Der grüne Glasstein
Roman. Deutsche Erstausgabe
Von der Magie des Erwachsenwerdens.Cathreen will weg von zuhause: Mit ihrer Mutter versteht sie sich immer schlechter, und dann kommt auch noch eine Mitschülerin bei einer unsinnigen Hänselei ums Leben. Also fährt sie von Kanada nach London zu ihrem Vater....
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Produktinformationen zu „Der grüne Glasstein “
Klappentext zu „Der grüne Glasstein “
Von der Magie des Erwachsenwerdens.Cathreen will weg von zuhause: Mit ihrer Mutter versteht sie sich immer schlechter, und dann kommt auch noch eine Mitschülerin bei einer unsinnigen Hänselei ums Leben. Also fährt sie von Kanada nach London zu ihrem Vater. Der aber steckt in Schwierigkeiten, und so wird Cathreens Reise zum ungewollten Abenteuer. Überraschende Hilfe kommt von dem Glasstein, den sie zufällig bei ihrer Mutter eingesteckt hat. Und von dem Kater, der sie die ganze Zeit zu begleiten scheint ...
Von der Magie des Erwachsenwerdens.
Cathreen will weg von zuhause: Mit ihrer Mutter versteht sie sich immer schlechter, und dann kommt auch noch eine Mitschülerin bei einer unsinnigen Hänselei ums Leben. Also fährt sie von Kanada nach London zu ihrem Vater. Der aber steckt in Schwierigkeiten, und so wird Cathreens Reise zum ungewollten Abenteuer. Überraschende Hilfe kommt von dem Glasstein, den sie zufällig bei ihrer Mutter eingesteckt hat. Und von dem Kater, der sie die ganze Zeit zu begleiten scheint ...
'Ein wunderschönes Buch. Man ist geblendet, man folgt der Rätselspur und ist atemlos vor Spannung.' Ottawa Citizen
"Bowering kann alles beschreiben. Von den Grausamkeiten über die Schönheit der Landschaften bis zu den zarten Gefühlen. Eine Schriftstellerin von großer Kraft und Eleganz." National Post
Cathreen will weg von zuhause: Mit ihrer Mutter versteht sie sich immer schlechter, und dann kommt auch noch eine Mitschülerin bei einer unsinnigen Hänselei ums Leben. Also fährt sie von Kanada nach London zu ihrem Vater. Der aber steckt in Schwierigkeiten, und so wird Cathreens Reise zum ungewollten Abenteuer. Überraschende Hilfe kommt von dem Glasstein, den sie zufällig bei ihrer Mutter eingesteckt hat. Und von dem Kater, der sie die ganze Zeit zu begleiten scheint ...
'Ein wunderschönes Buch. Man ist geblendet, man folgt der Rätselspur und ist atemlos vor Spannung.' Ottawa Citizen
"Bowering kann alles beschreiben. Von den Grausamkeiten über die Schönheit der Landschaften bis zu den zarten Gefühlen. Eine Schriftstellerin von großer Kraft und Eleganz." National Post
Lese-Probe zu „Der grüne Glasstein “
Der Kater, der Hund und der EselDer Kater traf den Hund und den Esel auf einer Straße. Die Straße führte an einem Fluss entlang oder an einem Pfad aus Sternen.
"Ihr habt ganz schön lange gebraucht, um herzukommen.
Wo habt ihr denn gesteckt?", fragte der Kater. "Ich bin im Eis in den Bergen gewesen", sagte der Hund. "Ich war auf dem Moor und habe ein leer stehendes Haus
beobachtet", sagte der Esel. "Und du, wo bist du gewesen?" Der Kater wandte sich ab und schaute den langen, dunklen Weg hinunter, der vor im lag. "Zuletzt war ich an einem See."
Der Hund und der Esel sahen einander an. Dann ergriff der Esel das Wort. "Du weißt, dass wir die Steine nicht aus dem Auge lassen sollen!"
Der Kater, Cutthroat, räusperte sich. Es fühlte sich an, als hätte er Asche in der Kehle.
"Es ist wegen Jones, nicht wahr?", sagte der Esel. "Du kannst nicht einfach tun, was dir in den Sinn kommt, Cutthroat. Wenn das nun jeder täte? Es könnte sonstwas passieren."
"Genau", sagte Cutthroat. "Darauf hoffe ich ja gerade." "Was sollen wir deiner Meinung nach tun?", fragte der Hund. "Haltet die Augen offen, schaut euch nach Gelegenheiten um, gebraucht euren Verstand..."
"Aber wir haben so etwas noch nie getan", wandte der Esel ein.
"Tu's mir zuliebe, Knowall."
"Warum nicht?", sagte der Hund. "Wenn es Cutthroat glücklich macht?"
"Du ahnst nicht, was es mir bedeuten würde, Breaker." Cutthroat blinzelte schnell. "Ihr werdet es nicht bereuen." Er blickte auf seine Pfoten hinunter. Sie waren voller Schmutz und Blut. Wie mühsam es war, eine Schuld einzulösen. Wie schwer, ein guter Freund zu sein.
Der weiße Hund war schon ein ferner Froststreifen, der den Himmel zerschnitt. Knowall und Cutthroat schauten ihm nach. Der Esel stampfte missmutig mit einem Huf auf. "Bist du dir ganz sicher?", fragte er.
Der Kater holte tief Luft. "Ja."
Cutthroat
Was ich getan habe, als Jones starb?
Nichts.
Ich habe einen grünen Stein bewacht.
Ich habe auf Anweisungen
... mehr
gewartet. Was ich hätte tun sollen:
Alles, um Jones zu beschützen.
Die Regeln brechen.
Ein Versprechen, eine Geschichte, die Jag Cathreen erzählt hat
Ein Fluss windet sich über die ganze Welt. Jetzt, nachdem die Kontinente auseinandergedriftet sind, kann man nicht mehr seinen genauen Verlauf erkennen. Vor langer Zeit jedoch konnte man ihn selbst durch Ozeane verfolgen, die damals noch längst nicht so tief waren wie heute. Man nannte ihn den Amazonas, den Mackenzie, den Nil, den Tigris, den Limpopo, aber es war ein und derselbe Fluss. Dieser Fluss brachte Neuigkeiten von einem Teil der Welt zum anderen. Warfst du ein Blatt in diesen Fluss, würde es an einer bestimmten Stelle wieder zu dir zurückkehren.
Der Fluss entsprang im Himmel. Milchigweiß floss er an einer gewaltigen Sternenwolke vorbei, dann stürzte er über den Rand in einem Schwall Mondlicht zur Erde. Seelen folgten diesem Fluss in Erwartung ihrer Geburt, und längs desselben Flusses, im Schatten des Mondes, kehrten sie nach ihrem Tod zurück. Soweit ich weiß, funktioniert das immer noch so. Es herrschte Vollmond, als du geboren wurdest, Cathreen, und ich werde vermutlich in der Dunkelheit sterben, wie deine Mutter immer sagt. Nicht so bald allerdings, also mach dir keine Sorgen. Mich beunruhigt es nicht. Ich werde zu den Sternen zurückkehren, und wenn das geschieht, werde ich auf dich hinabschauen und du wirst zu mir hinaufblicken, und auf die eine oder andere Weise werden du und ich immer zusammen bleiben.
