Der König der Welt
»Anschaulicher kann Geschichtsunterricht nicht sein.« (P.M.)
Wo ist sie nur, die schöne Unbekannte, die Phil aufhalf, nachdem er von Tom und seiner Gang verprügelt worden war? In seinen Träumen trifft er sie wieder - als Beobachterin und Protagonistin an Kreuzwegen der Geschichte: Gemeinsam mit ihr verfolgt Phil im Kontrollzentrum in Houston Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond. Sie erleben Che Guevaras Sieg über General Batista, Gandhi, den Untergang der Titanic. Sie treffen auf Muhammad Ali, Roald Amundsen, Albert Einstein - und sie sehen machtlos mit an, wie die Geschwister Scholl verhaftet werden.
- Für alle Leser von "Sofies Welt" und "Theos Reise"
- Historische Miniaturen, raffiniert eingewoben in eine Rahmenhandlung von heute- Der Leser selbst nimmt unmittelbar am Geschehen teil
Der König der Welt von Manfred Theisen und ChristophWortberg
LESEPROBE
Seine Spuren im Schnee. Nackte Füße.Jeder Schritt eine
Qual. Die Nervenendensprühten Funken. Die Haut
brannte vor Kälte. Ihm war zumHeulen zumute. Warum
hatte er sich nicht gewehrt, nichtzurückgeschlagen? Nur einmal
die Überraschung in ihren Augen sehen, den Triumph
spüren. Stattdessen hatte er wieüblich stillgehalten und darauf
gewartet, dass es vorbei sein würde.
Sie hatten ihm ein paar Straßenhinter der Schule aufgelauert.
Das Grundstück lag schon langebrach. Eine
zugeschneite Baugrube.Verschalungsbretter, Paletten im
Schnee. Rechts und links diemumienbraunen Ziegelwände
der angrenzenden Häuser. Siedrängten ihn gegen eine
Wand und bauten sich im Halbkreis umihn auf. Kein
Fluchtweg mehr.
»Alles klar?«,sagte Tom zu den beiden andern.
»Klar«, antworteten Jakob und Leowie aus einem Mund.
Tom grinste. Blonde, kurzgeschnittene Haare. Athletischer
Körper. Die Augen wach und böse.
»Sicher, Jungs?«
»Ganz sicher.«
Es war ein Ritual. Sie stimmten sichein auf den Tanz, den
sie gleich mit ihm veranstaltenwürden.
»Warum bist du so hässlich, Phil?«
»Ich «
»Was sagst du? Ich kann dich nichtverstehen. Könnt ihr
ihn verstehen, Jungs?«
Kopfschütteln.
»Also, Phil. Warum redest du nichtein bisschen lauter?«
»Ich «
»Lauter!«,zischte Tom und schob dabei den Unterkiefer
nach vorn. »Oder hast du etwaSchiss? Wir tun dir doch gar
nichts. Oder, Jungs?«
Wieder schüttelten sie die Köpfe.
»Da hast du s, Phil. Wir wollen nurplaudern.«
»Hört auf, bitte.«
»Wir haben doch noch gar nichtangefangen.«
Tom zog einen Taschenspiegel aus demParka, klappte ihn
auf, hielt ihn Phil vors Gesicht.»Ich will, dass du uns sagst,
was du siehst.«
»Mich.«
»Mich«, höhnte Tom. »Genau.« Erdrückte den Spiegel
auf Phils Nase. »Und? Findest duschön, was du da siehst?«
Phils Gesicht. Blass wie eineBetonwand, Nase stupsig,
Sommersprossen drauf.
»Du gibst also zu, dass du hässlichbist, Sprossenfresse?«
Die Sonne brannte in makellosenSenkrechten auf Phil
herunter, obwohl es Januar war,obwohl seine Schuhe im
Schnee versanken,obwohl der Himmel sonst immer so matschig
grau war wie der zermatschte Schneeauf den Straßen.
Ausgerechnet jetzt mussten sich dieWolken verziehen, damit
die Sonne dieses Elend hier unten richtigausleuchten
konnte.
Phil hatte Tränen in den Augen.
»Du hast wirklich verdammtes Glück,dass wir da sind«,
sagte Tom und grinste rüber zu Jakobund Leo. »Streck
deine Hand aus.«
»Was!?«
»Ich will deine Hand sehen!«
Phil gehorchte. Seine Brust zog sichzusammen.
»Wir wollen dir nur helfen.Innenfläche nach oben. Na,
siehst du, geht doch.« Tom zog die Nase hoch, schob seinen
Kiefer schmatzend hin und her,öffnete den Mund und ließ
einen gelbschaumigen Speichelfadenauf Phils Handteller
tropfen.
Phil war starr. Toms Gesicht, glattund kalt wie Badezimmerkacheln.
Kein Kontakt möglich. KeinInnenleben.
Auch die andern beiden rotzten aufPhils Hand.
»Weißt du, was das ist?«, fragte Tom. »Ein Zaubermittel
gegen Sommersprossen. Und jetzteinreiben. Los!«
Phil reagierte nicht. SeinBrustmuskel hatte sich um seine
Lungen gelegt wie eine eiserneSchlinge. Immer dieses verdammte
Asthma. Aber wenn er jetzt seinen Inhalator herauszog,
würden sie ihm den wegnehmen. Unddann?
»Einreiben!«,forderte Tom.
