«
»Willst du nicht über Nacht bleiben?«, fügte Anaíd hinzu.
Selene erblasste. Gastfreundschaft war den Omar heilig, keinem Gast durften Tisch und Bett verweigert werden.
Gunnar bemerkte Selenes Not. »Ich kann auch im Auto schlafen oder noch ein paar Kilometer weiter bis Benicarló fahren.«
Selene fuhr zusammen. »Das hättest du nicht verraten müssen!«
»Was?«
»Anaíd weiß nicht, wo wir sind.«
»Du irrst dich«, sagte Anaíd. Sie wusste es genau.
Sie standen auf einer Wiese, wenige Kilometer von der Autobahn entfernt. Die von Bewässerungskanälen durchzogenen weichen Hügel im Westen, die Mandelbaumgärten im Norden, die ein oder andere Möwe am Himmel, das ferne Rauschen des Meeres und der starke, süßliche Duft der blühen den Orangenbäume: Sie hatte richtig getippt, sie waren in der spanischen Levante.
Selene hatte verhindern wollen, dass ihre Tochter die Route erriet, der sie folgten, seit sie Urt, ihr kleines Dorf in den Pyrenäen, verlassen hatten. Sie befanden sich auf der Flucht vor Baalat, der phönizischen Odish – und niemand, absolut niemand, durfte wissen, wo sie waren.
Doch Anaíd hatte einen hervorragenden Orientierungssinn.
Fast unbewusst registrierte sie stets den Stand der Sonne und die Intensität ihrer Strahlen und zog die nötigen Schlüsse da raus. Ihre Großmutter Demeter hatte sie von klein auf daran gewöhnt. Außerdem hatte sie am kalten pyrenäischen Nachthimmel die Sternenkonstellationen zu deuten gelernt. Ein Blick durch die dunklen Scheiben des Wohnmobils und sie wusste, es war Mitternacht und sie befanden sich nur wenige Kilometer westlich des Mittelmeers. Während Anaíd noch darüber nach dachte, hatte Selene hastig etwas aus einer Schublade genommen und hielt es Gunnar verächtlich hin. »Hier, nimm. Wir nehmen keine Geschenke von dir an.«
Anaíd unter drückte einen Schrei und riss ihr die kleine Schachtel aus der Hand. »Das sind meine, er hat sie mir geschenkt.«
Es waren die Rubinohrringe, die Gunnar ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte überbringen lassen.
Selene fuhr Anaíd an: »Gib sie ihm zu rück.«
Anaíd hätte sich gerne aus dem Streit ihrer Eltern herausgehalten, doch wenn sie Gunnar die Ohrringe zurück gab, stellte sie sich klar auf Selenes Seite, und wenn sie sich weigerte, entschied sie sich für Gunnar. »Mama, zwing mich nicht …«
»Ich befehle es dir«, sagte Selene außer sich. »Ich habe sie ihm damals auch zurückgegeben!«
Anaíd holte tief Luft. Das stimmte, doch so wie Selene sich verhielt, musste sie einfach auf Gunnars Seite sein. »Du wolltest sie nicht, aber ich schon. Ich behalte sie.« Selbst erstaunt über ihren Mut, tastete sie nach ihrem linken Ohrläppchen, nahm einen Ohrring zwischen Zeigefinger und Daumen und durch bohrte mit dem edlen spitzen Metall die dünne Haut über einem ihrer Ohrlöcher: Es war lange her, dass sie das letzte Mal Ohrringe getragen hatte. Trotz des stechenden Schmerzes gab sie keinen Mucks von sich und hielt Selenes Blick stand wie bei einem Duell.
Ein warmer Tropfen fiel auf ihr T-Shirt. Es war Blut. Rot wie der in Gold gefasste Ru bin, der nun über ihrer Schulter baumelte. Ungläubig wischte Selene den Blutstropfen ab, während Gunnar sehr vor sichtig den anderen Ohrring nahm und ihn fachmännisch an das rechte Ohr seiner Tochter
steckte. War es Magie oder besonderes Feingefühl? Diesmal spürte Anaíd kaum etwas. Gunnar fasste sie bei den Schultern und betrachtete sie wie ein Kunstwerk. Schließlich lächelte er. Es war ein offenherziges Lächeln, so einnehmend wie seine Umarmung. »Du bist wunderschön.«
Selene ertrug es nicht länger. Sie wischte Gunnars Hände von Anaíds Schultern, schüttelte Anaíd und fragte sie hitzig: »Weißt du, wo her diese Ohrringe stammen?«
Worauf Anaíd rundheraus antwortete: »Aus der Schmuckschatulle der Eisherrin. Du hast es mir doch selbst erzählt.«
»Der mächtigsten Odish auf der nördlichen Erdhalbkugel!«, rief Selene zornig.