Einige Leute werden dir einzureden versuchen, dass zwischen dem Fluss und der Erde keine Verbindung besteht. Glaub' das bloß nicht. Der Fluss trägt Teile der Erde als Treibschlamm mit sich und hält sie in Bewegung: So wandert die Erde, Stück für Stück, durch die Zeit. Das bedeutet, dass du, wo immer du auch sein magst, zu Hause bist: Ein Teil dessen, worauf du stehst, ist schon einmal dort gewesen, wo du gewesen bist, und das Blatt, das du vor langer Zeit in den Fluss geworfen hast, ist auf seinem Weg.
Wo immer ich bin, du kannst zu mir kommen. Wo immer du auch bist, ich werde dich finden.
Als du klein warst, hast du mir eine Geschichte über Einhörner erzählt. Du hast gesagt, sie könnten fliegen, und dass es keine mehr gibt, weil sie sich geweigert hätten, die Arche zu besteigen, als Noah sie dazu aufforderte. Sie flogen weiter umher, bis ihre Kräfte sie verließen, und sie ertranken; du hast gesagt, ihre Seelen lebten noch weitere zehn Tage, und erst dann starben sie, und ihre Gebeine sind im Sand an dem Strand vergraben, wo ich mit dir und deiner Mutter immer zum Angeln hingefahren bin. Ich habe dich gefragt, woher du das wüsstest. Du hast gesagt, du hättest es zunächst gar nicht gewusst, doch seitdem du angefangen hättest, mir davon zu erzählen, wüsstest du, dass es wahr ist. Cathreen, du brauchst nicht darauf zu hören, was andere dir erzählen, weil du es tief in deinem Inneren schon alles weißt.
Meine Schwester Jen und ich sind immer einen Hügel ganz in der Nähe des Ortes in England, in dem wir wohnten, hinaufgeklettert. Auf diesem Hügel stand ein Turm. Du konntest dort oben stehen und dir vorstellen, du blicktest auf die ganze Erde hinunter. Das verlieh dir ein Gefühl der Macht, gerade so, als gäbe es nichts, was du nicht vollbringen könntest, wenn du es nur wolltest. Dann, mit einsetzender Dämmerung kam Nebel aus den Gräben und Sümpfen heraufgewirbelt und verwandelte alles. Letzten Endes hattest du von nichts eine Ahnung! Du hörtest merkwürdige Geräusche, Menschen und Pferde, und Hunde bellen: Große wirbelnde Schatten wie Staub und Grün und Gold - Geister, die in die Hügelflanke fuhren. Ich begann zu zittern und drängte mich dicht an Jen, aber ich sagte nie etwas. Du brauchst nicht immer über die Dinge zu reden, um zu begreifen, was los ist.
Doch wir blieben dort oben stehen, denn nach einer Weile begann der Nebel sich zu senken, und dann sahst du die Sterne, Millionen von Sternen, so nahe, dass du nach einer Handvoll greifen und sie an deine Brust ziehen konntest, aber das wolltest du gar nicht. Du wolltest, dass sie für immer dort oben blieben. Der Himmel war unendlich. Solche Himmel haben wir hier nicht. Wir haben Berge und Bäume und Landschaft. Es ist, als lebte man in einem gottverdammten Reiseprospekt.
Also breitete Jen ihren Mantel aus, und wir legten uns darauf und schauten hinauf. Sie brachte mir die Namen der Sternbilder bei, wie unser Dad sie ihr beigebracht hatte, ehe er dorthin aufbrach, wo auch immer er hingegangen ist. Irland vielleicht, sicher war ich nie. Ich habe ihn nie kennen gelernt, Cathreen, und deine Großmutter ist bei meiner Geburt gestorben. Der Himmel drehte sich, und du fühlst dich so klein und schwindlig und auserwählt, während du dich langsam auf der sich drehenden Erde im Kreis bewegtest wie ein Teller, der an einer festlichen Tafel herumgereicht wird; du warst eine Ameise, doch warst du genau im Mittelpunkt, Teil all dessen, was wirklich zählte, und in manchen Nächten ergoss sich dieser Fluss aus Sternen geradewegs aus dem Himmel über dich, und du spürtest die Seelen, die ihn hinauf- und hinunterwanderten, und von denen einige in ihren Träumen das Sterben probten oder das Geborenwerden, während andere wirklich in Erscheinung traten. Ich dachte dann an die grün-goldenen Ladies und Edelmänner auf ihren Pferden, und an die Hunde, und ich fragte mich, ob auch sie ein Teil dessen waren. Jen erzählte mir Geschichten von den Feen, die früher einmal Engel im Himmel gewesen waren, und von den drei Steinen, die Luzifer aus seiner Krone verloren hatte, und wie die Menschen immer noch nach ihnen suchten, und dass der Hügel, auf dem wir lagen, in der Nähe der Stelle war, zu der diese Steine zurückzukehren versuchten, wenn es ihnen nur irgend möglich wäre, weil sie seinerzeit genau dort verloren gegangen waren. Und ich überlegte, wie viel Geld ich kriegen würde, falls ich sie je fände, und was ich Jen davon kaufen würde und was ich mit Colin Printer anstellen würde, der immer um sie herumscharwenzelte, obwohl er doch schon alt war und stank, weil er sich nie wusch; und wir waren auf ihn oder seine kostenlosen Ausflüge an den Strand oder seine Sonntagsfahrten in seinem Vauxhall nicht angewiesen. Meine Güte, Cathreen. Manchmal fühlte ich mich so wohl. Und dann gingen wir zu dem Haus zurück, in dem wir wohnten, und tranken Kakao, und Jen war glücklich, bis Colin hereinkam.
Es gehört so wenig dazu, einen Menschen glücklich zu machen, Cathreen, merk dir das.
Gute Nacht, meine Süße. Morgen früh sehen wir uns bestimmt wieder. Jeden Morgen, so lange du lebst. Ehrlich. Immer. Das verspreche ich.
Zeit ist der Schatten eines schnellen Vogels, der immerzu in Bewegung ist.
