Der Schuh auf dem Dach
'Ein Schuh liegt einsam und allein auf einem Dach in Paris. Die Bewohner des Hauses gegenüber inspiriert er auf jeweils ganz verschiedene Weise. Dieser philosophische Roman, der in Frankreich monatelang auf der Bestsellerliste stand, erzählt voller Poesie...
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Produktinformationen zu „Der Schuh auf dem Dach “
'Ein Schuh liegt einsam und allein auf einem Dach in Paris. Die Bewohner des Hauses gegenüber inspiriert er auf jeweils ganz verschiedene Weise. Dieser philosophische Roman, der in Frankreich monatelang auf der Bestsellerliste stand, erzählt voller Poesie vom Zauber des Erzählens und davon, dass es im Leben stets viele Blickwinkel gibt.
Klappentext zu „Der Schuh auf dem Dach “
'Ein kleines Mädchen, das nicht schlafen kann und seinem müden Vater von einem Engel auf dem Dach gegenüber erzählt; ein melancholischer Hund, der sich plötzlich vor seinem Herrchen fürchten muss; ein verliebter Einbrecher, der sich rächen will; eine unglückliche junge Frau, die von einem illegalen Einwanderer verlassen wurde - wir treffen sie in einem Pariser Mietshaus an, und jeder von ihnen ist irgendwie einsam. Sie alle betrachten, jeweils aus einer anderen Wohnung heraus, einen Schuh, der in der Dachrinne gegenüber liegt und von dem niemand weiß, wie er dort hingekommen ist. Die Geschichte jedes einzelnen kreist um diesen ganz profanen Gegenstand, der zum Sinnbild wird für das, was einem im Leben manchmal fehlt. Vincent Delecroix erzählt mit betörend französischem Charme und einer großen Liebe zum Menschen. Seit Erscheinen in Frankreich begeistert Der Schuh auf dem Dach Buchhändler und Leser, und im Herbst 2007 war er für alle wichtigen Literaturpreise nominiert.
Lese-Probe zu „Der Schuh auf dem Dach “
Der Schuh auf dem Dach von Vincent Delecroix1
Kindermund tut Wahrheit kund?
Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Am besten erzähle ich schnell, worum es geht (dann lege ich mich wieder ins Bett). Vorhin, es war so gegen drei Uhr morgens, schlief ich tief und fest. Na ja, so tief auch wieder nicht, weil ich gerade träumte, es war kein schöner Traum, es hatte irgendwas mit meinem Chef zu tun, durch meine Schuld war ein Deal geplatzt, ein Riesenauftrag, der Kunde war mein Nachbar von unten, der Typ, der sich so für Insekten begeistert, ich hatte die Unterlagen verbaselt, so genau weiß ich's auch nicht mehr, jedenfalls suchte ich fieberhaft danach und fand massenweise Papiere, aber nie die richtigen und dazu mein Chef, der mich hin und her scheuchte. (Wobei das kein Traum ist: In Wirklichkeit macht er's genauso.)
Jedenfalls schlief ich, als ich inmitten meiner Papierstapel Rufe hörte und aufwachte. Papa, Papa. Es war die Kleine. Ich dachte: Bestimmt hatte sie wieder einen Alptraum (anders als meiner, wobei darin sicher auch so ein Monster eine Rolle gespielt hat), gleich schläft sie wieder ein. Zurzeit hat sie ständig Alpträume, warum, weiß keiner. Ich wartete ein bisschen, aber die Rufe hörten nicht auf. Eigentlich hatte ich keine Lust, mitten in der Nacht aufzustehen. Ich habe Catherine angesehen, aus Bequemlichkeit, das ist nicht zu leugnen, aber sie schlief wie ein Stein. Außerdem rief die Kleine nach mir. Wach war ich ohnehin schon. Und so bin ich aufgestanden, habe mir den Bademantel übergeworfen und bin ins Kinderzimmer gegangen.
Gleichzeitig dachte ich: Um sechs muss ich raus aus den Federn und dann zur Arbeit, ich sollte wirklich schlafen. Sie hat meine Schritte gehört. Bei diesem Parkett kann man nicht einmal mit dem kleinen Zeh wackeln, ohne das ganze Haus zu wecken deshalb bringt mich der Nachbar, der
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über uns wohnt, der mit dem Hund, echt auf die Palme: Er hat den gleichen Parkettboden wie wir, die ganze Zeit hört man diese Hundekrallen darauf klacken, das nervt. Ich habe mich ganz leise ins Zimmer geschlichen, um ihren Bruder nicht zu wecken, und dann habe ich sie in ihrem Pyjama am Fenster stehen sehen.
