Der Mann, der die Mauer öffnete
Warum Oberstleutnant Harald Jäger den Befehl verweigerte und damit Weltgeschichte schrieb
Er ist als 18-jähriger dabei, als die Mauer in Berlin gebaut wird. Und er lässt sie 28 Jahre später wieder öffnen - gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten. Hier erzählt Harald Jäger sein Leben: von seiner DDR-Karriere bis zu den Beweggründen...
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Produktinformationen zu „Der Mann, der die Mauer öffnete “
Er ist als 18-jähriger dabei, als die Mauer in Berlin gebaut wird. Und er lässt sie 28 Jahre später wieder öffnen - gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten. Hier erzählt Harald Jäger sein Leben: von seiner DDR-Karriere bis zu den Beweggründen für seine mutige Entscheidung an jenem 9. November.
Klappentext zu „Der Mann, der die Mauer öffnete “
Harald Jäger kann nicht ahnen, welch bedeutende Rolle ihm einmal zufallen wird, als er sich 1961 freiwillig zum dreijährigen Dienst bei der DDR-Grenzpolizei meldet. Aus einem kommunistischen Elternhaus stammend, lässt er sich vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) anwerben, durchläuft die Kaderschmieden der SED und die geheime Hochschule des MfS, arbeitet als Fahndungsoffizier und spezialisiert sich in der Terrorabwehr - eine DDR-Musterkarriere. Welche Erfahrungen führen dazu, dass ausgerechnet Harald Jäger das Ende seines Staates besiegelt? Welche dramatischen Szenen spielen sich in der Nacht des 9. November hinter den Kulissen jenes Berliner Grenzübergangs ab, ehe er den Befehl verweigert und auf eigene Faust den Schlagbaum öffnet?In intensiven Gesprächen mit Harald Jäger fördert der Publizist Gerhard Haase-Hindenberg den Schlüssel zum Verständnis dieser Handlung zutage. Ihm erzählt Jäger zum ersten Mal von seinen Erlebnissen als Grenzpolizist und später Oberstleutnant einer Passkontrolleinheit, ihm offenbart er skandalöse Interna aus der Arbeit des MfS. Mutig und offen geht Jäger dabei nicht nur mit dem Überwachungssystem der Staatssicherheit, sondern auch mit der eigenen Person ins Gericht. Ein bewegtes und bewegendes, ein widerspruchsvolles und exemplarisch deutsches Leben.
Lese-Probe zu „Der Mann, der die Mauer öffnete “
Mehrfach war mir der Name des einstigen Oberstleutnants Harald Jer im Zusammenhang mit den Ereignissen des 9. November 1989 begegnet. In einer Fernsehdokumentation und im Spiegel und auch in der Buchdokumentation Mein 9. November des Historikers Hans-Hermann Hertle und der Journalistin Kathrin Elsner. Aber erall, wo dieser ehemalige Staatssicherheits-Offizier befragt wurde, war man lediglich am Verlauf jener Nacht interessiert und nicht an dessen sehr perslichem Motiv, die Grenzen zu fnen - entgegen des an diesem Abend mehrfach erneuerten Befehls. Dabei lehrt doch die Geschichte, dass deutsche Offiziere niemals aus einer spontanen Laune heraus Befehle verweigern. Vielmehr ging dem immer ein oft lange wrender innerer Prozess voraus.Dies war bei dem Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seinen militischen Mitverschwern am 20. Juli 1944 ebenso der Fall wie bei dem preuschen General Johann Friedrich Adolf von der Marwitz. Der hatte sich fast zweihundert Jahre zuvor geweigert, den Befehl Friedrichs II. auszufren, das shsische Schloss Hubertusburg zu pldern. Noch heute ist auf seinem Grabstein zu lesen: "Wlte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte."
Hatte also auch der Befehlsverweigerer des 9. November 1989 eine solch stille Vorgeschichte von Zweifeln und inneren Kpfen? Immerhin hte er sich in jener Nacht angesichts der heranstrenden Massen auch ganz anders entscheiden knen. Nur wenige Kilometer slich von seiner Grenzergangsstelle an der Bornholmer Stra hat der diensthabende Offizier der Passkontrolleinheit an der Invalidenstra eine gzlich andere Problemlung ins Auge gefasst: nlich die Offiziersscher der Grenztruppen als militischen Trumpf einzusetzen. Sie hatten am 40. Jahrestag der DDR an der Parade teilgenommen und waren danach wegen der angespannten Lage nicht in ihre Kasernen im shsischen Plauen zurkgeschickt worden. Diese Entscheidung hte in der Folge nicht zwingend zu einem Blutvergien fren msen. Dennoch wird der damalige DDR-Staats-
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und Parteichef Egon Krenz ff Jahre sper davon sprechen, dass sein Land in jener Nacht "am Rande eines Bgerkriegs" gestanden habe. Angesichts dieser Situation hielt Harald Jer ein Beharren auf den Befehl des Ministeriums f Staatssicherheit, "die Grenzergangsstelle zuverlsig zu schzen", f weltfremd. Wie so viele Entscheidungen der politischen Frung in den Monaten und Jahren zuvor. Das also war sie, die von mir vermutete mentale Vorgeschichte, die ich schon bei den ersten Begegnungen mit dem einstigen Oberstleutnant bestigt fand. In unseren monatelangen Gesprhen erzlte er mir gegener aber auch eine aurgewnliche und zeitweilig hhst widerspruchsvolle Lebensgeschichte, die zudem erklt, warum Harald Jer derjenige geworden ist, der er am 9. November war. Aus beidem zusammen ergibt sich konsequenterweise, weshalb er in jener Nacht den Befehl seiner Vorgesetzten verweigerte und damit schlieich Weltgeschichte schrieb.
Die einzelnen Kapitel dieser Lebensgeschichte werden im vorliegenden Buch fast ausschlieich aus der sehr perslichen Perspektive des Harald Jer erzlt - auf der Basis seines Denkens und Bewusstseins im Herbst 1989. Gelegentlich aber schien es mir nig, auf neuere Erkenntnisse oder auch auf grere Zusammenhge hinzuweisen, die er zum damaligen Zeitpunkt nicht sehen oder wissen konnte. Diese Hinweise sind kursiv in den Text gesetzt.