Anaíd nickte. Als sie den Kopf neigte, blitzten die Rubine rot auf und blendeten Selene.
»Meine Großmutter«, sagte Anaíd mit Nachdruck.
Da stürzte Selene aus dem Wohnmobil und knallte die Tür hinter sich zu.
»Warte!«, rief Gunnar. »Es ist gefährlich da draußen!« Er wollte ihr schon nach eilen, doch hielt Anaíd ihn am Arm zurück.
»Lass sie. Sie hört so wie so nicht auf dich.«
Das traf sicher zu. Selene war aus gesprochen stur. Doch nicht weniger traf zu, dass Anaíd mit Gunnar allein sein und ihren Triumph bei diesem ersten Kräftemessen mit ihrer Mutter ein wenig genießen wollte.
»Magst du Spiegeleier?«
»Ich li be Spiegeleier.« Gunnar lächelte.
»Es ist alles, was ich kochen kann«, gestand Anaíd und dachte, dass man seinem Vater bestimmt solche Dinge anvertrauen konnte, ohne dumm da zu stehen.
Doch dann stellte sich heraus, dass nur noch ein Ei da war, welches der unerfahrenen Köchin auch noch aus der Hand fiel. Anaíd wusste nicht, wie sie ihren Vater bewirten sollte: Der kleine Kühlschrank bot einen öderen Anblick als die Wüste Arizonas.
Mit ein wenig Fantasie zauberten sie schließlich gemeinsam einen Tomatensalat mit Thunfisch aus der Dose, frittierten ein paar Tiefkühlkroketten mit Hühnchenfüllung und zerteilten einen Apfel in kunstvolle Schnitze, die sie dann mit Honig garnierten.
Gera de als Anaíd die Gläser auf den kleinen Plastiktisch stellen wollte, begann Selenes Handy zu vibrieren, das sie auf dem Stuhl liegen gelassen hatte. Es zeigte eine SMS an, und Anaíd schaute ohne zu zögern nach. Wahrscheinlich eine Nachricht von Elena. Vielleicht tat sie es, weil sie hoffte, etwas von Roc zu hören, und weil Selene sie so lange Zeit von der Au ßenwelt abgeschottet hatte … Jedenfalls siegte ihre Neugier über die Besonnenheit. Sie las die Nachricht und erschrak so sehr, dass das Glas in ihrer anderen Hand zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbrach.
»Was ist denn los?«, fragte Gunnar, der sofort an ihrer Seite war, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht geschnitten hatte.
Erst brachte sie kein Wort heraus. Dann stotterte sie:
»Baalat … Sie ist es. Sie verfolgt mich.«
Sie hielt ihrem Vater das Handy hin, der die Nachricht mit gerunzelter Stirn las.
Anaíd, wo bist du? Ich suche dich und will dich sehen. Ich hab dich sehr lieb und will bei dir sein. Ruf mich an, sag irgendwas, bitte. Dácil.
Gunnar schien ebenso beunruhigt wie Anaíd. Er sah sich den Posteingang an und zeigte ihn ihr. »Es ist nicht ihre erste SMS. Wie es aussieht, hat sie dich regelrecht mit Nachrichten bombardiert.«
Anaíd war ganz durcheinander. »Selene hat gar nichts davon gesagt.«
»Um dir keinen Schrecken einzujagen«, sagte Gunnar.
»Warum verteidigst du sie? Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren, wenn mich jemand verfolgt.«
Gunnar löschte die Nachricht mit einem Knopfdruck und legte das Handy wie der an seinen Platz zurück. »Komm, lass uns alles vergessen und einen schönen Abend verbringen, deine Mutter, du und ich. Ein verstanden?«
Anaíd nickte. Ein schönes Gefühl, einen Vater zu haben, der einem Ruhe und Sicherheit vermittelte und ein wenig Ordnung ins Leben brachte. Selene war einfach zu chaotisch.
Übersetzung: Hanna Grzimek
Für die deutsche Ausgabe © 2008 Berlin Verlag GmbH, Berlin
»Hallo Selene.« Gunnar sah sie liebevoll an.