Stella Langdale in einem Brief an K.E. Maltwood
Cathreen
Von den Bäumen bis zur rechten Seite des Anlegers konnte man den schmutzigen Sand des Ufers und sein überhängendes Strauchwerk sehen, die Äste schwer von toten, noch nicht abgeworfenen Blättern. Ein leichter Wind kräuselte die Oberfläche des kleinen Sees. Ansonsten gab es nur helles Mondlicht und die kastenförmigen Schatten, die die Schwimmstege und ihre Hütten warfen, wo Cathreen vor langer Zeit schwimmen gelernt hatte. Cathreen folgte den anderen von den Bäumen über den Parkplatz; sie wehrte sich nicht, als die Benommenheit Besitz von ihr ergriff, während sie sich alleine ihren Weg zu den Pfählen unterhalb des Bootsschuppens suchte. Der Matsch sog sich an ihren Turnschuhen fest; winzige Wellen plätscherten träge ans Ufer. Sie musste pinkeln und blickte sich um. Die anderen lachten und schwatzten und schubsten sich gegenseitig vorwärts. Am Wasser stolperte einer von ihnen. "Scheiße! Das wirst du mir büßen!", hörte sie ein Mädchen rufen. Cathreen stapfte über eine kleine Böschung, stieß mit dem Fuß gegen einen Holzstamm, und ihre Nase füllte sich mit dem Geruch faulender Vegetation, während sie ihre Jeans hinunterzog und sich hinhockte.
Was tun wir hier eigentlich? Das ist doch Bockmist. Guck dir den Scheiß doch mal an! Die Stimmen von Neuankömmlingen, die aus einem Auto stiegen, das Dröhnen der Bässe aus dem Radio, bis der Motor abgestellt wurde. Sie hielt sich in dem niedrigen Gras zwischen Dornenbüschen verborgen und kämpfte sich damit ab, ihre Jeans wieder hochzuziehen. Die Scheinwerfer des Wagens brannten immer noch und beleuchteten einen Pfad, der zum See führte. "He, Fawn", rief ein Junge unten am Ufer, "willst du mit mir gehen?" Ein Mädchen löste sich von dem Arm von wem auch immer und schlenderte über das Gras zu dem Sandstreifen. Dort unten, wo sich die anderen in einem Pulk gesammelt hatten, war es noch dunkler, aber Cathreen konnte sehen, wie ihre Freundinnen Judy und Toni sich von der Gruppe entfernten, um mit dem Mädchen zu sprechen. Dieses Mädchen, Fawn, taumelte ein wenig, als wäre sie benommen oder betrunken. Als niemand in ihre Richtung blickte, hastete Cathreen die Böschung hinunter, blieb aber abrupt stehen, als sie ein kaputtes Fahrrad halb vergraben im Schlick liegen sah. "Ist das dein Rad, Toni?", rief sie. "Hast es zum Geburtstag bekommen?"
"Verpiss dich, Cathreen", kam die Antwort. "Kannst es gern behalten." Dann hörte sie Toni zu jemandem sagen: "Zieh dir die Schuhe aus, Schätzchen."
Cathreen bückte sich und blickte hinunter auf die verbogenen Felgen und die zerbrochenen Speichen, die kläglichen Überreste einer Zehngangschaltung. Niemand fuhr ein Rad mit zehn Gängen. Dies war nur ein Haufen Schrott und nie etwas anderes gewesen.
Bei dem Gestank der Algen und des brackigen Wassers wurde ihr unwillkürlich übel. Sie ging näher zu der Stelle heran, an der das Wasser die Pfähle umspülte; das dumpfe Schlagen der Wellen wie schlaffe Lippen an den Holzpflöcken. Plötzlich sah sie ein Bild von sich selber, ihrem Vater und ihrer Mutter und Tink, dem Freund ihrer Eltern, wie sie um ein Feuer am Seeufer sitzen und zu Jags Angelboot hinüberschauen, das ein Stück weiter dicht am Ufer vertäut liegt. Welle um Welle klatschte auf den Strand. Cathreen verbannte das Bild aus ihren Gedanken. Sie war kein kleines Mädchen mehr.
"Beweg dich jetzt endlich her, Cathreen", hörte sie Toni rufen. Cathreen sah die Glut von Tonis Zigarette aufleuchten, als sie einen Zug nahm; hoch dahinziehende Wolken hatten den Mond ausgelöscht.
"Was? Einen Moment noch!" Der Wodka mit Sprite, den sie getrunken hatte, stieg ihr in die Kehle. Ein jähes Gefühl des Selbstmitleids durchfuhr sie, dann spürte sie ihre Kopfhaut prickeln, Schauder, die ihr über den Rücken krochen, und sie beugte sich über das Wasser, um zu spucken.
Sie richtete sich gerade rechtzeitig auf, um einen Jungen aus dem geparkten Auto steigen zu sehen. Zögernd näherte er sich auf dem Pfad aus Scheinwerferlicht den anderen. Zischend verlosch Tonis Zigarette im Wasser. "He!", kreischte Toni. "Das ist ja Timmy! He, Tim!" Als Cathreen sich ihren Freunden näherte, hörte sie, wie Toni mit gesenkter Stimme zu den Jugendlichen, die mit dem Mädchen gekommen waren, sagte: "Warum habt ihr die Schwuchtel mitgebracht?"
"Hallo, Fawn", sagte Timmy. "Lass uns gehen." Er hielt sich abseits von dem Halbkreis, den die anderen um das Mädchen gebildet hatten. Jetzt erkannte Cathreen, dass das Mädchen bis zu den Knien im Wasser stand.
"Sie kann noch nicht gehen", greinte Judy. "Sie hat mein Hemd. Ich brauche es, mir ist kalt." Judy schlang die Arme um ihren Körper. "Brrrr."
"Ja, und das ist mein Schal. Ich habe sie gebeten, ihn mir zurückzugeben", sagte Kora.
"Du hast gesagt, dass du ihn nicht mehr haben willst", verteidigte sich das Mädchen. Ihre Stimme klang nuschelig. Als die Wolken vorüberzogen und der Mond wieder erstrahlte, konnte Cathreen ihr Gesicht sehen. Sie kannte sie nicht wirklich. Sie war neu an der Schule. Einmal war sie zur Sickergrube gekommen, um sich mit ihnen zu unterhalten, und hatte ihnen Zigaretten gegeben. Später hatte sich Toni über sie lustig gemacht. "Habt ihr diesen Mist gehört? 'Ich habe im Internet einen fünfunddreißigjährigen Freund'", hatte sie sie nachgeahmt.
Das Mädchen war groß, hatte welliges braunes Haar und etwas Übergewicht. Ihr Gesicht war ruhig, aber sie blinzelte aufgeregt, als versuchte sie zu begreifen, was hier vorging.
"Nun mach schon, Fawn", drängte Timmy.
"Riecht ihr etwas?" Das war Chris, sonst ein stiller Junge, aber er hatte vorhin mit Cathreen an den Picknicktischen vor der Pfadfinderhütte etwas getrunken, und danach waren sie im Wald verschwunden, um Hasch zu rauchen. Er legte den Kopf auf die Seite und begann zu schnüffeln. "Ja, da ist etwas." Die anderen lachten. Cathreen trat beiseite, als er an ihr schnüffelte, und er ging weiter. Im Wasser begann Fawn schwerfällig, den Schal abzuwickeln. Chris blieb bei Timmy stehen. "Hier ist es. Es riecht wie Scheiße. Schwulenscheiße."