Da es sicher einem Bedfnis der Leser entspricht, auch die heutige Sicht des einstigen Oberleutnants der DDR-Staatssicherheit auf die damaligen Verhtnisse und Ereignisse in der DDR und die eigene schuldhafte Verstrickung kennen zu lernen, fand schlieich das ab Seite 238 abgedruckte abschliende Gesprh statt. Etwa zur gleichen Zeit hatte ich in Peter Sloterdijks Werk 'Im Weltinnenraum des Kapitals' eine Aussage entdeckt, die ich meinem Gesprhspartner vorstellte. ereinstimmend empfanden wir, dass jenes Zitat unfreiwillig unser jeweiliges Gefl am Ende dieser gemeinsamen Arbeit beschreibt:
Zum Glk sind die Zeiten vorer, in denen Doktrinen attraktiv wirken konnten, die ihren Adepten mit Hilfe einer Hand voll vereinfachter Konzepte den Zugang zum Maschinenraum der Weltgeschichte aufzusperren versprachen - wenn nicht sogar zum Verwaltungsstockwerk des Turmes von Babel.
Gerhard Haase-Hindenberg
I. Sonnabend, 30. September 1989
Um 18.58 Uhr tritt Aunminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der bundesrepublikanischen Botschaft in Prag. Im Garten und auf den Fluren warten fast 4000 DDR-Bger, die in den letzten Wochen er den Zaun des Botschaftsgeldes gestiegen sind und hier ausgeharrt haben, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Als Genscher ihnen mitteilt, dass die DDR-Regierung diesem Wunsch endlich stattgegeben hat, bricht unbeschreiblicher Jubel aus.
Beleuchtete Fenster in ffstkigen Mietshsern zeugen davon, dass auch dort dren Leben stattfindet. Die Scheinwerfer eines Streifenwagens, der vor dem Polizeiposten jenseits der Grenzbrke umherkurvt, streifen deren im Dunkel liegendes gewaltiges Stahlgert. Oberstleutnant Harald Jer blickt hiner zu jener anderen Welt, die f ihn von jeher die des Gegners ist. Feindesland. In den Hsern dort aber lebt nicht der Gegner. Nicht die Bourgeoisie jedenfalls, sondern eher Klassenbrer, in jenem Stadtbezirk auf der anderen Seite der Brke, der Wedding hei. Das weier. Frer war das einmal der "Rote Wedding", wie er es aus dem alten Arbeiterlied kennt, welches man ihm in der Volksschule im shsischen Bautzen beigebracht hatte. "Roter Wedding, grt euch, Genossen/haltet die Fste bereit/ haltet die roten Reihen geschlossen/dann ist der Tag nicht mehr weit ..." Unter ihm donnert die S-Bahn entlang. In den hell beleuchteten Waggons sind die gleichgtigen Gesichter der Passagiere zu erkennen, wrend sie auf der Grenzlinie zweier Weltsysteme entlanggleiten. Unmittelbar neben der fast sechs Meter hohen Hinterlandmauer auf westlicher Seite. Nur wenige Meter entfernt, doch auch sie in jener f ihn unerreichbaren feindlichen Welt.
Der Oberstleutnant war zum Postenhschen Vorkontrolle/Einreise heraufgekommen, weil er sicher war, dass der junge Oberleutnant, der hier heute Nacht seinen Dienst versah, mit ihm wde sprechen wollen. Immer wieder in den letzten Monaten hatte der junge Mann das Gesprh gesucht mit dem erfahrenen Offizier, der drei Dienstrge er ihm stand. Er hatte Fragen - kritische Fragen, manchmal auch provokante Fragen, gelegentlich sogar Zweifel. Ob sich das sozialistische Wirtschaftssystem auf lange Sicht tatshlich als leistungsstker erweisen wde als das kapitalistische? Schlieich sehe es doch im Moment erhaupt nicht danach aus. Oder warum die westlichen Besucher vielfach einen selbstbewussteren Eindruck machen wden als die meisten Bger der DDR? Im Stranbild der Hauptstadt kne er sie leicht voneinander unterscheiden, an der Art, sich umzublicken, an Kperhaltungen und Gesten.
Harald Jer versteht den jungen Offizier gut. Es sind vielfach die gleichen Fragen und Beobachtungen, die auch ihn beschtigen. Vielleicht spt der junge Genosse die geistige Verwandtschaft, auch wenn es der Oberstleutnant immer sorgsam vermied, ihn in seinem Zweifel zu bestken. Vielleicht gent es dem Untergebenen, dass er in dem Vorgesetzten jemanden hat, der ihn wegen seiner Fragen nicht gleich zum Aunseiter stempelt. Wie die meisten anderen Kollegen hier. Vielleicht geflt ihm auch, dass der ihn nicht mit parteikonformen Phrasen abspeist. Wenngleich ihn dessen Antworten kaum befriedigen knen. Harald Jer wei dass er jedes Mal einen argumentativen Seiltanz vollfrte, wenn er erklte, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung immerhin einen Erfahrungsvorsprung von mehr als zweihundert Jahren habe. Als ob dies die Frage nach der perspektivischen erlegenheit beantworten wde. Oder dass man bei den westlichen Besuchern ja nur deren Fassade sehe, hinter die man nicht blicken kne. Obgleich er doch genau dies seit einem Vierteljahrhundert regelmig und nicht ohne Erfolg tue. Dort hinten in der niedrigen Baracke, mittels jener unverfglich wirkenden Befragungstechnik, die im Fachjargon "Abschfen" hei.
Der junge Mann neben ihm bleibt stumm. Dabei ge es gerade an diesem Abend einiges, worer es sich zu sprechen lohnte. Ab heute nlich, so glaubt Harald Jer, wde vieles nicht mehr so sein wie vorher. Der Staat hatte sich erpressen lassen, hatte klein beigegeben vor ein paar tausend Leuten. Immer wieder drgen die Bilder aus der heutigen Tagesschau vor sein geistiges Auge. Die vom westdeutschen Aunminister auf dem Balkon der BRD-Botschaft in Prag. Wie er mit heiserer Stimme und unverkennbarem Hallenser Dialekt verkdet, dass es den Besetzern erlaubt sein wde, in den Westen auszureisen. Die der Botschaftsflhtlinge, wie sie sich jubelnd und weinend in die Arme fallen. Und er ht wieder und wieder die Stimme seiner Frau, die neben ihm kaum hbar "Wirtschaftsflhtlinge" murmelt. Als ob es so einfach we. Wer setzt schon f ein paar amerikanische Jeans oder den Traum von einem schnellen Auto die eigene soziale Sicherheit aufs Spiel? Und die seiner Kinder? Da msen noch andere Grde eine Rolle spielen. Aber welche? Der Oberstleutnant ist froh, dass ihn der Oberleutnant diesmal nicht danach fragt.