Auch das war eine Form der Umarmung, doch Selene blieb abwehrend. »Was willst du?«
Sie waren nicht gerade ein harmonisches Paar. Eigentlich gar kein Paar. Und doch pass ten sie zu einander. Wie schade, dachte Anaíd, dass alles so kompliziert war. Und erinnerte sich wehmütig an die Stelle in Selenes Erzählung, als diese sich auf den ersten Blick unsterblich in Gunnar verliebt
hatte. Das war nun fünf zehn Jahre her. Seitdem war viel Wasser den Ebro hinabgeflossen.
»Ich dachte, ihr wärt tot!«
»Das sind wir nicht, wie du siehst. Du kannst also wieder gehen.« Selenes Stimme war so aggressiv wie ihre Körperhaltung.
»Lange Zeit habe ich geglaubt, die Eisbärin hätte euch aufgefressen.«
»Der Einzige, der meine Tochter fressen wollte, warst du«, erwiderte Selene schroff.
Das traf Anaíd wie eine Ohrfeige. Wollte Selene damit etwa sagen, dass ihr Vater sie nicht liebte?
Zum Glück nahm Gunnar den Fehdehandschuh nicht auf, den Selene ihm hin geworfen hatte. »Anaíd ist genauso, wie ich sie mir in meinen Träumen ausgemalt habe.«
»Du und Träume?«, sagte Selene bissig. »Ich dachte, ihr Odish könnt gar nicht träumen.«
»Mama! Hör auf damit!«, fuhr Anaíd sie an. Mehr noch als die Feindseligkeit ihrer Mutter störte sie, dass Selene ausschloss, ihr Vater habe von ihr geträumt. War sie etwa eifersüchtig?
»Es gibt vieles, was du nicht weißt, Selene. Du hast ja keine Ahnung, wie ich mich die ganze Zeit über gefühlt und wie oft ich an dich und Anaíd gedacht habe.«
Anaíd über lief ein warmer Schauer. »Hast du deshalb die Bärin getötet? Um uns zu rä hen?«, fragte sie.
Gunnar wandte sich ihr zu. Seine Stimme klang auf richtig.
»Es tut mir leid. Ich habe erst später erfahren, dass ihr der Bärin euer Leben zu verdanken hattet. Aber falls es dich tröstet: Ihr Fell zu erbeuten, hat mein Gewissen nicht beruhigt.«
Selene grinste hämisch, oder zumindest kam es Anaíd so vor. »Du und ein Gewissen? Dass ich nicht lache. Willst du mir etwa weismachen, dass du all die Jahre Reue empfunden hast? Das ist ja ganz was Neu es. Soviel ich weiß, haben Odish gar kein Gewissen.«
Anaíd ärgerte sich über ihre Mutter. Selene weidete sich an der Aussprache des Wortes »Odish«, zischte das »sh« besonders scharf. Und zog die Trennlinie zwischen Gunnar und sich damit noch deutlicher. Für sie gab es nur Schwarz und Weiß: sie die gute Omar, Gunnar der böse Odish. Ohne
die Möglichkeit einer Annäherung. Gunnar war ein Aussätziger für sie.
Doch was war dann mit ihr, Anaíd? War sie nicht auch die Tochter eines Odish? Und daher weder das eine noch das andere?
Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass ihre Mutter ihren Vater bei der erstbesten Gelegenheit wieder aus ihrem Leben jagte. »Isst du mit uns zu Abend?«
Schweigen. Die Anspannung war fast mit den Händen zu greifen.
»Ist das eine Einladung?«, fragte Gunnar vorsichtig.
»Na klar, du bist mein Gast«, beeilte sich Anaíd ihrer Mutter zuvor zukommen. »Bitte! Bleib zum Abendessen.«
Dies mal zögerte Gunnar nicht. »Danke, mit Vergnügen.«
»Willst du nicht über Nacht bleiben?«, fügte Anaíd hinzu.
Selene erblasste. Gastfreundschaft war den Omar heilig, keinem Gast durften Tisch und Bett verweigert werden.
Gunnar bemerkte Selenes Not. »Ich kann auch im Auto schlafen oder noch ein paar Kilometer weiter bis Benicarló fahren.«
Selene fuhr zusammen. »Das hättest du nicht verraten müssen!«
»Was?«
»Anaíd weiß nicht, wo wir sind.«
»Du irrst dich«, sagte Anaíd. Sie wusste es genau.
