Der Kompass
Der Kompass hat die Welt verändert wie zuvor vielleicht nur die Erfindung des Rades. Er revolutionierte die Navigation und die Kunst der Kartierung. Er stand am Beginn einer Epoche, in der der...
Der Kompass hat die Welt verändert wie zuvor vielleicht nur die Erfindung des Rades. Er revolutionierte die Navigation und die Kunst der Kartierung. Er stand am Beginn einer Epoche, in der der Seehandel einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung nahm und ermöglichte den Aufstieg Venedigs zur Weltmacht. Der Kompass verhalf Europa zu Wohlstand, kulturellem Fortschritt und einer neuen Weltsicht. Ohne ihn hätten die großen Entdecker die Welt nicht so erfolgreich und folgenreich erforschen können.Auf den Spuren einer Jahrtausenderfindung unternimmt Bestsellerautor Amir D. Aczel eine spannende Entdeckungsreise durch die Geschichte von der Antike bis zur Neuzeit, ohne dabei je vom Kurs auf das Wesentliche abzukommen. "Eingängig erkundet Aczel Ursprung und Bedeutung des wichtigsten Navigationsinstrumentes der Welt. Ein faszinierender Stoff." (The New York Times)
Der Kompass von Amir D. Aczel
LESEPROBE
Kapiteleins
ODYSSEE
Schon alsKind interessierte ich mich für den Kompass. Ich wurde auf einemPassagierschiff groß, das im Mittelmeer kreuzte. Sein Kapitän war mein Vater.Ich verbrachte meine ganze Kindheit an Bord, abgesehen von den paar Monaten desJahres, die ich zum Schulbesuch an Land blieb. Auf See arbeitete ich Versäumtesdurch Korrespondenz mit meinen Lehrern auf. Irgendwie gelang es mir, auf dieseWeise meine Schulausbildung abzuschließen. An Bord des Schiffes jedoch lernteich andere Dinge.
Als ichzehn Jahre alt war, lehrte mich mein Vater, ein Schiff zu steuern. Ein Mitgliedder Mannschaft brachte mir einen kleinen Schemel, damit ich ans Steuerradheranreichen konnte. Anfangs hielten mein Vater und ich es gemeinsam, dannlernte ich, nach den Anweisungen meines Kapitäns allein zu steuern. «Backbordzehn», wird mein Vater angeordnet haben. «Backbord zehn, Sir», werde ich geantwortethaben und auf Kurs gegangen sein. «Steuerbord fünf», wird er mir zugerufenhaben, und ich werde «Steuerbord fünf» erwidert und das Rad herumgeworfenhaben. Danach kamen schwerere Aufgaben auf mich zu. Wenn mein Vater befahl:«Kurs halten!», musste ich mit Hilfe des Schiffskompasses exakt auf jenem Kursbleiben, der in dem Augenblick angezeigt wurde, als mein Vater den Befehl erteilte.Das war schwierig: Ein Schiff ist kein Auto, wie ich Jahre später erfuhr, als ichalt genug war, um den Führerschein zu machen. Ein Schiff ist träge und reagiertlangsam. Selbst bei gerade ausgerichtetem Ruder setzt das Schiff seine einmalbegonnene Drehbewegung fort. Um diese Bewegung zu beenden, muss man das Ruderauf die entgegengesetzte Seite legen, bis das Schiffdarauf reagiert. Dann muss man, jene Position der Drehbewegung antizipierend, inder das Schiff ruhig auf Kurs liegt, erneut Gegenruder geben. Wie ich im Altervon zehn Jahren begriff, ist das Steuern nach Kompass eine Kunst undWissenschaft zugleich.
Im Laufeder Jahre entwickelte ich ein Gespür für Kompass und Ruder. Im Bewusstsein desVertrauens, das mein Vater in mich setzte an Bord des Schiffes befanden sichsiebenhundert Menschen , bemühte ich mich sehr, meine Sache möglichst gut zumachen. Heute, viele Jahre später, habe ich noch immer das Ticken des Kompassesim Ohr, wenn das Schiff, Grad um Grad, herumschwang,wobei der Rhythmus des Tickens angab, wie schnell sich das Schiff drehte, unddamit, wie stark ich gegensteuern musste, um der Drehbewegung Einhalt zugebieten. Die größte Herausforderung, der ich mich als junger Rudergängergegenübersah, ergab sich drei oder vier Jahre nachdem ich das Ruder zum erstenMal übernommen hatte. Da bat mein Vater mich, sein Schiff durch die Straße vonMessina zu steuern.