"Joe", sagte Timmy zu einem der Jungen, mit denen er gekommen war. "Wir sollten jetzt wirklich los."
"Ist das dein schwuler Freund?", sagte Chris zu Joe.
Der Junge zuckte die Achseln. "Leck mich", sagte er. "Ich verzieh mich."
Timmy folgte ihm, und es sah so aus, als würden die anderen, die mit den beiden gekommen waren, ebenfalls gehen. Fawn wimmerte. Timmy blickte sich nach ihr um. Fawn versuchte, die Kette von Leibern zu durchbrechen.
"Nichts da, du Schlampe!", schrie Judy. "Greift sie euch, lasst sie nicht davonkommen! Ich will mein Hemd, und zwar sofort." Toni, Judy und Kora drängten das Mädchen ins tiefere Wasser zurück.
Das Mädchen streifte ihre Jacke ab. "Timmy?", sagte sie. Der trat einen Schritt vor, um die Jacke zu fangen, als sie sie ihm zuwarf, aber Chris streckte den Arm aus, schnappte sie sich und ließ sie ins Wasser fallen. "Hoppla", sagte er.
"Was ist hier los?", fragte Cathreen. "Will mir vielleicht jemand verraten, was das soll?" Niemand schenkte ihr Beachtung, also bückte sie sich und spritzte sich eine Handvoll Wasser über den Mund und die Augen. Das Wasser war eiskalt und roch übel, aber es half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Was taten Toni und die anderen da? Es standen zu viele Leute um das Mädchen herum, so dass Cathreen kaum etwas erkennen konnte. Alle lachten. Sie stapfte durch Schlamm und Wasser und schob sich zwischen den anderen hindurch.
Judy hatte das Hemd in der Hand, und das Mädchen stand nur in Jeans und Büstenhalter da, die Arme um ihren Körper geschlungen. Sie war bleich und schwabbelig. Sie ließ ihr langes Haar nach vorne fallen, um ihr Gesicht zu verstecken.
"He, Schlampe", sagte jemand. "Willst du dich nicht ganz ausziehen?"
"Ja! Zeig, was du hast!"
Timmy rannte den Steg hinunter und sprang neben Fawn ins Wasser. Er nahm sie bei der Hand und wollte sie mit sich zurück zu den Schwimmstegen ziehen. Cathreen erinnerte sich, wie es sich anfühlte, mit nackten Füßen darauf zu gehen. Sie bestanden aus Plastik und waren wie ein Puzzle zusammengefügt. Die Furchen, an denen sie miteinander verbunden waren, kitzelten unter den Fußsohlen.
"Scheiße! Du verdirbst uns alles!"
"Scheiß Schwuchtel, was kümmert es ihn!"
"Ich dachte, wir wollten schwimmen gehen", sagte Cathreen zu Chris.
"Hey! Das ist eine gute Idee." Schon marschierte er ins Wasser.
"Nein! Im Schwimmbad! Wir haben gesagt, dass wir da schwimmen wollen."
Er sah sie kühl an. "Na, dann geh doch schon mal vor. Wir kommen später nach."
Es war ein ganz schönes Stück zu gehen - zurück zu der Hütte, die Hauptstraße entlang, über die Brücke und den Hügel hinauf. Aber es herrschte viel Verkehr, und es gab mehrere Ampeln. Das wäre sicher genug.
Cathreen wollte sich auf den Weg machen, aber das Wasser schmatzte in ihren Schuhen, und sie bückte sich, um sie auszuschütten. Als sie wieder aufblickte, standen Fawn und Timmy immer noch im Wasser. Die anderen hatten einen Kordon am Ufer entlang bis zum Anleger gebildet. Einer am Ufer warf einen Kieselstein, der das Mädchen an der Stirn traf. "Bitte nicht!", rief sie und bedeckte sich den Kopf mit den Armen und Händen. Warum hörten sie nicht auf? Das Mädchen dürfte seine Lektion längst gelernt haben -, worin auch immer die bestanden haben mochte. Sean, den Cathreen kannte - er war auch in der Hütte gewesen -, sprang von dem Baumstamm hoch, auf dem er gesessen hatte, und nahm eine ganze Hand voll Kiesel auf. Wie Hagelkörner prasselten sie auf die beiden im Wasser. Das Mädchen hatte Blut im Gesicht und Timmy sah angsterfüllt aus. Dann waren da mehr Steine, größere, und mehr Blut.
"Was tut ihr denn da! Hört damit auf!", brüllte Cathreen. Sie wusste, dass sie energischer einschreiten sollte, aber sie war betrunken und hatte auch Angst.
Ein anderes Mädchen durchbrach die Kette und stellte sich schützend vor die beiden, bis zu den Oberschenkeln im Wasser. "Es ist genug, lasst sie jetzt in Ruhe. Wenn noch einer sie anfasst, kriegt er es mit mir zu tun!" Sie sah aus, als wüsste sie genau, was sie tat. Gute Idee, dachte Cathreen, wurde ja auch Zeit. Ich möchte jetzt bitte nach Hause. Vergesst das Schwimmbad. Sie fühlte sich ziemlich beschissen, und überall um sie herum waren Leute, die ziellos hin und her schlenderten. Sie wartete. Ein paar der Jugendlichen verzogen sich.
Sie sah sich nach Chris um, konnte ihn aber nicht entdecken, und suchte dann in ihren Jackentaschen, nach ihrem Geld. Es war nicht da. Timmy und Fawn waren aus dem Wasser gestiegen. Fawn saß heulend auf dem Schwimmsteg, während Timmy Wasser aus seinen Schuhen kippte und sie dann akkurat nebeneinanderstellte. Blut rann von seiner Schläfe auf seine Kleidung. Cathreen ging zurück zu dem Bootsschuppen, wo sie vielleicht ihre Geldbörse verloren hatte. Sie suchte erst dort danach und dann zwischen den Büschen am Ufer. Als sie wieder in die Dunkelheit unter dem Dach des Bootsschuppens trat, wo ein umgekipptes Boot an einem der Dalben festgetäut lag, sprang ein grauer Kater auf den Holzstapel neben ihr. Sie starrte in seine zu Schlitzen verengten grünen Augen, wurde aber abgelenkt, als sie Toni rufen hörte: "Hat jemand eine Scheißschere dabei? Wir sollten ihr die Haare schneiden!"
Cathreen hörte das Klicken eines Feuerzeuges und sah eine Flammenzunge in die Höhe schnellen. "Scheiße", sagte Toni mit einem Blick auf ihre Uhr, "wir müssen jetzt los, Jude, sonst verpassen wir den Bus. Ich habe meiner Mom versprochen, um zwölf zu Hause zu sein." Sie gingen nicht weit von Cathreen entfernt an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.
Fawn erhob sich mühsam; auf der anderen Seite des Anlegers übergab sich Timmy. Cathreen sah, dass Fawn die Arme vor der Brust gekreuzt hatte, als würde sie sich an sich selber festhalten. Der Kater auf dem Holzstapel neben Cathreen maunzte, und Fawn sah zu ihm hinüber, wobei sie die Augen zusammenkniff.
