Der Historiker
Eine junge Frau findet in der Bibliothek ihres Vaters ein Bündel vergilbter Briefe. Schriftstücke, die sie in ein düsteres Labyrinth der Vergangenheit führen: zu dem Geheimnis ihrer Eltern, das verbunden ist mit der personifizierten Grausamkeit - mit Vlad, dem Pfähler. Mit Dracula.
Eine junge Frau findet in der Bibliothek ihres Vaters ein Bündel vergilbter Briefe. Schriftstücke, die sie in ein düsteres Labyrinth der Vergangenheit führen: zu dem Geheimnis ihrer Eltern, das verbunden ist mit der personifizierten Grausamkeit - mit Vlad, dem Pfähler. Mit Dracula.
Die Briefe fragen nach der Herkunft von Vlad dem Pfähler, und eine Suche in Klöstern, Bibliotheken und Archiven beginnt, bei der die Grausamkeiten von Dracula zu Tage treten, die sich bis heute fortsetzen ...
LESEPROBE
Kapitel 6
Weißt du,sagte mein Vater, an jenem Abend, als er mir die Papiere gab, sah Rossi mir zumAbschied lächelnd von seiner Bürotür aus nach, und ich hatte plötzlich dasGefühl, dass ich ihn von etwas abhalten oder wenigstens noch einmal zurückgehenmüsste, um länger mit ihm zu sprechen. Aber ich schob diesen Impuls unserermerkwürdigen Unterhaltung zu, der merkwürdigsten meines Lebens, und folgte ihmnicht. Zwei andere Doktoranden aus unserer Abteilung kamen den Gang entlang,tief im Gespräch, grüßten Rossi, bevor er seine Tür schloss, und gingen danneilig die Treppe hinter mir hinunter. Ihr angeregtes Gespräch holte mich zurückin die normale Welt um mich herum, dennoch fühlte ich mich nach wie vor eigentümlichunbehaglich. Das drachengeschmückte Buch brannte förmlich in meiner Tasche, undnun hatte mir Rossi auch noch diesen verschlossenen Umschlag mit seinenPapieren gegeben. Ich überlegte, ob ich sie später am Schreibtisch in meinerwinzigen Wohnung noch durchsehen sollte. Aber ich war zu erschöpft - was immerder Umschlag enthielt, ich würde mich nicht mehr damit auseinander setzenkönnen.
Zudem nahmich an, dass der Morgen, das Licht des Tages, Vertrauen und Vernunftzurückbringen würden. Vielleicht würde ich Rossis Geschichte nach einer NachtSchlaf gar nicht mehr glauben - obwohl ich gleichzeitig sicher war, dass siemich verfolgen würde, ob ich sie nun glaubte oder nicht. Und wie, fragte ichmich, als ich draußen unter Rossis Fenstern vorbeikam und ungewollt nach obensah, wo das Licht noch brannte, wie könnte ich meinem Mentor nicht glauben, wenn es umetwas ging, das mit seinem Fach zu tun hatte? Würde das nicht alles in Fragestellen,
Vielleichtwurde ich mir des brennenden Lichts in Rossis Büro so bewusst, weil ich immernoch über ihn nachgrübelte, als ich unter seinen Fenstern vorbeikam. Wie auchimmer, gerade als ich in das helle Rechteck vor mir auf der Straße tretenwollte, das aus seinem Arbeitszimmer fiel, verlosch das Licht buchstäblichunter meinen Füßen. Es passierte in Sekundenschnelle, und ein Schauer desSchreckens durchfuhr mich, vom Kopf bis zu den Füßen. Gerade noch war ich tiefin Gedanken gewesen und dabei, meinen Fuß auf das beleuchtete Pflaster zusetzen, und im nächsten Moment stand ich wie erstarrt da. Dabei realisierte ichzwei seltsame Dinge fast gleichzeitig. Das Erste war, dass ich dieses Licht niezuvor hier auf dem Pflaster zwischen den alten gotischen Lehrgebäuden gesehenhatte, obwohl ich die Wege wohl schon tausendmal gegangen war. Ich hatte es niezuvor gesehen, weil es nicht sichtbar gewesen war. Diesmal war es sichtbargewesen, weil die Straßenbeleuchtung schon vorher ausgegangen war. Ich standmutterseelenallein auf der Straße, und mein verklingender letzter Schritt wardas einzige Geräusch, das zu hören war. Abgesehen von diesem verlöschten Lichtaus dem Arbeitszimmer, in dem wir uns noch vor zehn Minuten unterhalten hatten,war es draußen stockdunkel.