Frjahr 1960
Der Film Zu jeder Stunde, den der siebzehnjrige Ofensetzerlehrling Harald Jer im Bautzener Central-Kino sah, wurde zu einer Art Erweckungserlebnis. Die Geschichte einer Grenzpolizeieinheit an der Grenze zwischen Thingen und Bayern war von der DEFA als die einer gut ausgebildeten, bewussten Truppe an der Nahtstelle "zwischen Arbeitermacht und Klassenfeind" propagandistisch in Szene gesetzt worden. Es war nicht die erste Begegnung des Jugendlichen mit der Grenzpolizei. Schlieich hatte sich sein Vater schon ein Jahrzehnt zuvor f drei Jahre zum Grenzdienst in der Heimat verpflichtet. Nicht ganz freiwillig - in einem Kriegsgefangenenlager tlich des Urals. Vier Jahre nach dem Ende des Krieges. Der kleine Harald war stolz auf dessen Uniform, nachdem er sich erst einmal erschrocken von dem fremden Mann abgewandt hatte, der dr und abgerissen aus der Weite Sibiriens in die Bautzener Arbeitersiedlung Herrenteich zurkgekehrt war. Und in seiner Schule war ein Waldemar Estel zum Helden erklt worden.
Die "Heldentat" des Waldemar Estel hatte darin bestanden, einen todbringenden Fehler zu begehen. Am 3. September 1956 hatte der dreiundzwanzigjrige Grenzpolizist einen Mann festgenommen, der vom Westen aus ins Grenzgebiet eingedrungen war, ohne diesen nach Waffen zu durchsuchen. Das aber war den Bautzener Volksschern nicht erzlt worden. Harald Jer wird diesen Hintergrund erst erfahren, wenn es die Grenze, die Waldemar Estel hatte schzen wollen, nicht mehr geben wird.
Letztlich aber seien es Oberleutnant Hermann Hne und seine Truppe in jenem DEFA-Streifen gewesen, die ihn veranlasst hten, sich nach Abschluss der Lehre freiwillig zum dreijrigen Grenzpolizeidienst zu melden. So jedenfalls wird er es sper seinen Kindern erzlen.
Abend f Abend stellt sie sich ein - diese von ihm als angenehm empfundene Zwischenzeit. Jene fast feierabendliche Ruhe vor dem nhtlichen Ansturm. Wenn nur noch einem beschrkten Personenkreis Einlass gewrt wird und die ersten Tagestouristen bereits die Heimreise antreten. Auf halbem Wege zwischen der Vorkontrolle/Einreise und seinem Bo unten in der Dienstbaracke bleibt Oberstleutnant Jer stehen und lst diese Stimmung auf sich wirken. Vor sich das riesige Areal seiner Dienststelle. Mit 22000 Quadratmetern ist dies hier die grte Berliner Grenzergangsstelle und wegen der nahen Wohngebiete auch die brisanteste. Wenngleich in den Hsern, die parallel zur Abfertigungsanlage stehen, fast ausnahmslos Genossen wohnen. Wenn nicht gar Mitarbeiter der "Firma", also der Staatssicherheit, der auch jeder Mitarbeiter der Passkontrolleinheit (PKE) - vom Leitungsoffizier bis zum einfachen Passkontrolleur - angeht. Sie stehen also nicht unter dem Befehl der Grenztruppen, die auf dem Turm schr hinter Harald Jer und unten am Grenzzaun Dienst tun. Das tschen ihre Uniformen nur vor.
Seit einem Vierteljahrhundert ist Harald Jer nun an diesem Grenzergang tig, der nicht wegen der Bewohner in den nahe gelegenen Hsern als neuralgisch gilt, sondern vor allem wegen jener, die in dem Stadtbezirk rundherum wohnen. Am Prenzlauer Berg, so wird vom Ministerium f Staatssicherheit eingeschzt, leben erdurchschnittlich viele Personen, die man als "feindlich-negative Krte" bezeichnet und die man wie Staatsfeinde observiert. Hier hat der damals einundzwanzigjrige Harald Jer als einfacher Passkontrolleur im Rang eines Feldwebels angefangen. Heute ist er Oberstleutnant und stellvertretender Leiter dieser Diensteinheit. Mit fast allen Gebden und tlichkeiten der Grenzergangsstelle verbindet er Geschichten und gesellschaftspolitische Epochen. Die Baracke in der Mitte dieses riesigen Areals war damals das einzige Gebde hier. Dort, wo heute die Operativkartei mit den Ergebnissen von tausenden von Gesprhen mit westdeutschen Reisenden lagert, war seinerzeit die Pass- und Zollabfertigung. Mit dem zunehmenden Reiseverkehr war es hier zu eng geworden. Inzwischen stehen rechts von dieser "Operativbaracke" nicht weniger als zehn Pkw-Spuren zur Verfung. Plus zwei Reservespuren, wenn es mal ganz eng wird. Weiter unten knen bei Bedarf bis zu acht Passkontrollstellen f Fuger in jener lang gezogenen Baracke mit den acht Durchggen gefnet werden.