Als Cathreen das Tor zur Straße erreichte, entdeckte sie Judy und Toni etwa fünfzig Meter vor sich. Da sie ohne sie gegangen waren - offensichtlich scherten sie sich einen Dreck um sie -, beschloss Cathreen, auf Chris zu warten, aber dann sah sie ihn plötzlich aus dem Dickicht hinter ihr hervortreten und wieder den Hügel zum See hinuntergehen. "Wo willst du hin? Willst du nicht mitkommen?", rief sie, aber er winkte ihr nur zu und erwiderte nichts. Cathreen sah ihm nach und bemerkte jemanden, der den Weg hochkam und sich Chris anschloss. War das Sean? Oder eines der Mädchen? Vielleicht Kora? Cathreen blinzelte die Tränen weg, die ihr immer wieder in die Augen traten und ihre Sicht trübten; dann wandte sie sich um und rannte los, um Toni und Judy einzuholen. Ihr war jetzt wirklich nicht danach, allein zu sein.
"He, Cat, wo warst du denn? Wir haben dich nirgendwo gefunden", sagte Toni, als sie die beiden erreichte.
"Ich dachte, ihr wolltet den Bus nehmen", antwortete Cathreen. Alles drehte sich. Ihre Kehle brannte von Magensäure. Sie hätte nicht rennen sollen.
"Wir haben den blöden Bus verpasst", erklärte Toni. "Der nächste fährt erst in einer Stunde. Ich werd' meine Mom anrufen."
"Kommst du mit?", fragte Judy. Sie bückte sich und wrang das Wasser aus dem Saum ihrer Jeans. "Wir gehen zum Schwimmbad und rufen von dort aus ihre Mom an.""Vielleicht könnte ich mit euch fahren", sagte Cathreen. "Mir ist nicht gut. Es wäre wirklich gut, wenn mich einer mitnimmt." Der Kater vom See strich um ihre Beine. Überrascht blickte sie zu ihm hinunter. Er schlängelte sich beharrlich um ihre Füße, so dass sie ständig einen Schritt zur Seite machen musste, um ihn nicht zu treten. Irgendwie kam ihr das Tier bekannt vor. "Hast 'n neuen Verehrer?", fragte Judy spöttisch. Cathreen hatte sich einmal ganz gedreht und blickte nun auf den Weg zurück, den sie gerade gekommen war. Ihr wurde wieder schwindlig. Sie glaubte, Chris und Sean oder sonst wen zwischen den Bäumen hindurch auf den See zugehen zu sehen.
Alles, um Jones zu beschützen.
Die Regeln brechen.
Ein Versprechen, eine Geschichte, die Jag Cathreen erzählt hat
Ein Fluss windet sich über die ganze Welt. Jetzt, nachdem die Kontinente auseinandergedriftet sind, kann man nicht mehr seinen genauen Verlauf erkennen. Vor langer Zeit jedoch konnte man ihn selbst durch Ozeane verfolgen, die damals noch längst nicht so tief waren wie heute. Man nannte ihn den Amazonas, den Mackenzie, den Nil, den Tigris, den Limpopo, aber es war ein und derselbe Fluss. Dieser Fluss brachte Neuigkeiten von einem Teil der Welt zum anderen. Warfst du ein Blatt in diesen Fluss, würde es an einer bestimmten Stelle wieder zu dir zurückkehren.
Der Fluss entsprang im Himmel. Milchigweiß floss er an einer gewaltigen Sternenwolke vorbei, dann stürzte er über den Rand in einem Schwall Mondlicht zur Erde. Seelen folgten diesem Fluss in Erwartung ihrer Geburt, und längs desselben Flusses, im Schatten des Mondes, kehrten sie nach ihrem Tod zurück. Soweit ich weiß, funktioniert das immer noch so. Es herrschte Vollmond, als du geboren wurdest, Cathreen, und ich werde vermutlich in der Dunkelheit sterben, wie deine Mutter immer sagt. Nicht so bald allerdings, also mach dir keine Sorgen. Mich beunruhigt es nicht. Ich werde zu den Sternen zurückkehren, und wenn das geschieht, werde ich auf dich hinabschauen und du wirst zu mir hinaufblicken, und auf die eine oder andere Weise werden du und ich immer zusammen bleiben.
Einige Leute werden dir einzureden versuchen, dass zwischen dem Fluss und der Erde keine Verbindung besteht. Glaub' das bloß nicht. Der Fluss trägt Teile der Erde als Treibschlamm mit sich und hält sie in Bewegung: So wandert die Erde, Stück für Stück, durch die Zeit. Das bedeutet, dass du, wo immer du auch sein magst, zu Hause bist: Ein Teil dessen, worauf du stehst, ist schon einmal dort gewesen, wo du gewesen bist, und das Blatt, das du vor langer Zeit in den Fluss geworfen hast, ist auf seinem Weg.
Wo immer ich bin, du kannst zu mir kommen. Wo immer du auch bist, ich werde dich finden.
Als du klein warst, hast du mir eine Geschichte über Einhörner erzählt. Du hast gesagt, sie könnten fliegen, und dass es keine mehr gibt, weil sie sich geweigert hätten, die Arche zu besteigen, als Noah sie dazu aufforderte. Sie flogen weiter umher, bis ihre Kräfte sie verließen, und sie ertranken; du hast gesagt, ihre Seelen lebten noch weitere zehn Tage, und erst dann starben sie, und ihre Gebeine sind im Sand an dem Strand vergraben, wo ich mit dir und deiner Mutter immer zum Angeln hingefahren bin. Ich habe dich gefragt, woher du das wüsstest. Du hast gesagt, du hättest es zunächst gar nicht gewusst, doch seitdem du angefangen hättest, mir davon zu erzählen, wüsstest du, dass es wahr ist. Cathreen, du brauchst nicht darauf zu hören, was andere dir erzählen, weil du es tief in deinem Inneren schon alles weißt.
Meine Schwester Jen und ich sind immer einen Hügel ganz in der Nähe des Ortes in England, in dem wir wohnten, hinaufgeklettert. Auf diesem Hügel stand ein Turm. Du konntest dort oben stehen und dir vorstellen, du blicktest auf die ganze Erde hinunter. Das verlieh dir ein Gefühl der Macht, gerade so, als gäbe es nichts, was du nicht vollbringen könntest, wenn du es nur wolltest. Dann, mit einsetzender Dämmerung kam Nebel aus den Gräben und Sümpfen heraufgewirbelt und verwandelte alles. Letzten Endes hattest du von nichts eine Ahnung! Du hörtest merkwürdige Geräusche, Menschen und Pferde, und Hunde bellen: Große wirbelnde Schatten wie Staub und Grün und Gold - Geister, die in die Hügelflanke fuhren. Ich begann zu zittern und drängte mich dicht an Jen, aber ich sagte nie etwas. Du brauchst nicht immer über die Dinge zu reden, um zu begreifen, was los ist.
