Der Junge, der keine Schuhe hatte

Ich rannte darauf zuund hämmerte gegen das Tor, schrie nach Ma, die drinnen mit einem Mannbeschäftigt war, mir aber helfen konnte, vielleicht helfen würde, helfenmusste. »Ma! Hilfe!« Das Tor war zu, das Tor war fest zu. »Ma!Maaaaa!« Ich hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde. Wenn sie wütend war,was oft geschah, knurrte sie vor Wut wie ein Hund, meine Ma, und genau diesesKnurren hörte ich jetzt. Aber besser das als die Schere. Über meinem Kopf flogder Riegel hoch, das Tor schlug krachend auf, und Mas rote Hand kam aus dem Hofgesaust und dann auf mich zu und in mein Gesicht, einmal, zweimal, dreimal: KLATSCH!KLATSCH! KLATTTSCH! »Ma|.. .« »Ich habe dir doch gesagt, dass du wegbleiben sollst. Ich habe dir doch gesagt|.. .« Sie hatte sich schick gemacht und roch nach Puder und Parfüm, und sie warganz rot im Gesicht. »Ma, ein Mann ist hinter mir her|.. .« »Ich habe dir doch gesagt«, knurrte sie, »dass du noch nicht nach Hausekommen sollst.« Das Tor krachte wieder zu, und ich blieb draußen. Ich wusste, dassich nicht so früh hätte zurückkommen dürfen, aber der Mann mit der Schere hatteja gesagt, dass er mir die Ohren abschneiden wolle. Und jetzt hatte er denBetonweg erreicht, und das Tor war verriegelt, und die Hintertür knallte zu,und ich konnte nirgendwo hin. Was tun? Ich sank auf die Knie und legte eineWange an das warme Holz des Tores, es war weich und rau zugleich und kam mirvor wie eine Liebkosung. Ich hob eine Hand und legte sie auf das Holz, dennnäher konnte ich Ma nicht kommen. Dann ließ ich den Kopf sinken und spürte, wiemir der Beton des Weges die Knie zerkratzte. Aber es tat nicht weh. Ich atmete sohastig, dass ich husten musste, als ich mich zusammenkauerte und auf den Mannmit der Schere wartete. Dann betrachtete ich meine Beine und Füße und sahmeinen einzigen Besitz, der für jemand anderen von Interesse war. Nicht meinekhakifarbenen Shorts, die ich von einem Jungen geerbt hatte, dessen Muttermeine Ma kannte. Nicht mein Hemd, das dem anderen Jungen in meiner Familie gehörte.Sondern meine Schuhe, die Schuhe aus Segeltuch mit den weißen Gummikappen undden Schnürbändern, die ich zu binden gelernt hatte, damit ich dem Damals-Mann -wenn er je zurückkehren sollte - zeigen konnte, wie geschickt ich war. DieseSchuhe gehörten mir, mir ganz allein, sie waren das Einzige, was wirklich mirgehörte. Es waren keine gebrauchten Schuhe von dem anderen Jungen in meinerFamilie oder Wollhandschuhe von dem Mädchen. Sie gehörten mir. Da wusste ich,was ich tun musste, um meine Ohren zu retten. Mein Atem ging stoßweise, undmeine Hände zitterten. Ich brachte vor Angst kein Wort heraus, zog meine Schuheaus und stellte sie wie eine Opfergabe nebeneinander auf den Weg. Sie waren dasEinzige, was ich hatte. Sie waren mein kostbarster Besitz. Ich war über denRasen gelaufen, und deshalb musste ich meine Schuhe opfern. Dann sah ich auf,und mein Herz pochte laut vor Schreck, denn da war der Mann mit der Schere, erwar gekommen, um mir die Ohren abzuschneiden. Er schrie mich an, seine Lippenwaren feucht und wulstig, und er zeigte seine gelben Zähne: »Ich habe die Nasegestrichen voll! Ich habe die Nase gestrichen voll von euch Jungs! Also schaudir diese Schere an|. . . schau mich an|.. .