Die Straßevon Messina ist eine schmale Meerenge zwischen der Region Kalabrien amSüdzipfel Italiens und der Insel Sizilien. Da die Straße zwei Becken desMittelmeers, die durch große Landmassen voneinander getrennt sind dasTyrrhenische und das Ionische Meer , miteinander verbindet, bilden sich vonder südlichen Einfahrt in die Straße bis zu ihrem schmalen Ende bei Messinaheftige Strömungen. Ein Schiff durch diese Passage zu steuern ist selbst füreinen sehr erfahrenen Rudergänger eine schwierige Aufgabe. Es war Nacht, undwährend wir uns nordwärts vorarbeiteten, konnte ich zu beiden Seiten desSchiffes die Lichter der Dörfer und Städtchen sehen. Als wir uns derDurchfahrt bei Messina näherten, begann das Schiff zu stampfen und in den wildenStrömungen zu rollen, die sich an dieser Engstelle vereinen. Mit wachsenderGewalt der Strömungen beschleunigte sich das Ticken des Kompasses, und ichhatte das Ruder auf Backbord zu legen, dann schnell auf Steuerbord und nochschneller wieder auf Backbord, um ein Übersteuern zu vermeiden. Gelegentlichschien es, als würde das Schiff den Strömungen unterliegen, aber ich war nichtbereit, der See den Sieg in diesem Kampf zu überlassen. Als wir die Straßehinter uns gelassen hatten und wieder ruhige Gewässer durchfuhren, kam meinVater zu mir herüber. Wir standen einen Augenblick lang beieinander und verfolgtenmit unseren Blicken die bernsteinfarben glühende Lava, die auf der fernen InselStromboli im Tyrrhenischen Meer, in das wir gerade eingefahren waren, inregelmäßigen Intervallen in die Luft geschleudert wurde. «Gut gemacht», sagte erruhig. Wir waren auf sicherem Weg in unseren Bestimmungshafen in Süditalien.
Viele Jahrespäter befand ich mich wieder im freundlichen, sonnigen Süditalien. Und einweiteres Mal hatte mich ein Kompass dorthin geführt. Ich war gekommen, um dieUrsprünge jenes geheimnisvollen Geräts zu suchen, das mich seit meinerKindheit faszinierte jenes Instruments, das die Navigation revolutionierthatte.
Sobald ichSalerno hinter mir gelassen hatte und die Küste entlang westwärts in Richtung Amalfi fuhr, wurde die Straße sehr kurvenreich. Ich mussteherunterschalten, doch der Alfa Romeo 156 war für eine so schwierige Streckewie geschaffen; der Motor surrte, die Reifen hielten den Wagen auf der Straßeund brachen nicht einen Zollbreit aus, als ich die erste Haarnadelkurve nahm.Es war ein Freitagnachmittag im Frühsommer, und viel zu viele Fahrer erprobtenihre Fertigkeiten auf der schmalen Straße an den steilen Klippen.
Ich ließmeinen Blick schweifen. Zu meiner Rechten reckte sich eine schroffe Felswandgen Himmel, zur Linken fielen die Klippen steil ab in die See. Als ich michmeinem Ziel näherte, wurde die Vegetation dichter: knorrige Olivenbäume, roterund weißer Oleander, purpurfarbene Bougainvilleen,wilde Zitronen- und Orangenbäume, deren Äste sich unter der Last der reifenFrüchte bogen. Ein paar Kilometer weiter erblickte ich die stuckverziertenSteinhäuser, welche die Bewohner der Costiera Amalfitana in die felsigen Hänge gebaut haben. Eine Stundespäter, als das Auto nach einer letzten scharfen Kehreaus einem kurzen Tunnel kam, sah ich unter mir, an einer tiefblauen Bucht, dieStadt Amalfi liegen. Ich parkte am Straßenrand undstieg an gepflegten Häusern mit Blumenkästen voller Geranien vorbei dieschmalen Stufen zum alten Hafen hinab. Auf meinem Wege abwärts kam ich an einemHotel vorüber, dessen verblichenes Schild die Aufschrift «Hotel la Bussola» (bussole, Kompass) trug.
Bald befandich mich im Zentrum Amalfis, einer kleinen Hafenstadt.Über einem Torbogen entdeckte ich eine Bronzetafel mit italienischer Inschrift,die übersetzt lautete:
GanzItalien und Amalfi müssen der wunderbaren Erfindungdes Magnetkompasses, ohne die Amerika und andere unerforschte Gebiete niemalsfür die Zivilisation erschlossen worden wären, ein ehrenvolles Andenkenbewahren. In Erinnerung an diese rein italienische Ruhmestat gilt der besondereDank der Stadt Amalfi ihrem unsterblichen Sohn FlavioGioia, dem glücklichen Eifinderdes Magnetkompasses. 1302-1902 -
In der Nähedes begrünten zentralen Platzes trug ein kleiner Obelisk eine Plakette mit derJahreszahl 1902. Die gemeißelte Inschrift lautete: «Amalfidem Flavio Gioia, dem Erfinder des Kompasses». Aufder anderen Seite der Straße, dem Meer zugewandt, stand die große Bronzeplastikeines Mannes, dessen Kopf eine Kapuze bedeckte und der auf ein Instrument inseiner Hand hinabblickte. Er wirkte wie eine Mischungaus Dante und Kolumbus, vielleicht kein Zufall. Eine schlichte Tafel am Fußeder Statue trug ein Kreuz und einen Namen: Flavio Gioia.