Doch wir blieben dort oben stehen, denn nach einer Weile begann der Nebel sich zu senken, und dann sahst du die Sterne, Millionen von Sternen, so nahe, dass du nach einer Handvoll greifen und sie an deine Brust ziehen konntest, aber das wolltest du gar nicht. Du wolltest, dass sie für immer dort oben blieben. Der Himmel war unendlich. Solche Himmel haben wir hier nicht. Wir haben Berge und Bäume und Landschaft. Es ist, als lebte man in einem gottverdammten Reiseprospekt.
Also breitete Jen ihren Mantel aus, und wir legten uns darauf und schauten hinauf. Sie brachte mir die Namen der Sternbilder bei, wie unser Dad sie ihr beigebracht hatte, ehe er dorthin aufbrach, wo auch immer er hingegangen ist. Irland vielleicht, sicher war ich nie. Ich habe ihn nie kennen gelernt, Cathreen, und deine Großmutter ist bei meiner Geburt gestorben. Der Himmel drehte sich, und du fühlst dich so klein und schwindlig und auserwählt, während du dich langsam auf der sich drehenden Erde im Kreis bewegtest wie ein Teller, der an einer festlichen Tafel herumgereicht wird; du warst eine Ameise, doch warst du genau im Mittelpunkt, Teil all dessen, was wirklich zählte, und in manchen Nächten ergoss sich dieser Fluss aus Sternen geradewegs aus dem Himmel über dich, und du spürtest die Seelen, die ihn hinauf- und hinunterwanderten, und von denen einige in ihren Träumen das Sterben probten oder das Geborenwerden, während andere wirklich in Erscheinung traten. Ich dachte dann an die grün-goldenen Ladies und Edelmänner auf ihren Pferden, und an die Hunde, und ich fragte mich, ob auch sie ein Teil dessen waren. Jen erzählte mir Geschichten von den Feen, die früher einmal Engel im Himmel gewesen waren, und von den drei Steinen, die Luzifer aus seiner Krone verloren hatte, und wie die Menschen immer noch nach ihnen suchten, und dass der Hügel, auf dem wir lagen, in der Nähe der Stelle war, zu der diese Steine zurückzukehren versuchten, wenn es ihnen nur irgend möglich wäre, weil sie seinerzeit genau dort verloren gegangen waren. Und ich überlegte, wie viel Geld ich kriegen würde, falls ich sie je fände, und was ich Jen davon kaufen würde und was ich mit Colin Printer anstellen würde, der immer um sie herumscharwenzelte, obwohl er doch schon alt war und stank, weil er sich nie wusch; und wir waren auf ihn oder seine kostenlosen Ausflüge an den Strand oder seine Sonntagsfahrten in seinem Vauxhall nicht angewiesen. Meine Güte, Cathreen. Manchmal fühlte ich mich so wohl. Und dann gingen wir zu dem Haus zurück, in dem wir wohnten, und tranken Kakao, und Jen war glücklich, bis Colin hereinkam.
Es gehört so wenig dazu, einen Menschen glücklich zu machen, Cathreen, merk dir das.
Gute Nacht, meine Süße. Morgen früh sehen wir uns bestimmt wieder. Jeden Morgen, so lange du lebst. Ehrlich. Immer. Das verspreche ich.
Zeit ist der Schatten eines schnellen Vogels, der immerzu in Bewegung ist.
Stella Langdale in einem Brief an K.E. Maltwood
Cathreen
Von den Bäumen bis zur rechten Seite des Anlegers konnte man den schmutzigen Sand des Ufers und sein überhängendes Strauchwerk sehen, die Äste schwer von toten, noch nicht abgeworfenen Blättern. Ein leichter Wind kräuselte die Oberfläche des kleinen Sees. Ansonsten gab es nur helles Mondlicht und die kastenförmigen Schatten, die die Schwimmstege und ihre Hütten warfen, wo Cathreen vor langer Zeit schwimmen gelernt hatte. Cathreen folgte den anderen von den Bäumen über den Parkplatz; sie wehrte sich nicht, als die Benommenheit Besitz von ihr ergriff, während sie sich alleine ihren Weg zu den Pfählen unterhalb des Bootsschuppens suchte. Der Matsch sog sich an ihren Turnschuhen fest; winzige Wellen plätscherten träge ans Ufer. Sie musste pinkeln und blickte sich um. Die anderen lachten und schwatzten und schubsten sich gegenseitig vorwärts. Am Wasser stolperte einer von ihnen. "Scheiße! Das wirst du mir büßen!", hörte sie ein Mädchen rufen. Cathreen stapfte über eine kleine Böschung, stieß mit dem Fuß gegen einen Holzstamm, und ihre Nase füllte sich mit dem Geruch faulender Vegetation, während sie ihre Jeans hinunterzog und sich hinhockte.
Was tun wir hier eigentlich? Das ist doch Bockmist. Guck dir den Scheiß doch mal an! Die Stimmen von Neuankömmlingen, die aus einem Auto stiegen, das Dröhnen der Bässe aus dem Radio, bis der Motor abgestellt wurde. Sie hielt sich in dem niedrigen Gras zwischen Dornenbüschen verborgen und kämpfte sich damit ab, ihre Jeans wieder hochzuziehen. Die Scheinwerfer des Wagens brannten immer noch und beleuchteten einen Pfad, der zum See führte. "He, Fawn", rief ein Junge unten am Ufer, "willst du mit mir gehen?" Ein Mädchen löste sich von dem Arm von wem auch immer und schlenderte über das Gras zu dem Sandstreifen. Dort unten, wo sich die anderen in einem Pulk gesammelt hatten, war es noch dunkler, aber Cathreen konnte sehen, wie ihre Freundinnen Judy und Toni sich von der Gruppe entfernten, um mit dem Mädchen zu sprechen. Dieses Mädchen, Fawn, taumelte ein wenig, als wäre sie benommen oder betrunken. Als niemand in ihre Richtung blickte, hastete Cathreen die Böschung hinunter, blieb aber abrupt stehen, als sie ein kaputtes Fahrrad halb vergraben im Schlick liegen sah. "Ist das dein Rad, Toni?", rief sie. "Hast es zum Geburtstag bekommen?"
"Verpiss dich, Cathreen", kam die Antwort. "Kannst es gern behalten." Dann hörte sie Toni zu jemandem sagen: "Zieh dir die Schuhe aus, Schätzchen."
Cathreen bückte sich und blickte hinunter auf die verbogenen Felgen und die zerbrochenen Speichen, die kläglichen Überreste einer Zehngangschaltung. Niemand fuhr ein Rad mit zehn Gängen. Dies war nur ein Haufen Schrott und nie etwas anderes gewesen.