Harald Jer denkt zurk an die ersten Passierscheinabkommen, die sein Staat in den fren 60er-Jahren mit dem West-Berliner Senat abgeschlossen hatte. An den vereinbarten Feiertagen, an denen Besuche aus West-Berlin mlich wurden, war hier die Hle los. Erst mit dem Viermhte-Abkommen ein Jahrzehnt sper war es West-Berlinern mlich, die Hauptstadt der DDR ganzjrig zu besuchen. Damals wurden dann diese zehn Fahrspuren und die acht Passkontrollstellen f Fuger eingerichtet. Und jene Dienstbaracke, die ganz rechts parallel zu den Wohnhsern steht. Hier haben Harald Jer und sein Vorgesetzter ihre Dienstzimmer - wie auch der Leiter des Grenzzollamts. Nebenan sitzen Fahndungsoffiziere vor einer Monitorwand und pren jedes Personaldokument der Reisenden. Dieses wird nlich von den Passkontrolleuren mit einer Unterflurkamera aufgenommen, via Standleitung erspielt und mit der Fahndungskartei verglichen. Im Raum gegener sitzt der Lageoffizier und beobachtet ebenfalls die gesamte Grenzergangsstelle auf zwf Monitoren. Er ht im Rapportbericht jede Besonderheit fest. Vor sich hat er die Telefonanlage, die ihn oder einen der PKE-Leiter auf Knopfdruck mit dem Operativen Leitzentrum (OLZ) in Scheweide verbindet. Es untersteht der Hauptabteilung VI des Ministeriums f Staatssicherheit und ist rund um die Uhr mit stlichen Passkontrolleinheiten an allen Grenzerggen der DDR verbunden. Unabhgig davon befindet sich im Zimmer des Dienstleiters ein Telefon, er das ihn der Minister f Staatssicherheit hhstselbst jederzeit erreichen kann. Und nicht selten macht Erich Mielke davon auch Gebrauch. Vor allem wenn in der feindlichen Presse mal wieder eine Schlagzeile im Zusammenhang mit der Grenze auftaucht.
Noch immer erflt es Oberstleutnant Harald Jer mit einem gewissen Stolz, wenn er ganz links, abgetrennt vom normalen Publikumsverkehr, die Diplomatenabfertigung mit den zwei eigenen Fahrspuren ins Visier nimmt. Seit die DDR zu Beginn der 70er-Jahre eine internationale Anerkennungswelle erfuhr und 1973 sogar - gemeinsam mit der Bundesrepublik - Mitglied der Vereinten Nationen wurde, hat jener Teil der Grenzergangsstelle an Bedeutung und Frequenz zugenommen. Viele Botschafter lassen sich er diese Spur zum West-Berliner Flughafen Tegel fahren und mancher Botschaftsangehige zu den Vergnungsstten auf dem Kurfstendamm. Das hat vor einigen Jahren zu einer diplomatischen Verwicklung gefrt, als in der "Intensivbaracke" links neben der Diplomatenspur der Koch der Schweizer Botschaft verhaftet wurde. Er war seit Wochen im Visier von Observateuren der Staatssicherheit. Offenbar hatte er zuvor schon mehrfach seine DDR-Freundin im Kofferraum auf seine West-Berliner Streifze mitgenommen. Ausgestattet mit den Personalpapieren eines Botschaftsangehigen, konnte er licherweise die Diplomatenabfertigung unkontrolliert passieren. Bis eines Tages auf hhster Ebene eine andere Anweisung erfolgte und der Schweizer Koch erfahren musste, dass er eben doch keine diplomatische Immunit besa Sein Fahrzeug war in jene Intensivbaracke dirigiert worden, in welcher der Zoll - nicht selten auf Anweisung und mit Unterstzung der PKE-Krte - die Autos von Reisenden einer intensiven Kontrolle unterzog. Dabei fand man schlieich die ostdeutsche Freundin des Kochs und sein Protest half ihm da wenig. Harald Jer weinicht, ob die anschlienden diplomatischen Verwicklungen, von denen er und seine Leute nur vom Hensagen erfahren haben, dazu frten, dass die Intensivbaracke inzwischen nicht mehr genutzt wird. Trotzdem finden natlich auch weiterhin solche Fahrzeugkontrollen statt - mittlerweile aber auf den vier speziell daf eingerichteten Parkplzen zwischen den zehn PKW-Spuren und der Diplomatenabfertigung.
Wieder ht Harald Jer hinter sich einen S-Bahnzug entlangdonnern. Diesmal aber ist es nicht die Bahn jenseits der Hinterlandmauer auf West-Berliner Gebiet, sondern die, welche zwischen Schhauser Allee und Pankow auf der DDR-Seite verkehrt. Auch ohne auf die Gleise hinunterzublicken, kann er dies schon anhand der Ne des Gerschs erkennen.
Langsam setzt Harald Jer seinen Weg schr er die Grenzergangsstelle in Richtung seiner Dienstbaracke fort. Seine Passkontrolleure wirken aus dieser Entfernung selbst dann wie militisch agierende Marionetten, wenn sie nur wartend herumstehen. Fremdbestimmt, ohne erkennbare Individualit. Er bekommt eine Ahnung davon, wie diese ihm so vertrauten Menschen auf die Einreisenden aus jener anderen Welt wirken msen, die dort hinten jenseits der Brke liegt. In aller Regel dauert das Zusammentreffen nur einen kurzen Augenblick, selten mehr als einige Minuten. Doch wird es von den Beteiligten aus vlig unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Sogar aus gegenszlichen. Der Reisende, der den Grenzertritt mlichst schnell hinter sich bringen will, trifft auf den Uniformtrer, der eine ganze Reihe von dienstlichen Anweisungen zu beachten hat. Eine antagonistische Begegnung, welche die Fremdheit zwischen den Beteiligten eher noch fdert. Dies erklt auch, weshalb die Einreisenden sich dann oft auskunftsbereit zeigen, wenn sie ein freundlicher Oberstleutnant scheinbar zuflig in ein Gesprh verwickelt. Sie wissen nicht, dass man nur deshalb an ihren Personaldokumenten "eine Unregelmigkeit erpren" muss, weil ihr Wohnort in der Ne eines amerikanischen Raketenstandorts liegt. Oder in der einer bedeutenden Waffenschmiede. Weil sie zuflig den Gehaltsstreifen einer Behde bei sich tragen. Oder auffallend viele Einreisestempel der USA im Pass haben. Sie ahnen sicher auch nicht, dass in dem gemlich eingerichteten Bo, in welches sie der Offizier beilfig bittet, die scheinbar private Unterhaltung aufgezeichnet wird. Wden sie sonst so freimig erzlen, von Problemen am Arbeitsplatz bis zum letzten Geschlechtsverkehr? Aber auch er Dinge, die vielleicht den noch fehlenden kleinen Stein in einem gron Puzzle bedeuten. Im Nebenraum sind die Ergebnisse dieser Gesprhe auf unzligen Karteikarten festgehalten, deren Existenz selbst nach den Gesetzen der DDR illegal ist - stets zur Verfung der landesweit operativ tigen Mitarbeiter. Manch ein Besucher aus Heilbronn oder der Ingolstter Gegend wurde so unfreiwillig und ahnungslos zum Informanten des Staatssicherheitsdienstes.