Gähnend habe ich ihr zugeraunt: »Häschen, was ist los? Was machst du da? Ab ins Bett, du musst morgen in die Schule.« (Und Papa muss zur Arbeit, und er hat diesen garstigen Chef.) Sie rührte sich aber nicht vom Fleck. Ich sah sie im Halbdunkel vor dem Fenster stehen (die Vorhänge ziehen wir nicht zu, sie fürchtet sich, wenn es richtig dunkel ist in ihrem Alter ist das normal).
Ich bin auf Zehenspitzen zu ihr gegangen: »Hast du wieder schlecht geträumt?« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist es dann? Du weißt, Papa muss sich ausruhen, er hat morgen einen Großkampftag.« (Einen ganz gewöhnlichen Arbeitstag eben.)
Doch sie rührte sich immer noch nicht. Fast wäre ich über die Schultasche gestolpert, dann ging ich vor ihr in die Hocke. Ihr Bruder atmete friedlich vor sich hin. Ihn könnten zum Glück nicht mal Kornettbläser aus dem Schlaf reißen. Morgens bekommt man ihn praktisch nicht aus dem Bett.
Bei ihr ist es genau andersherum, keine Ahnung, was sie die ganze Nacht so treibt, eine echte Nachteule.
»Was ist, mein Schatz?« Sie mochte nicht so recht damit herausrücken. Ich dachte: Es ist so weit, jetzt schlafwandelt sie. Ich wollte sie in die Arme nehmen, aber da hat sie sich gesträubt.
»Was ist los, Häschen«, wiederholte ich (gähnend), »willst du es mir nicht verraten?«
In diesem nächtlichen Halbdunkel konnte ich sehen, wie sie mich anstarrte. Sie schwieg. Ich richtete mich auf. »Gut, dann legst du dich am besten gleich wieder hin. Sonst bist du morgen todmüde. Komm, Papa bringt dich ins Bett.«
Da wich sie leicht zurück und murmelte: »Papa?« »Ja, mein Schatz?« Sie wollte mir etwas sagen, traute sich aber nicht. »Papa?« »Ja?« »Wenn ich dir jetzt ein Geheimnis erzähle, glaubst du mir dann?« »Bist du deshalb aufgewacht?«
Sie sah mich unverwandt an, doch Angst schien sie nicht zu haben. »Erzähl mir dein Geheimnis, danach gehst du wieder ins Bett, einverstanden?« Sie wollte immer noch nicht reden. »Ich erzähl es auch nicht weiter, versprochen, sag schon, Papa muss nämlich schlafen.« »Aber glaubst du mir dann wirklich?« »Sicher, mein Schatz, sicher, erzähl es mir nur schnell und geh wieder ins Bett.« »Und Mama erzählst du's auch nicht?« Selbst um drei Uhr morgens müssen gewisse Prinzipien gewahrt werden.
»Mal sehen«, sagte ich, »kommt auf das Geheimnis an.« Sie dachte ein Weilchen ernsthaft nach und sah dabei auf ihre Zehen. In solchen Momenten gleicht sie ihrer Mutter aufs Haar. Ich wollte nur ins Bett und hätte das große Geheimnis gern am nächsten Morgen erfahren, von mir aus konnte es auch Catherine zur Kenntnis nehmen.
»Na gut, dann erzählst du es mir eben morgen, wir wollen doch nicht die ganze Nacht hier stehen, oder?« Das hat sie überzeugt. Sie ist vom Fenster weggegangen und auf mich zugekommen, dann hat sie sich auf die Zehenspitzen gestellt, während ich mich zu ihr beugte, um ihr Geheimnis zu hören: »Ich habe einen Engel gesehen.« Prima, dachte ich mir, immerhin mal was anderes als diese Alpträume. Ich sagte: »Da hast du aber großes Glück gehabt, mein Schatz, einen Engel bekommt man nicht jeden Tag zu sehen. Bestimmt beschützt er dich, und so kannst du ganz beruhigt einschlafen.«
Sie wiederholte: »Ich habe einen Engel gesehen.« »Klar, das habe ich verstanden: Du hast einen Engel gesehen. Das ist wunderbar. Bestimmt wollte er dir eine gute Nacht wünschen.« Erst letzte Woche hat uns die Psychologin davor gewarnt, das, was die Kleine sich vorstellt, brutal als Illusion zu entlarven falls ich das richtig verstanden habe, Psychologie ist nicht mein Ding.