Bei dem Gestank der Algen und des brackigen Wassers wurde ihr unwillkürlich übel. Sie ging näher zu der Stelle heran, an der das Wasser die Pfähle umspülte; das dumpfe Schlagen der Wellen wie schlaffe Lippen an den Holzpflöcken. Plötzlich sah sie ein Bild von sich selber, ihrem Vater und ihrer Mutter und Tink, dem Freund ihrer Eltern, wie sie um ein Feuer am Seeufer sitzen und zu Jags Angelboot hinüberschauen, das ein Stück weiter dicht am Ufer vertäut liegt. Welle um Welle klatschte auf den Strand. Cathreen verbannte das Bild aus ihren Gedanken. Sie war kein kleines Mädchen mehr.
"Beweg dich jetzt endlich her, Cathreen", hörte sie Toni rufen. Cathreen sah die Glut von Tonis Zigarette aufleuchten, als sie einen Zug nahm; hoch dahinziehende Wolken hatten den Mond ausgelöscht.
"Was? Einen Moment noch!" Der Wodka mit Sprite, den sie getrunken hatte, stieg ihr in die Kehle. Ein jähes Gefühl des Selbstmitleids durchfuhr sie, dann spürte sie ihre Kopfhaut prickeln, Schauder, die ihr über den Rücken krochen, und sie beugte sich über das Wasser, um zu spucken.
Sie richtete sich gerade rechtzeitig auf, um einen Jungen aus dem geparkten Auto steigen zu sehen. Zögernd näherte er sich auf dem Pfad aus Scheinwerferlicht den anderen. Zischend verlosch Tonis Zigarette im Wasser. "He!", kreischte Toni. "Das ist ja Timmy! He, Tim!" Als Cathreen sich ihren Freunden näherte, hörte sie, wie Toni mit gesenkter Stimme zu den Jugendlichen, die mit dem Mädchen gekommen waren, sagte: "Warum habt ihr die Schwuchtel mitgebracht?"
"Hallo, Fawn", sagte Timmy. "Lass uns gehen." Er hielt sich abseits von dem Halbkreis, den die anderen um das Mädchen gebildet hatten. Jetzt erkannte Cathreen, dass das Mädchen bis zu den Knien im Wasser stand.
"Sie kann noch nicht gehen", greinte Judy. "Sie hat mein Hemd. Ich brauche es, mir ist kalt." Judy schlang die Arme um ihren Körper. "Brrrr."
"Ja, und das ist mein Schal. Ich habe sie gebeten, ihn mir zurückzugeben", sagte Kora.
"Du hast gesagt, dass du ihn nicht mehr haben willst", verteidigte sich das Mädchen. Ihre Stimme klang nuschelig. Als die Wolken vorüberzogen und der Mond wieder erstrahlte, konnte Cathreen ihr Gesicht sehen. Sie kannte sie nicht wirklich. Sie war neu an der Schule. Einmal war sie zur Sickergrube gekommen, um sich mit ihnen zu unterhalten, und hatte ihnen Zigaretten gegeben. Später hatte sich Toni über sie lustig gemacht. "Habt ihr diesen Mist gehört? 'Ich habe im Internet einen fünfunddreißigjährigen Freund'", hatte sie sie nachgeahmt.
Das Mädchen war groß, hatte welliges braunes Haar und etwas Übergewicht. Ihr Gesicht war ruhig, aber sie blinzelte aufgeregt, als versuchte sie zu begreifen, was hier vorging.
"Nun mach schon, Fawn", drängte Timmy.
"Riecht ihr etwas?" Das war Chris, sonst ein stiller Junge, aber er hatte vorhin mit Cathreen an den Picknicktischen vor der Pfadfinderhütte etwas getrunken, und danach waren sie im Wald verschwunden, um Hasch zu rauchen. Er legte den Kopf auf die Seite und begann zu schnüffeln. "Ja, da ist etwas." Die anderen lachten. Cathreen trat beiseite, als er an ihr schnüffelte, und er ging weiter. Im Wasser begann Fawn schwerfällig, den Schal abzuwickeln. Chris blieb bei Timmy stehen. "Hier ist es. Es riecht wie Scheiße. Schwulenscheiße."
"Joe", sagte Timmy zu einem der Jungen, mit denen er gekommen war. "Wir sollten jetzt wirklich los."
"Ist das dein schwuler Freund?", sagte Chris zu Joe.
Der Junge zuckte die Achseln. "Leck mich", sagte er. "Ich verzieh mich."
Timmy folgte ihm, und es sah so aus, als würden die anderen, die mit den beiden gekommen waren, ebenfalls gehen. Fawn wimmerte. Timmy blickte sich nach ihr um. Fawn versuchte, die Kette von Leibern zu durchbrechen.
"Nichts da, du Schlampe!", schrie Judy. "Greift sie euch, lasst sie nicht davonkommen! Ich will mein Hemd, und zwar sofort." Toni, Judy und Kora drängten das Mädchen ins tiefere Wasser zurück.
Das Mädchen streifte ihre Jacke ab. "Timmy?", sagte sie. Der trat einen Schritt vor, um die Jacke zu fangen, als sie sie ihm zuwarf, aber Chris streckte den Arm aus, schnappte sie sich und ließ sie ins Wasser fallen. "Hoppla", sagte er.
"Was ist hier los?", fragte Cathreen. "Will mir vielleicht jemand verraten, was das soll?" Niemand schenkte ihr Beachtung, also bückte sie sich und spritzte sich eine Handvoll Wasser über den Mund und die Augen. Das Wasser war eiskalt und roch übel, aber es half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Was taten Toni und die anderen da? Es standen zu viele Leute um das Mädchen herum, so dass Cathreen kaum etwas erkennen konnte. Alle lachten. Sie stapfte durch Schlamm und Wasser und schob sich zwischen den anderen hindurch.
Judy hatte das Hemd in der Hand, und das Mädchen stand nur in Jeans und Büstenhalter da, die Arme um ihren Körper geschlungen. Sie war bleich und schwabbelig. Sie ließ ihr langes Haar nach vorne fallen, um ihr Gesicht zu verstecken.
"He, Schlampe", sagte jemand. "Willst du dich nicht ganz ausziehen?"
"Ja! Zeig, was du hast!"
Timmy rannte den Steg hinunter und sprang neben Fawn ins Wasser. Er nahm sie bei der Hand und wollte sie mit sich zurück zu den Schwimmstegen ziehen. Cathreen erinnerte sich, wie es sich anfühlte, mit nackten Füßen darauf zu gehen. Sie bestanden aus Plastik und waren wie ein Puzzle zusammengefügt. Die Furchen, an denen sie miteinander verbunden waren, kitzelten unter den Fußsohlen.
"Scheiße! Du verdirbst uns alles!"
"Scheiß Schwuchtel, was kümmert es ihn!"
"Ich dachte, wir wollten schwimmen gehen", sagte Cathreen zu Chris.
"Hey! Das ist eine gute Idee." Schon marschierte er ins Wasser.
"Nein! Im Schwimmbad! Wir haben gesagt, dass wir da schwimmen wollen."