In einer halben Stunde wird, zaghaft zunhst noch, der Rkreiseverkehr beginnen, der sich dann bis Mitternacht deutlich steigern wird. Bis dahin nlich msen die BRD-Bger, die hier Stunden zuvor in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik eingereist sind, diese genau hier auch wieder verlassen. Und weil die DDR mit Hinweis auf "Geist und Buchstaben des Vierseitigen Abkommens" einen vkerrechtlichen Unterschied zwischen BRD-Bgern und denen aus Berlin-West macht, dfen sich Letztere mit der Heimreise zwei Stunden lger Zeit lassen. In jedem Fall aber werden unter den Rkreisenden auch heute wieder "alte Bekannte" des Harald Jer sein. Bger, deren Namen man bei der Einreise in der Fahndungskartei gefunden hat. Nicht jeder, der dort registriert ist, muss zurkgewiesen und kaum einer gar festgenommen werden. Oftmals gent es, zum Telefonher zu greifen und die Genossen von der VIII zu informieren. Diese Zivilkrte ernehmen dann jene Aufgabe, wof die "Hauptabteilung VIII" beim Ministerium f Staatssicherheit nun einmal verantwortlich ist: Observation und Ermittlung. Diese fsorgliche "Rundum-Betreuung" endet, wenn das "Beobachtungsobjekt" schlieich wieder an den Grenzergang zurkkehrt. Dorthin, wo es irgendwann im Laufe des Tages eingereist war. Vorausgesetzt, es hat in den Stunden dazwischen nicht gegen die Gesetze der DDR verston.
13. August 1961
Es hatte einige Sekunden gedauert, ehe der achtzehnjrige Grenzpolizist Harald Jer die Situation erfassen konnte. Ein lang gestreckter Sirenenton, zwei Sekunden, eine ebenso lange Pause, dann von vorn. Es war eindeutig das Signal f den Gefechtsalarm, welches ihn und seine Stubenkameraden aus dem Tiefschlaf gerissen hat. Nicht das f den Grenzalarm, der in den Wochen zuvor wieder und wieder als ung angesetzt worden war und im Fall einer Verletzung der Grenzanlagen zur Anwendung kommen wde. Gefechtsalarm hingegen bedeutete eine ernst zu nehmende Kriegsgefahr. Lag eine solche vor?, so fragte sich in diesen Minuten sicher nicht nur Harald Jer.
Schon bald darauf hallten die Trillerpfeifen der Unteroffiziere durch die Flure. Dann deren Ruf: "Gefechtsalarm."
Die einzelnen Kapitel dieser Lebensgeschichte werden im vorliegenden Buch fast ausschlieich aus der sehr perslichen Perspektive des Harald Jer erzlt - auf der Basis seines Denkens und Bewusstseins im Herbst 1989. Gelegentlich aber schien es mir nig, auf neuere Erkenntnisse oder auch auf grere Zusammenhge hinzuweisen, die er zum damaligen Zeitpunkt nicht sehen oder wissen konnte. Diese Hinweise sind kursiv in den Text gesetzt.
Da es sicher einem Bedfnis der Leser entspricht, auch die heutige Sicht des einstigen Oberleutnants der DDR-Staatssicherheit auf die damaligen Verhtnisse und Ereignisse in der DDR und die eigene schuldhafte Verstrickung kennen zu lernen, fand schlieich das ab Seite 238 abgedruckte abschliende Gesprh statt. Etwa zur gleichen Zeit hatte ich in Peter Sloterdijks Werk 'Im Weltinnenraum des Kapitals' eine Aussage entdeckt, die ich meinem Gesprhspartner vorstellte. ereinstimmend empfanden wir, dass jenes Zitat unfreiwillig unser jeweiliges Gefl am Ende dieser gemeinsamen Arbeit beschreibt:
Zum Glk sind die Zeiten vorer, in denen Doktrinen attraktiv wirken konnten, die ihren Adepten mit Hilfe einer Hand voll vereinfachter Konzepte den Zugang zum Maschinenraum der Weltgeschichte aufzusperren versprachen - wenn nicht sogar zum Verwaltungsstockwerk des Turmes von Babel.
Gerhard Haase-Hindenberg
I. Sonnabend, 30. September 1989
Um 18.58 Uhr tritt Aunminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der bundesrepublikanischen Botschaft in Prag. Im Garten und auf den Fluren warten fast 4000 DDR-Bger, die in den letzten Wochen er den Zaun des Botschaftsgeldes gestiegen sind und hier ausgeharrt haben, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Als Genscher ihnen mitteilt, dass die DDR-Regierung diesem Wunsch endlich stattgegeben hat, bricht unbeschreiblicher Jubel aus.
Beleuchtete Fenster in ffstkigen Mietshsern zeugen davon, dass auch dort dren Leben stattfindet. Die Scheinwerfer eines Streifenwagens, der vor dem Polizeiposten jenseits der Grenzbrke umherkurvt, streifen deren im Dunkel liegendes gewaltiges Stahlgert. Oberstleutnant Harald Jer blickt hiner zu jener anderen Welt, die f ihn von jeher die des Gegners ist. Feindesland. In den Hsern dort aber lebt nicht der Gegner. Nicht die Bourgeoisie jedenfalls, sondern eher Klassenbrer, in jenem Stadtbezirk auf der anderen Seite der Brke, der Wedding hei. Das weier. Frer war das einmal der "Rote Wedding", wie er es aus dem alten Arbeiterlied kennt, welches man ihm in der Volksschule im shsischen Bautzen beigebracht hatte. "Roter Wedding, grt euch, Genossen/haltet die Fste bereit/ haltet die roten Reihen geschlossen/dann ist der Tag nicht mehr weit ..." Unter ihm donnert die S-Bahn entlang. In den hell beleuchteten Waggons sind die gleichgtigen Gesichter der Passagiere zu erkennen, wrend sie auf der Grenzlinie zweier Weltsysteme entlanggleiten. Unmittelbar neben der fast sechs Meter hohen Hinterlandmauer auf westlicher Seite. Nur wenige Meter entfernt, doch auch sie in jener f ihn unerreichbaren feindlichen Welt.