Sie standen auf einer Wiese, wenige Kilometer von der Autobahn entfernt. Die von Bewässerungskanälen durchzogenen weichen Hügel im Westen, die Mandelbaumgärten im Norden, die ein oder andere Möwe am Himmel, das ferne Rauschen des Meeres und der starke, süßliche Duft der blühen den Orangenbäume: Sie hatte richtig getippt, sie waren in der spanischen Levante.
Selene hatte verhindern wollen, dass ihre Tochter die Route erriet, der sie folgten, seit sie Urt, ihr kleines Dorf in den Pyrenäen, verlassen hatten. Sie befanden sich auf der Flucht vor Baalat, der phönizischen Odish – und niemand, absolut niemand, durfte wissen, wo sie waren.
Doch Anaíd hatte einen hervorragenden Orientierungssinn.
Fast unbewusst registrierte sie stets den Stand der Sonne und die Intensität ihrer Strahlen und zog die nötigen Schlüsse da raus. Ihre Großmutter Demeter hatte sie von klein auf daran gewöhnt. Außerdem hatte sie am kalten pyrenäischen Nachthimmel die Sternenkonstellationen zu deuten gelernt. Ein Blick durch die dunklen Scheiben des Wohnmobils und sie wusste, es war Mitternacht und sie befanden sich nur wenige Kilometer westlich des Mittelmeers. Während Anaíd noch darüber nach dachte, hatte Selene hastig etwas aus einer Schublade genommen und hielt es Gunnar verächtlich hin. »Hier, nimm. Wir nehmen keine Geschenke von dir an.«
Anaíd unter drückte einen Schrei und riss ihr die kleine Schachtel aus der Hand. »Das sind meine, er hat sie mir geschenkt.«
Es waren die Rubinohrringe, die Gunnar ihr zu ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte überbringen lassen.
Selene fuhr Anaíd an: »Gib sie ihm zu rück.«
Anaíd hätte sich gerne aus dem Streit ihrer Eltern herausgehalten, doch wenn sie Gunnar die Ohrringe zurück gab, stellte sie sich klar auf Selenes Seite, und wenn sie sich weigerte, entschied sie sich für Gunnar. »Mama, zwing mich nicht …«
»Ich befehle es dir«, sagte Selene außer sich. »Ich habe sie ihm damals auch zurückgegeben!«
Anaíd holte tief Luft. Das stimmte, doch so wie Selene sich verhielt, musste sie einfach auf Gunnars Seite sein. »Du wolltest sie nicht, aber ich schon. Ich behalte sie.« Selbst erstaunt über ihren Mut, tastete sie nach ihrem linken Ohrläppchen, nahm einen Ohrring zwischen Zeigefinger und Daumen und durch bohrte mit dem edlen spitzen Metall die dünne Haut über einem ihrer Ohrlöcher: Es war lange her, dass sie das letzte Mal Ohrringe getragen hatte. Trotz des stechenden Schmerzes gab sie keinen Mucks von sich und hielt Selenes Blick stand wie bei einem Duell.
Ein warmer Tropfen fiel auf ihr T-Shirt. Es war Blut. Rot wie der in Gold gefasste Ru bin, der nun über ihrer Schulter baumelte. Ungläubig wischte Selene den Blutstropfen ab, während Gunnar sehr vor sichtig den anderen Ohrring nahm und ihn fachmännisch an das rechte Ohr seiner Tochter
steckte. War es Magie oder besonderes Feingefühl? Diesmal spürte Anaíd kaum etwas. Gunnar fasste sie bei den Schultern und betrachtete sie wie ein Kunstwerk. Schließlich lächelte er. Es war ein offenherziges Lächeln, so einnehmend wie seine Umarmung. »Du bist wunderschön.«
Selene ertrug es nicht länger. Sie wischte Gunnars Hände von Anaíds Schultern, schüttelte Anaíd und fragte sie hitzig: »Weißt du, wo her diese Ohrringe stammen?«
Worauf Anaíd rundheraus antwortete: »Aus der Schmuckschatulle der Eisherrin. Du hast es mir doch selbst erzählt.«
»Der mächtigsten Odish auf der nördlichen Erdhalbkugel!«, rief Selene zornig.
Anaíd nickte. Als sie den Kopf neigte, blitzten die Rubine rot auf und blendeten Selene.
»Meine Großmutter«, sagte Anaíd mit Nachdruck.
Da stürzte Selene aus dem Wohnmobil und knallte die Tür hinter sich zu.