Phil schloss die Augen, verrieb sichden Rotz im Gesicht.
Der Speichel auf seiner Wange. KeineLuft mehr. Als würde
er implodieren.
»Zwei von jedem«, forderte Tom vonseinen Kumpels.
»Ich hab s euch doch gesagt, dasser s tut. Der ist ein Schisser
ohne Rückgrat.«
Röchelnd brach Phil zusammen. DasGefühl zu ersticken.
Sein Atmen nur noch ein Pfeifen.Todesangst. Sie zogen ihm
die Pumas aus, rissen ihm die Sockenvon den Füßen. Noch
ein Tritt in die Seite, dann warensie endlich weg. Mit letzter
Kraft zog er den Inhalatoraus der Tasche, pumpte sich
das rettende Corticoidin den Mund. Seine Lunge weitete
sich. Luft! Er schnappte danach wieein Verdurstender nach
Wasser.
»Alles klar mit dir?«
Das war eine Frauenstimme. Er sah indas Gesicht eines
Mädchens. Hübsch. Kaum älter als er,hochgesteckte braune
Haare, die Augen groß und strahlendblau.
»Hallo. Alles klar mit dir?«, wiederholte sie.
»Geht schon«, antwortete Phil, socool er konnte, und
rappelte sich hoch. Das Gefühl, alswürde sein Herzschlag
von einem Zufallsgenerator geregelt:schnell, schnell, langsam,
schnell.
Als er sich umdrehte, war dasMädchen weg, genau wie
seine teuren Pumas. Die Jungs hattensie mitgenommen.
Häuser wie längliche Pappschachteln.Wohnmaschinen in
Reih und Glied. Die Sonne hatte sichwieder verzogen,
die Siedlung wirkte wieausgestorben. Kein Mensch auf der
Straße. Seine nackten Füßeklatschten auf den schneenassen
Asphalt.
Mit klammen Fingern nahm er denHausschlüssel aus der
Hosentasche. Vierter Stock. DreiZimmer, Küche, fensterloses
Bad. Ein Balkon, auf dem gerade malein Handtuch
Platz fand und nur eine Stunde amTag die Sonne schien.
Nordseite. Das war sein Zuhause.Hier lebte er mit seiner
Mutter Sandra. An seinen Vaterkonnte er sich nicht erinnern.
Der war schon vor seiner Geburtabgehauen. Hatte
ihm seine Mutter erzählt. Ob dasstimmte, wusste er nicht.
Der Teppich unter seinen Füßen.Einen Moment glaubte
er, alles sei gut. Dann begann dieWärme, unter seinen nackten
Sohlen wie Feuer zu brennen.
»Mama?«
So ein Quatsch! Sie konnte nochnicht zu Hause sein. Sie
war bei der Arbeit. Deichmann -Schuhe zum Wohlfühlen.
Eine Filiale im Einkaufszentrum.Sicher saß sie auf einem
Höckerchen und half einem Kunden mitdem Schuhlöffel.
Abends, wenn sie nach Hause kam undihm zur Begrüßung
müde über die Wange strich, konnteer an ihrer Hand den
Geruch von Leder, Imprägnierung undFußschweiß riechen.
Das Licht im Bad und die Angst, sichim Spiegel anzusehen.
Braune Augen, mit denen er seinebraunen Augen anschaute.
Dunkelblonde, leicht gelockte Haare,widerspenstig.
Die Ohren leicht abstehend. DieOhren seines Vaters,
wie seine Mutter ihm mal gesagthatte.
Er stieg in die Badewanne, ließkaltes Wasser über seine
Füße laufen. Erst als der Schmerznachließ, erhöhte er die
Temperatur. Je wärmer seine Füßewurden, desto kälter
wurde sein Körper. Nackt undschlotternd stand er im Wasser,
die Arme um die Brust geschlungen.Schlag ihnen in die
Fresse, Phil, nur einmal! Schau nur,wie sie bluten. Er setzte
sich, griff nach der Flasche mit demSchaumbad. Er beobachtete,
wie sich der Schaum auf derOberfläche ausbreitete.
Das beruhigte. Der Spiegel über demWaschbecken beschlug.
Er schloss die Augen und dachte andas Mädchen.
Ihr langes, hochgestecktes braunesHaar hatte geglänzt. Genau
wie ihre strahlend blauen Augen. Siewar schöner als alle
Mädchen, denen er bisher begegnetwar. Es waren nicht
viele gewesen. Keine von ihnen hattesich irgendwas aus
ihm gemacht.
Langsam ließ er sich unter Wassergleiten, krümmte seinen
Körper, die Beine leicht angezogen,bis auch sein Kopf
unter Wasser lag. Er spürte, wie esin seine Ohren drang, in
seine Nase. Nichts war zu hören.Stille.
»Philipp!«
Er tauchte auf, wischte sich denSchaum aus dem Gesicht.
»Mama?!«
Keine Antwort. Er verstand nicht.Seine Mutter war der
einzige Mensch, der ihn Philippnannte. Wer hatte ihn gerufen,
wenn nicht sie?
Er holte tief Luft, tauchte wiederab. Woher kam dieser
merkwürdige Geschmack auf seiner Zunge? Das warKaffee,
ohne jeden Zweifel
( )
© cbjVerlag
- Autoren: Manfred Theisen , Christoph Wortberg
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2006, 1, 202 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570129292
- ISBN-13: 9783570129296
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