Das Zweitewar - wenn es denn wirklich ein Nacheinander gab - eine Art Lähmung, die aufmich herabstieß. Ich sage »herabstieß«, weil es von außen über mich kam, nichtdurch Nachdenken oder Instinkt. In dem Moment, als ich in seinen Schein trat,verlöschte das warme Licht aus den Fenstern meines Mentors. Vielleicht denkstdu, das klingt doch ganz normal: Die Bürostunden sind zu Ende, und der letzteProfessor, der das Haus verlässt, löscht sein Licht, worauf es auch auf der Straßedunkel wird, weil die Straßenbeleuchtung gerade ausgefallen ist. Aber so fühltees sich absolut nicht an. Es war ganz und gar nicht so, als wäre ein normalesLicht hinter einem Fenster ausgeschaltet worden. Es war mehr so, als rasteetwas über die Fenster und verdunkelte jedwede Lichtquelle. Dann war esstockfinster auf der Straße.
EinenMoment lang atmete ich nicht. Verschreckt und linkisch drehte ich mich um, sahdie schwarzen Fensterlöcher, die über der dunklen Straße alles andere alsunsichtbar waren, und rannte einem Impuls folgend zurück. Die Tür, durch dieich das Gebäude verlassen hatte, war fest verschlossen. Alle Fenster warendunkel. Um diese Stunde ließ sich die Tür wahrscheinlich grundsätzlich nichtmehr von außen öffnen - das war sicher normal. Ich stand da, zögerte und warschon drauf und dran, zu den anderen Türen zu rennen, als dieStraßenbeleuchtung wieder anging. Ich fühlte mich beschämt. Von den beidenDoktoranden, die hinter mir gewesen waren, war nichts zu sehen. Sie mussten in eineandere Richtung gegangen sein.
Aber jetztkam eine Gruppe Studenten vorbei, lachend; die Straße war nicht längerverlassen. Was, wenn Rossi gleich aus der Tür käme - was er sicher tun würde,nachdem er sein Licht gelöscht und sein Zimmer abgeschlossen hatte - und michhier wartend vorfände? Er hatte gesagt, er wolle nicht weiterdiskutieren,worüber wir gesprochen hatten. Wie würde ich ihm meine irrationalen Ängsteerklären können, hier vor der Tür, wo er doch einen Vorhang vor das Themagezogen hatte - vor alle derart morbiden Themen vielleicht? Schnell drehte ichmich um, bevor er mich einholen konnte, und eilte beschämt nach Hause. DenUmschlag holte ich an diesem Abend nicht mehr aus meiner Tasche. Ich ließ ihnungeöffnet und schlief tief und fest die Nacht durch. An den nächsten beidenTagen gab es viel zu tun, und ich erlaubte mir nicht, Rossis Papiere anzusehen.Stattdessen verdrängte ich alles Esoterische strikt aus meinen Gedanken.Deshalb war ich überrascht, als mich ein Kommilitone aus meinem Fachbereichzwei Tage darauf spätnachmittags in der Bibliothek ansprach. »Hast du von Rossigehört?«, fragte er und griff nach meinem Arm, als ich an ihm vorbeieilte.»Paolo, so warte doch!« - Ja, du rätst richtig, es war Massimo. Er war auchschon als Promovend groß und laut, vielleicht sogar lauter noch als heute. Ichfasste nach seinem Arm.
»Rossi?Was? Was ist mit ihm?«
»Er istweg. Verschwunden. Die Polizei durchsucht gerade sein Büro.«
Ich rannteden ganzen Weg. Das Gebäude sah wie immer aus, innen im Licht derSpätnachmittagssonne ein wenig dunstig und voller Studenten, die gerade ihreSeminarräume verließen. Im ersten Stock vor Rossis Büro stand einPolizeibeamter und sprach mit dem Dekan und verschiedenen Männern, die ich niezuvor gesehen hatte. Als ich dazukam, verließen zwei Männer in dunklen Jackettsdas Arbeitszimmer des Professors, zogen die Tür fest hinter sich zu und gingenin Richtung Treppe und Seminarräume. Ich drängte mich zu dem Polizisten vor.
»Wo istProfessor Rossi? Was ist mit ihm passiert?«
»KennenSie ihn?«, fragte der Polizist und sah von seinem Notizbuch auf.
»Ich binDoktorand bei ihm. Ich war vorgestern Abend noch bei ihm. Wer sagt, dass erverschwunden ist?«
Der Dekantrat zu uns und schüttelte mir die Hand. »Wissen Sie etwas Genaueres? SeineHaushälterin rief gegen Mittag an und sagte, dass er in der letzten undvorletzten Nacht nicht nach Hause gekommen sei - er sei weder zum Abendessennoch zum Frühstück erschienen. Sie sagt, das sei noch nie vorgekommen. HeuteNachmittag fehlte er in der Fakultätsversammlung, ohne vorher angerufen zuhaben. Auch das hat er noch nie getan. Ein Student sagte, sein Büro seiverschlossen gewesen, obwohl er einen Termin bei ihm gehabt habe, und seineVorlesung hat er auch nicht gehalten. Also habe ich die Tür öffnen lassen.«
»War erdrinnen?« Ich versuchte, nicht nach Luft zu schnappen.
...
Übersetzung:Werner Löcher-Lawrence
©Bloomsbury Berlin
- Autor: Elizabeth Kostova
- 2005, 832 Seiten, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Löcher-Lawrence, Werner
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827005906
- ISBN-13: 9783827005908
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