Der Oberstleutnant war zum Postenhschen Vorkontrolle/Einreise heraufgekommen, weil er sicher war, dass der junge Oberleutnant, der hier heute Nacht seinen Dienst versah, mit ihm wde sprechen wollen. Immer wieder in den letzten Monaten hatte der junge Mann das Gesprh gesucht mit dem erfahrenen Offizier, der drei Dienstrge er ihm stand. Er hatte Fragen - kritische Fragen, manchmal auch provokante Fragen, gelegentlich sogar Zweifel. Ob sich das sozialistische Wirtschaftssystem auf lange Sicht tatshlich als leistungsstker erweisen wde als das kapitalistische? Schlieich sehe es doch im Moment erhaupt nicht danach aus. Oder warum die westlichen Besucher vielfach einen selbstbewussteren Eindruck machen wden als die meisten Bger der DDR? Im Stranbild der Hauptstadt kne er sie leicht voneinander unterscheiden, an der Art, sich umzublicken, an Kperhaltungen und Gesten.
Harald Jer versteht den jungen Offizier gut. Es sind vielfach die gleichen Fragen und Beobachtungen, die auch ihn beschtigen. Vielleicht spt der junge Genosse die geistige Verwandtschaft, auch wenn es der Oberstleutnant immer sorgsam vermied, ihn in seinem Zweifel zu bestken. Vielleicht gent es dem Untergebenen, dass er in dem Vorgesetzten jemanden hat, der ihn wegen seiner Fragen nicht gleich zum Aunseiter stempelt. Wie die meisten anderen Kollegen hier. Vielleicht geflt ihm auch, dass der ihn nicht mit parteikonformen Phrasen abspeist. Wenngleich ihn dessen Antworten kaum befriedigen knen. Harald Jer wei dass er jedes Mal einen argumentativen Seiltanz vollfrte, wenn er erklte, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung immerhin einen Erfahrungsvorsprung von mehr als zweihundert Jahren habe. Als ob dies die Frage nach der perspektivischen erlegenheit beantworten wde. Oder dass man bei den westlichen Besuchern ja nur deren Fassade sehe, hinter die man nicht blicken kne. Obgleich er doch genau dies seit einem Vierteljahrhundert regelmig und nicht ohne Erfolg tue. Dort hinten in der niedrigen Baracke, mittels jener unverfglich wirkenden Befragungstechnik, die im Fachjargon "Abschfen" hei.
Der junge Mann neben ihm bleibt stumm. Dabei ge es gerade an diesem Abend einiges, worer es sich zu sprechen lohnte. Ab heute nlich, so glaubt Harald Jer, wde vieles nicht mehr so sein wie vorher. Der Staat hatte sich erpressen lassen, hatte klein beigegeben vor ein paar tausend Leuten. Immer wieder drgen die Bilder aus der heutigen Tagesschau vor sein geistiges Auge. Die vom westdeutschen Aunminister auf dem Balkon der BRD-Botschaft in Prag. Wie er mit heiserer Stimme und unverkennbarem Hallenser Dialekt verkdet, dass es den Besetzern erlaubt sein wde, in den Westen auszureisen. Die der Botschaftsflhtlinge, wie sie sich jubelnd und weinend in die Arme fallen. Und er ht wieder und wieder die Stimme seiner Frau, die neben ihm kaum hbar "Wirtschaftsflhtlinge" murmelt. Als ob es so einfach we. Wer setzt schon f ein paar amerikanische Jeans oder den Traum von einem schnellen Auto die eigene soziale Sicherheit aufs Spiel? Und die seiner Kinder? Da msen noch andere Grde eine Rolle spielen. Aber welche? Der Oberstleutnant ist froh, dass ihn der Oberleutnant diesmal nicht danach fragt.
Frjahr 1960
Der Film Zu jeder Stunde, den der siebzehnjrige Ofensetzerlehrling Harald Jer im Bautzener Central-Kino sah, wurde zu einer Art Erweckungserlebnis. Die Geschichte einer Grenzpolizeieinheit an der Grenze zwischen Thingen und Bayern war von der DEFA als die einer gut ausgebildeten, bewussten Truppe an der Nahtstelle "zwischen Arbeitermacht und Klassenfeind" propagandistisch in Szene gesetzt worden. Es war nicht die erste Begegnung des Jugendlichen mit der Grenzpolizei. Schlieich hatte sich sein Vater schon ein Jahrzehnt zuvor f drei Jahre zum Grenzdienst in der Heimat verpflichtet. Nicht ganz freiwillig - in einem Kriegsgefangenenlager tlich des Urals. Vier Jahre nach dem Ende des Krieges. Der kleine Harald war stolz auf dessen Uniform, nachdem er sich erst einmal erschrocken von dem fremden Mann abgewandt hatte, der dr und abgerissen aus der Weite Sibiriens in die Bautzener Arbeitersiedlung Herrenteich zurkgekehrt war. Und in seiner Schule war ein Waldemar Estel zum Helden erklt worden.
Die "Heldentat" des Waldemar Estel hatte darin bestanden, einen todbringenden Fehler zu begehen. Am 3. September 1956 hatte der dreiundzwanzigjrige Grenzpolizist einen Mann festgenommen, der vom Westen aus ins Grenzgebiet eingedrungen war, ohne diesen nach Waffen zu durchsuchen. Das aber war den Bautzener Volksschern nicht erzlt worden. Harald Jer wird diesen Hintergrund erst erfahren, wenn es die Grenze, die Waldemar Estel hatte schzen wollen, nicht mehr geben wird.
Letztlich aber seien es Oberleutnant Hermann Hne und seine Truppe in jenem DEFA-Streifen gewesen, die ihn veranlasst hten, sich nach Abschluss der Lehre freiwillig zum dreijrigen Grenzpolizeidienst zu melden. So jedenfalls wird er es sper seinen Kindern erzlen.
Abend f Abend stellt sie sich ein - diese von ihm als angenehm empfundene Zwischenzeit. Jene fast feierabendliche Ruhe vor dem nhtlichen Ansturm. Wenn nur noch einem beschrkten Personenkreis Einlass gewrt wird und die ersten Tagestouristen bereits die Heimreise antreten. Auf halbem Wege zwischen der Vorkontrolle/Einreise und seinem Bo unten in der Dienstbaracke bleibt Oberstleutnant Jer stehen und lst diese Stimmung auf sich wirken. Vor sich das riesige Areal seiner Dienststelle. Mit 22000 Quadratmetern ist dies hier die grte Berliner Grenzergangsstelle und wegen der nahen Wohngebiete auch die brisanteste. Wenngleich in den Hsern, die parallel zur Abfertigungsanlage stehen, fast ausnahmslos Genossen wohnen. Wenn nicht gar Mitarbeiter der "Firma", also der Staatssicherheit, der auch jeder Mitarbeiter der Passkontrolleinheit (PKE) - vom Leitungsoffizier bis zum einfachen Passkontrolleur - angeht. Sie stehen also nicht unter dem Befehl der Grenztruppen, die auf dem Turm schr hinter Harald Jer und unten am Grenzzaun Dienst tun. Das tschen ihre Uniformen nur vor.