Er sah sie kühl an. "Na, dann geh doch schon mal vor. Wir kommen später nach."
Es war ein ganz schönes Stück zu gehen - zurück zu der Hütte, die Hauptstraße entlang, über die Brücke und den Hügel hinauf. Aber es herrschte viel Verkehr, und es gab mehrere Ampeln. Das wäre sicher genug.
Cathreen wollte sich auf den Weg machen, aber das Wasser schmatzte in ihren Schuhen, und sie bückte sich, um sie auszuschütten. Als sie wieder aufblickte, standen Fawn und Timmy immer noch im Wasser. Die anderen hatten einen Kordon am Ufer entlang bis zum Anleger gebildet. Einer am Ufer warf einen Kieselstein, der das Mädchen an der Stirn traf. "Bitte nicht!", rief sie und bedeckte sich den Kopf mit den Armen und Händen. Warum hörten sie nicht auf? Das Mädchen dürfte seine Lektion längst gelernt haben -, worin auch immer die bestanden haben mochte. Sean, den Cathreen kannte - er war auch in der Hütte gewesen -, sprang von dem Baumstamm hoch, auf dem er gesessen hatte, und nahm eine ganze Hand voll Kiesel auf. Wie Hagelkörner prasselten sie auf die beiden im Wasser. Das Mädchen hatte Blut im Gesicht und Timmy sah angsterfüllt aus. Dann waren da mehr Steine, größere, und mehr Blut.
"Was tut ihr denn da! Hört damit auf!", brüllte Cathreen. Sie wusste, dass sie energischer einschreiten sollte, aber sie war betrunken und hatte auch Angst.
Ein anderes Mädchen durchbrach die Kette und stellte sich schützend vor die beiden, bis zu den Oberschenkeln im Wasser. "Es ist genug, lasst sie jetzt in Ruhe. Wenn noch einer sie anfasst, kriegt er es mit mir zu tun!" Sie sah aus, als wüsste sie genau, was sie tat. Gute Idee, dachte Cathreen, wurde ja auch Zeit. Ich möchte jetzt bitte nach Hause. Vergesst das Schwimmbad. Sie fühlte sich ziemlich beschissen, und überall um sie herum waren Leute, die ziellos hin und her schlenderten. Sie wartete. Ein paar der Jugendlichen verzogen sich.
Sie sah sich nach Chris um, konnte ihn aber nicht entdecken, und suchte dann in ihren Jackentaschen, nach ihrem Geld. Es war nicht da. Timmy und Fawn waren aus dem Wasser gestiegen. Fawn saß heulend auf dem Schwimmsteg, während Timmy Wasser aus seinen Schuhen kippte und sie dann akkurat nebeneinanderstellte. Blut rann von seiner Schläfe auf seine Kleidung. Cathreen ging zurück zu dem Bootsschuppen, wo sie vielleicht ihre Geldbörse verloren hatte. Sie suchte erst dort danach und dann zwischen den Büschen am Ufer. Als sie wieder in die Dunkelheit unter dem Dach des Bootsschuppens trat, wo ein umgekipptes Boot an einem der Dalben festgetäut lag, sprang ein grauer Kater auf den Holzstapel neben ihr. Sie starrte in seine zu Schlitzen verengten grünen Augen, wurde aber abgelenkt, als sie Toni rufen hörte: "Hat jemand eine Scheißschere dabei? Wir sollten ihr die Haare schneiden!"
Cathreen hörte das Klicken eines Feuerzeuges und sah eine Flammenzunge in die Höhe schnellen. "Scheiße", sagte Toni mit einem Blick auf ihre Uhr, "wir müssen jetzt los, Jude, sonst verpassen wir den Bus. Ich habe meiner Mom versprochen, um zwölf zu Hause zu sein." Sie gingen nicht weit von Cathreen entfernt an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.
Fawn erhob sich mühsam; auf der anderen Seite des Anlegers übergab sich Timmy. Cathreen sah, dass Fawn die Arme vor der Brust gekreuzt hatte, als würde sie sich an sich selber festhalten. Der Kater auf dem Holzstapel neben Cathreen maunzte, und Fawn sah zu ihm hinüber, wobei sie die Augen zusammenkniff.
Als Cathreen das Tor zur Straße erreichte, entdeckte sie Judy und Toni etwa fünfzig Meter vor sich. Da sie ohne sie gegangen waren - offensichtlich scherten sie sich einen Dreck um sie -, beschloss Cathreen, auf Chris zu warten, aber dann sah sie ihn plötzlich aus dem Dickicht hinter ihr hervortreten und wieder den Hügel zum See hinuntergehen. "Wo willst du hin? Willst du nicht mitkommen?", rief sie, aber er winkte ihr nur zu und erwiderte nichts. Cathreen sah ihm nach und bemerkte jemanden, der den Weg hochkam und sich Chris anschloss. War das Sean? Oder eines der Mädchen? Vielleicht Kora? Cathreen blinzelte die Tränen weg, die ihr immer wieder in die Augen traten und ihre Sicht trübten; dann wandte sie sich um und rannte los, um Toni und Judy einzuholen. Ihr war jetzt wirklich nicht danach, allein zu sein.
"He, Cat, wo warst du denn? Wir haben dich nirgendwo gefunden", sagte Toni, als sie die beiden erreichte.
"Ich dachte, ihr wolltet den Bus nehmen", antwortete Cathreen. Alles drehte sich. Ihre Kehle brannte von Magensäure. Sie hätte nicht rennen sollen.
"Wir haben den blöden Bus verpasst", erklärte Toni. "Der nächste fährt erst in einer Stunde. Ich werd' meine Mom anrufen."
"Kommst du mit?", fragte Judy. Sie bückte sich und wrang das Wasser aus dem Saum ihrer Jeans. "Wir gehen zum Schwimmbad und rufen von dort aus ihre Mom an.""Vielleicht könnte ich mit euch fahren", sagte Cathreen. "Mir ist nicht gut. Es wäre wirklich gut, wenn mich einer mitnimmt." Der Kater vom See strich um ihre Beine. Überrascht blickte sie zu ihm hinunter. Er schlängelte sich beharrlich um ihre Füße, so dass sie ständig einen Schritt zur Seite machen musste, um ihn nicht zu treten. Irgendwie kam ihr das Tier bekannt vor. "Hast 'n neuen Verehrer?", fragte Judy spöttisch. Cathreen hatte sich einmal ganz gedreht und blickte nun auf den Weg zurück, den sie gerade gekommen war. Ihr wurde wieder schwindlig. Sie glaubte, Chris und Sean oder sonst wen zwischen den Bäumen hindurch auf den See zugehen zu sehen.
... weniger
Autoren-Porträt von Marilyn Bowering
Marilyn Bowering ist eine vielfach preisgekrönte kanadische Autorin und Dramatikerin. Bowering lebt in Sooke, British Columbia.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marilyn Bowering
- 2007, 349 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Leon Mengden
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442734029
- ISBN-13: 9783442734023
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