»Warte!«, rief Gunnar. »Es ist gefährlich da draußen!« Er wollte ihr schon nach eilen, doch hielt Anaíd ihn am Arm zurück.
»Lass sie. Sie hört so wie so nicht auf dich.«
Das traf sicher zu. Selene war aus gesprochen stur. Doch nicht weniger traf zu, dass Anaíd mit Gunnar allein sein und ihren Triumph bei diesem ersten Kräftemessen mit ihrer Mutter ein wenig genießen wollte.
»Magst du Spiegeleier?«
»Ich li be Spiegeleier.« Gunnar lächelte.
»Es ist alles, was ich kochen kann«, gestand Anaíd und dachte, dass man seinem Vater bestimmt solche Dinge anvertrauen konnte, ohne dumm da zu stehen.
Doch dann stellte sich heraus, dass nur noch ein Ei da war, welches der unerfahrenen Köchin auch noch aus der Hand fiel. Anaíd wusste nicht, wie sie ihren Vater bewirten sollte: Der kleine Kühlschrank bot einen öderen Anblick als die Wüste Arizonas.
Mit ein wenig Fantasie zauberten sie schließlich gemeinsam einen Tomatensalat mit Thunfisch aus der Dose, frittierten ein paar Tiefkühlkroketten mit Hühnchenfüllung und zerteilten einen Apfel in kunstvolle Schnitze, die sie dann mit Honig garnierten.
Gera de als Anaíd die Gläser auf den kleinen Plastiktisch stellen wollte, begann Selenes Handy zu vibrieren, das sie auf dem Stuhl liegen gelassen hatte. Es zeigte eine SMS an, und Anaíd schaute ohne zu zögern nach. Wahrscheinlich eine Nachricht von Elena. Vielleicht tat sie es, weil sie hoffte, etwas von Roc zu hören, und weil Selene sie so lange Zeit von der Au ßenwelt abgeschottet hatte … Jedenfalls siegte ihre Neugier über die Besonnenheit. Sie las die Nachricht und erschrak so sehr, dass das Glas in ihrer anderen Hand zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbrach.
»Was ist denn los?«, fragte Gunnar, der sofort an ihrer Seite war, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht geschnitten hatte.
Erst brachte sie kein Wort heraus. Dann stotterte sie:
»Baalat … Sie ist es. Sie verfolgt mich.«
Sie hielt ihrem Vater das Handy hin, der die Nachricht mit gerunzelter Stirn las.
Anaíd, wo bist du? Ich suche dich und will dich sehen. Ich hab dich sehr lieb und will bei dir sein. Ruf mich an, sag irgendwas, bitte. Dácil.
Gunnar schien ebenso beunruhigt wie Anaíd. Er sah sich den Posteingang an und zeigte ihn ihr. »Es ist nicht ihre erste SMS. Wie es aussieht, hat sie dich regelrecht mit Nachrichten bombardiert.«
Anaíd war ganz durcheinander. »Selene hat gar nichts davon gesagt.«
»Um dir keinen Schrecken einzujagen«, sagte Gunnar.
»Warum verteidigst du sie? Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren, wenn mich jemand verfolgt.«
Gunnar löschte die Nachricht mit einem Knopfdruck und legte das Handy wie der an seinen Platz zurück. »Komm, lass uns alles vergessen und einen schönen Abend verbringen, deine Mutter, du und ich. Ein verstanden?«
Anaíd nickte. Ein schönes Gefühl, einen Vater zu haben, der einem Ruhe und Sicherheit vermittelte und ein wenig Ordnung ins Leben brachte. Selene war einfach zu chaotisch.
Übersetzung: Hanna Grzimek
Für die deutsche Ausgabe © 2008 Berlin Verlag GmbH, Berlin
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Autoren-Porträt von Maite Carranza
Maite Carranza, geb. 1958 in Barcelona, studierte Anthropologie und arbeitete als Gymnasiallehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen und Drehbüchern widmete. Sie hat über vierzig Titel veröffentlicht und wurde mit bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Kritikerpreis Serra d Or und dem Edebe-Preis für Kinderliteratur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maite Carranza
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2008, 477 Seiten, Maße: 13,5 x 22,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Hanna Grzimek
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827052963
- ISBN-13: 9783827052964
Rezension zu „Der Fluch der Odi “
»Ungeheuer dramatisch erzählt Maite Carranza eine Geschichte voller Magie, deren Protagonisten allesamt Frauen sind. Eine der besten Fantasy-Geschichten dieses Herbstes!«
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