Seit einem Vierteljahrhundert ist Harald Jer nun an diesem Grenzergang tig, der nicht wegen der Bewohner in den nahe gelegenen Hsern als neuralgisch gilt, sondern vor allem wegen jener, die in dem Stadtbezirk rundherum wohnen. Am Prenzlauer Berg, so wird vom Ministerium f Staatssicherheit eingeschzt, leben erdurchschnittlich viele Personen, die man als "feindlich-negative Krte" bezeichnet und die man wie Staatsfeinde observiert. Hier hat der damals einundzwanzigjrige Harald Jer als einfacher Passkontrolleur im Rang eines Feldwebels angefangen. Heute ist er Oberstleutnant und stellvertretender Leiter dieser Diensteinheit. Mit fast allen Gebden und tlichkeiten der Grenzergangsstelle verbindet er Geschichten und gesellschaftspolitische Epochen. Die Baracke in der Mitte dieses riesigen Areals war damals das einzige Gebde hier. Dort, wo heute die Operativkartei mit den Ergebnissen von tausenden von Gesprhen mit westdeutschen Reisenden lagert, war seinerzeit die Pass- und Zollabfertigung. Mit dem zunehmenden Reiseverkehr war es hier zu eng geworden. Inzwischen stehen rechts von dieser "Operativbaracke" nicht weniger als zehn Pkw-Spuren zur Verfung. Plus zwei Reservespuren, wenn es mal ganz eng wird. Weiter unten knen bei Bedarf bis zu acht Passkontrollstellen f Fuger in jener lang gezogenen Baracke mit den acht Durchggen gefnet werden.
Harald Jer denkt zurk an die ersten Passierscheinabkommen, die sein Staat in den fren 60er-Jahren mit dem West-Berliner Senat abgeschlossen hatte. An den vereinbarten Feiertagen, an denen Besuche aus West-Berlin mlich wurden, war hier die Hle los. Erst mit dem Viermhte-Abkommen ein Jahrzehnt sper war es West-Berlinern mlich, die Hauptstadt der DDR ganzjrig zu besuchen. Damals wurden dann diese zehn Fahrspuren und die acht Passkontrollstellen f Fuger eingerichtet. Und jene Dienstbaracke, die ganz rechts parallel zu den Wohnhsern steht. Hier haben Harald Jer und sein Vorgesetzter ihre Dienstzimmer - wie auch der Leiter des Grenzzollamts. Nebenan sitzen Fahndungsoffiziere vor einer Monitorwand und pren jedes Personaldokument der Reisenden. Dieses wird nlich von den Passkontrolleuren mit einer Unterflurkamera aufgenommen, via Standleitung erspielt und mit der Fahndungskartei verglichen. Im Raum gegener sitzt der Lageoffizier und beobachtet ebenfalls die gesamte Grenzergangsstelle auf zwf Monitoren. Er ht im Rapportbericht jede Besonderheit fest. Vor sich hat er die Telefonanlage, die ihn oder einen der PKE-Leiter auf Knopfdruck mit dem Operativen Leitzentrum (OLZ) in Scheweide verbindet. Es untersteht der Hauptabteilung VI des Ministeriums f Staatssicherheit und ist rund um die Uhr mit stlichen Passkontrolleinheiten an allen Grenzerggen der DDR verbunden. Unabhgig davon befindet sich im Zimmer des Dienstleiters ein Telefon, er das ihn der Minister f Staatssicherheit hhstselbst jederzeit erreichen kann. Und nicht selten macht Erich Mielke davon auch Gebrauch. Vor allem wenn in der feindlichen Presse mal wieder eine Schlagzeile im Zusammenhang mit der Grenze auftaucht.
Noch immer erflt es Oberstleutnant Harald Jer mit einem gewissen Stolz, wenn er ganz links, abgetrennt vom normalen Publikumsverkehr, die Diplomatenabfertigung mit den zwei eigenen Fahrspuren ins Visier nimmt. Seit die DDR zu Beginn der 70er-Jahre eine internationale Anerkennungswelle erfuhr und 1973 sogar - gemeinsam mit der Bundesrepublik - Mitglied der Vereinten Nationen wurde, hat jener Teil der Grenzergangsstelle an Bedeutung und Frequenz zugenommen. Viele Botschafter lassen sich er diese Spur zum West-Berliner Flughafen Tegel fahren und mancher Botschaftsangehige zu den Vergnungsstten auf dem Kurfstendamm. Das hat vor einigen Jahren zu einer diplomatischen Verwicklung gefrt, als in der "Intensivbaracke" links neben der Diplomatenspur der Koch der Schweizer Botschaft verhaftet wurde. Er war seit Wochen im Visier von Observateuren der Staatssicherheit. Offenbar hatte er zuvor schon mehrfach seine DDR-Freundin im Kofferraum auf seine West-Berliner Streifze mitgenommen. Ausgestattet mit den Personalpapieren eines Botschaftsangehigen, konnte er licherweise die Diplomatenabfertigung unkontrolliert passieren. Bis eines Tages auf hhster Ebene eine andere Anweisung erfolgte und der Schweizer Koch erfahren musste, dass er eben doch keine diplomatische Immunit besa Sein Fahrzeug war in jene Intensivbaracke dirigiert worden, in welcher der Zoll - nicht selten auf Anweisung und mit Unterstzung der PKE-Krte - die Autos von Reisenden einer intensiven Kontrolle unterzog. Dabei fand man schlieich die ostdeutsche Freundin des Kochs und sein Protest half ihm da wenig. Harald Jer weinicht, ob die anschlienden diplomatischen Verwicklungen, von denen er und seine Leute nur vom Hensagen erfahren haben, dazu frten, dass die Intensivbaracke inzwischen nicht mehr genutzt wird. Trotzdem finden natlich auch weiterhin solche Fahrzeugkontrollen statt - mittlerweile aber auf den vier speziell daf eingerichteten Parkplzen zwischen den zehn PKW-Spuren und der Diplomatenabfertigung.