HistorischeQuellen, die ich bei meinen Recherchen zum Kompass zu Rate gezogen hatte,nannten Amalfi als den Ort dieser europäischenErfindung; in manchen Schriften wurde der Name Flavio Gioiaerwähnt. Auf den Straßen Amalfis und in allenhistorischen Anmerkungen war er höchst lebendig doch wer war er?
Ich gingzur Buchhandlung am Marktplatz. Es gab Bücher zu jedem Thema, auf Italienischund in anderen Sprachen. Es gab aber nicht ein einziges Buch oder irgendeine Schriftüber den berühmtesten Sohn Amalfis; kein Wort zu FlavioGioia. Ich fragte nach ihm auf den Straßen, in Geschäftenund im Touristenzentrum, aber niemand schien zu wissen, wo ich über den Mannund seine Erfindung Informationen erhalten könnte. Ich ging an einerHaltestelle vorüber. Ein Schild verkündete den Namen der örtlichen Busgesellschaft:«Flavio Gioia». In Amalfiwar Flavio Gioia überall und nirgends zu finden. Ichwar fest entschlossen, mehr über den geheimnisvollen Erfinder des Kompasses in Erfahrungzu bringen, aber wo? Schließlich gab mir ein Polizist einen Hinweis.
«VersuchenSie's mal im Kulturzentrum von Amalfi», antwortete erauf meine Frage nach Flavio Gioia. Er beschrieb mirden Weg zu einem Gebäude in einer abgelegenen Gasse, weit entfernt vomStadtzentrum und seinen sonnenhungrigen Urlaubern. Ich durchwanderte dieschmalen Sträßchen des versteckten Teils von Amalfi,stieg ein paar Treppen empor, umrundete schließlich ein architektonisch eheranspruchsloses Gebäude und betrat das Kulturzentrum der Stadt. «0 ja, wirhaben etwas Material über Flavio Gioia», sagte derArchivar. «Aber, wissen Sie, es ist nicht ganz klar, ob es den Mann je gegebenhat. Hier, lesen Sie selbst, bevor Sie der Sache weiter nachgehen», sagte erund überreichte mir ein Faltblatt mit einem Zitat des italienischenHistorikers Padre Timoteo Bertelli. Ich las:
Flavio Gioia hat es niemals gegeben. Er ist lediglich eine ArtMythos, der erst lange nach der ihm zugeschriebenen Lebenszeit entstanden undinfolgedessen mit Vorsicht zu behandeln ist. Er dürfte ein Produkt derlebhaften Phantasie des Südens sein, welche die Bewohner Amalfisund benachbarter Regionen auszeichnet...
«Da hab ichmir den ganzen weiten Weg gemacht, bloß um ... », murmelte ich missmutig. «LebhaftePhantasie des Südens?» Ich blickte von BertellisSchrift auf und sah das milde Lächeln des Archivars. In seinen Augen lag dieWeisheit ganzer Generationen italienischer Wissenschaftler, Archivare,Redakteure, gewissenhafter Sammler historischer Fakten.
«Nun werfenSie die Flinte nicht gleich ins Korn, Professore», sagteer. «Sie haben einen weiten Weg hinter sich, aber ich glaube, Sie sind hier amrechten Ort, um Ihr Rätsel zu lösen.»
Mit einemdumpfen Laut setzte er mir einen Stapel verstaubter alter Bücher vor die Nase,entschuldigte sich eilig und verschwand in seinem Büro.
Ich saß imstickigen Lesesaal des Zentrums für Kultur und Geschichte der Stadt Amalfi und entnahm dem Bücherstapel einen ersten Band. Alsich die vergilbenden Seiten aufschlug, stieß ich auf eine seltsame Abhandlung:eine in französischer Sprache geschriebene, aber in Neapel erschienene Schrift,die zweihundert Jahre alt war. Der Verfasser hatte die Navigation des Altertumsgründlich studiert und behauptete herausgefunden zu haben, welche NavigationsmethodenOdysseus verwendet habe.
© RowohltVerlag
Übersetzung:Hainer Kober
- Autor: Amir D. Aczel
- 2005, 1, 176 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 349800056X
- ISBN-13: 9783498000561
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