« Ich versuchte es, schaffte es aber nicht. Ich hatte zu viel Angst, um denKopf zu heben. Da bückte sich der Mann und packte mich am Ohr, und ich spürtedas kalte Metall an der Schläfe. Das Tor flog krachend auf, und mein Blick fielauf die schwarzen Schuhe des Mannes, der bei Ma gewesen war. »Was hat er dennjetzt schon wieder angestellt?« »Er ist einmal zu oft über den Rasen gelaufen,das hat er angestellt, und deshalb kriegt er von mir jetzt ein Ohrabgeschnitten, Schluss und aus!« Hoch über mir lachte der andere Mann, und ichkonnte die stinkende Hose des Parkwächters riechen. »Meinetwegen können Siealle beide abschneiden|. . .« »Maaaa|.. .!« Und als ich den Kopf reckte, um nach Ma Ausschau zu halten, als ich an demMann vorbei zur Hintertür lugte und hoffte, dass sie mir zu Hilfe käme, fühlteich, wie die Wurzel meines Ohres zu brennen begann, und ich hörte das Schnipp-schnappschnippdes Gelächters der beiden Männer, kurz bevor die Schere angesetzt wurde. Indem Moment begann ich zu schreien und sah ihn zum ersten Mal, den großen,schwarzen Ort, der schräg zwischen allem liegt, den Ort, der die dunkle Zeitwar und ist. Denn wenn Ma jetzt nicht käme, um meine Ohren zu retten, dann kämesie niemals, niemals, niemals, das wusste ich. Dann fiel das Tor krachend zu,und es wurde ganz still, als ich endlich aufhörte zu schreien. Als ich michschließlich traute, nach oben zu sehen, war der Parkwächter fort, und ich warallein, bis auf meine Schuhe. Also hob ich sie auf und drückte sie an meineBrust, und weil ich nirgendwo hinkonnte, blieb ich, wo ich war, bis die Sonneunterging und mir langsam kalt wurde. Ab und zu kamen Leute auf dem Bürgersteigvorbei. Vom Betonweg aus starrte ich jedes einzelne Gesicht an, weil ich hoffte,dass vielleicht der Damals-Mann wiederkäme, um mich zu holen. Ich wartete, bises ganz dunkel war und ich vor Kälte zitterte. Der Mann kam nicht, aber dieSchuhe, die er mir geschenkt hatte und die ich so fest wie möglich an meineBrust drückte, trösteten mich trotzdem. Der Damals-Mann hat mir die Schuhegeschenkt. Das hat er getan, ich weiß es noch ganz genau. Ich weiß, dass er eswar. Daran kann ich mich erinnern. Das war die einzige Erinnerung, die michauch in der dunklen Zeit nicht verließ. Als ich zitternd dasaß, wünschte ichmir von ganzem Herzen, dass er eines Tages käme, um mich zu holen. Ich wünschtemir, dass er mich wieder bei der Hand nahm. Ich wünschte mir, ihm eines Tageszeigen zu können, dass ich mir die Schuhe selbst zubinden konnte. Ich schliefein, während ich diese Wünsche vor mich hin flüsterte. Ich wusste nicht, dassWünsche nie sofort und auch nie so erfüllt werden, wie man es erwartet. Ichschlief ein, von Ma ausgesperrt. Ich wusste nicht, dass zwischen einem Wunschund seiner Erfüllung ein langer Weg lag: Ich musste durch die dunkle Zeit unddurch endlos lange Einsamkeit, und das Ende des Weges konnte ich nur erreichen,wenn ich Menschen fand, die mir halfen. Niemand schafft einen so langen Wegallein, nicht, ohne vor dem Ziel zu sterben. Als ich damals vor der Nr. 15einschlief, als ich fünf Jahre alt war und Ma mich draußen in der Kälte vergaß,weil sie drinnen mit dem Mann beschäftigt war, wusste ich noch nichts,jedenfalls fast nichts.  (...)

© Manhattan Verlag

Übersetzung: Henning Ahrens