Wieder ht Harald Jer hinter sich einen S-Bahnzug entlangdonnern. Diesmal aber ist es nicht die Bahn jenseits der Hinterlandmauer auf West-Berliner Gebiet, sondern die, welche zwischen Schhauser Allee und Pankow auf der DDR-Seite verkehrt. Auch ohne auf die Gleise hinunterzublicken, kann er dies schon anhand der Ne des Gerschs erkennen.
Langsam setzt Harald Jer seinen Weg schr er die Grenzergangsstelle in Richtung seiner Dienstbaracke fort. Seine Passkontrolleure wirken aus dieser Entfernung selbst dann wie militisch agierende Marionetten, wenn sie nur wartend herumstehen. Fremdbestimmt, ohne erkennbare Individualit. Er bekommt eine Ahnung davon, wie diese ihm so vertrauten Menschen auf die Einreisenden aus jener anderen Welt wirken msen, die dort hinten jenseits der Brke liegt. In aller Regel dauert das Zusammentreffen nur einen kurzen Augenblick, selten mehr als einige Minuten. Doch wird es von den Beteiligten aus vlig unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Sogar aus gegenszlichen. Der Reisende, der den Grenzertritt mlichst schnell hinter sich bringen will, trifft auf den Uniformtrer, der eine ganze Reihe von dienstlichen Anweisungen zu beachten hat. Eine antagonistische Begegnung, welche die Fremdheit zwischen den Beteiligten eher noch fdert. Dies erklt auch, weshalb die Einreisenden sich dann oft auskunftsbereit zeigen, wenn sie ein freundlicher Oberstleutnant scheinbar zuflig in ein Gesprh verwickelt. Sie wissen nicht, dass man nur deshalb an ihren Personaldokumenten "eine Unregelmigkeit erpren" muss, weil ihr Wohnort in der Ne eines amerikanischen Raketenstandorts liegt. Oder in der einer bedeutenden Waffenschmiede. Weil sie zuflig den Gehaltsstreifen einer Behde bei sich tragen. Oder auffallend viele Einreisestempel der USA im Pass haben. Sie ahnen sicher auch nicht, dass in dem gemlich eingerichteten Bo, in welches sie der Offizier beilfig bittet, die scheinbar private Unterhaltung aufgezeichnet wird. Wden sie sonst so freimig erzlen, von Problemen am Arbeitsplatz bis zum letzten Geschlechtsverkehr? Aber auch er Dinge, die vielleicht den noch fehlenden kleinen Stein in einem gron Puzzle bedeuten. Im Nebenraum sind die Ergebnisse dieser Gesprhe auf unzligen Karteikarten festgehalten, deren Existenz selbst nach den Gesetzen der DDR illegal ist - stets zur Verfung der landesweit operativ tigen Mitarbeiter. Manch ein Besucher aus Heilbronn oder der Ingolstter Gegend wurde so unfreiwillig und ahnungslos zum Informanten des Staatssicherheitsdienstes.
In einer halben Stunde wird, zaghaft zunhst noch, der Rkreiseverkehr beginnen, der sich dann bis Mitternacht deutlich steigern wird. Bis dahin nlich msen die BRD-Bger, die hier Stunden zuvor in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik eingereist sind, diese genau hier auch wieder verlassen. Und weil die DDR mit Hinweis auf "Geist und Buchstaben des Vierseitigen Abkommens" einen vkerrechtlichen Unterschied zwischen BRD-Bgern und denen aus Berlin-West macht, dfen sich Letztere mit der Heimreise zwei Stunden lger Zeit lassen. In jedem Fall aber werden unter den Rkreisenden auch heute wieder "alte Bekannte" des Harald Jer sein. Bger, deren Namen man bei der Einreise in der Fahndungskartei gefunden hat. Nicht jeder, der dort registriert ist, muss zurkgewiesen und kaum einer gar festgenommen werden. Oftmals gent es, zum Telefonher zu greifen und die Genossen von der VIII zu informieren. Diese Zivilkrte ernehmen dann jene Aufgabe, wof die "Hauptabteilung VIII" beim Ministerium f Staatssicherheit nun einmal verantwortlich ist: Observation und Ermittlung. Diese fsorgliche "Rundum-Betreuung" endet, wenn das "Beobachtungsobjekt" schlieich wieder an den Grenzergang zurkkehrt. Dorthin, wo es irgendwann im Laufe des Tages eingereist war. Vorausgesetzt, es hat in den Stunden dazwischen nicht gegen die Gesetze der DDR verston.
13. August 1961
Es hatte einige Sekunden gedauert, ehe der achtzehnjrige Grenzpolizist Harald Jer die Situation erfassen konnte. Ein lang gestreckter Sirenenton, zwei Sekunden, eine ebenso lange Pause, dann von vorn. Es war eindeutig das Signal f den Gefechtsalarm, welches ihn und seine Stubenkameraden aus dem Tiefschlaf gerissen hat. Nicht das f den Grenzalarm, der in den Wochen zuvor wieder und wieder als ung angesetzt worden war und im Fall einer Verletzung der Grenzanlagen zur Anwendung kommen wde. Gefechtsalarm hingegen bedeutete eine ernst zu nehmende Kriegsgefahr. Lag eine solche vor?, so fragte sich in diesen Minuten sicher nicht nur Harald Jer.
Schon bald darauf hallten die Trillerpfeifen der Unteroffiziere durch die Flure. Dann deren Ruf: "Gefechtsalarm."
... weniger
Autoren-Porträt von Gerhard Haase-Hindenberg
Gerhard Haase-Hindenberg, Jg. 1953, siedelte nach dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg zeitweilig in die DDR über und studierte an der Hochschule für Schauspielkunst 'Ernst Busch' in Ost-Berlin. Er arbeitete als Schauspieler, Regisseur und Autor an Theatern in Nürnberg, München und Berlin. Nach wie vor steht er für TV- und Kinofilme vor der Kamera. Regelmäßig publiziert er Reportagen und Interviews in überregionalen Zeitungen und Magazinen, sowie für diverse Hörfunkformate.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gerhard Haase-Hindenberg
- 2007, 252 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453127137
- ISBN-13: 9783453127135
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