Die Kleine dachte nach: »Hast du schon mal einen gesehen?« Ich ahnte, dass uns eine dieser Diskussionen bevorstand, die meine Einsatzfähigkeit im Büro beeinträchtigen würde. »Nein, aber das liegt sicher daran, dass sie immer nur kleinen Mädchen erscheinen, weißt du, und jetzt ...«
Sie fiel mir ins Wort: »Er hat mir keine Angst gemacht.« »Schön, aber Engel machen nie Angst, sie sind nett.« »Er sah aber gar nicht nett aus.« »Ach?« Mir nichts, dir nichts gelang es mir dann doch, sie wieder ins Bett zu bringen. Sie schlüpfte unter die Decke, und ich setzte mich zu ihr.
»Er sah also nicht nett aus?« »Nein, er sah traurig aus.« »Engel sind aber nicht traurig, mein Schatz.« »Du meinst, es war gar kein Engel?« »Das wollte ich damit nicht sagen, aber ...« »Nein, ich bin sicher, dass es ein Engel war. Er hat mich angeguckt, und er sah traurig aus.«
Ich strich mir über das Gesicht. »Er hat dich angeguckt?« »Ja, lange.« »Und dann ist er davongeflogen?«
Da hauchte sie: »Er hatte keine Flügel.«
»Komisch«, sagte ich, »normalerweise haben Engel Flügel, vielleicht hast du sie nur nicht gesehen, es ist ja Nacht.« »Nein, er hatte keine, das weiß ich ganz sicher: Ich habe genau hingesehen, vom Fenster aus.«
Dann war es eine Weile still. Schließlich sagte ich: »Hör zu, meine Süße, wir reden morgen weiter. Jetzt kannst du schön schlafen, du hast Glück gehabt, einen Engel zu sehen, wirklich großes Glück.« »Es war ein Engel, er sah traurig aus und hatte keine Flügel.« Mit einem Stöhnen stellte ich mir vor, wie mein Chef morgen wohl reagieren würde, wenn ich ihm erklärte: Ja, ich bin müde, aber nur, weil meine Tochter gestern Nacht einen Engel gesehen hat. Das passiert nicht alle Tage. Offensichtlich dachte sie nicht im Traum daran, wieder einzuschlafen.
»Na gut, wo hast du ihn gesehen?« »Drüben, auf dem Dach, vom Fenster aus. Er stand ganz am Rand.« »Auf dem Dach gegenüber?« »Ja.« »Und was hat er gemacht?« »Nichts, er stand einfach da, auf dem Dach, und hat mich traurig angeguckt. Jetzt bin ich traurig, Papa.«
Ich habe ihre Hand genommen. »Aber dazu hast du keinen Grund, mein Schatz, im Gegenteil, es ist wunderschön, einen Engel zu sehen.« »Ja, aber dieser Engel war traurig.« »Vielleicht hast du dir das nur eingebildet, du hast ihn vielleicht nicht richtig gesehen, von deinem Bett aus.« »Ich war aber nicht mehr im Bett, ich stand ganz nah am Fenster. Ich konnte alles genau erkennen, sein Hemd, seine Hose, seine Schuhe.« »Ein Engel in Hosen?« »Ich schwör's, Papa, er hatte keine Flügel, aber eine Hose.« »Und Schuhe?« (Wie soll man fliegen, mit Latschen an den Füßen? Diesen Gedanken konnte ich mir nicht verkneifen.) »Ja.« »Vielleicht hatte er einen wichtigen Termin in der Stadt. Eine Krawatte trug er aber nicht?« »Nein.« »Das hätte mich auch gewundert.«
Ich drückte ihre Hand. »Du kannst wirklich stolz auf dich sein, du bist das erste kleine Mädchen, das jemals einen Engel in Hosen gesehen hat, mit Schuhen und Hemd, da hast du deinen Freunden morgen was zu erzählen.« »Nein, das ist ein Geheimnis.« »Klar, ein Geheimnis. Das bleibt ganz unter uns, ich verrate es nicht einmal Mama, aber schlaf jetzt.«
»Es gefällt mir nicht, dass er traurig ist, Papa.« Da wurde ich wirklich müde. »Hör zu, mein Schatz, er hatte sicher nur einen klitzekleinen Kummer, der blitzschnell vergangen ist, jetzt ist er wieder so fröhlich wie alle Engel.« Das überzeugte sie nicht. (Ich dachte: Vielleicht leiden auch die Engel unter ihrem Chef.)
»Nein, denn als er wegging, sah er immer noch traurig aus.« Ich zog ihre Decke hoch. »Pass auf«, sagte ich, »wenn du ihn das nächste Mal siehst, ist er bestimmt quietschvergnügt.«
Sie schmollte kurz. »Ich weiß nicht, ob er wiederkommt.« Und sie sah tatsächlich traurig aus. Ich strich ihr sanft über die Haare. »Aber sicher kommt er wieder, mein Schatz, in bester Stimmung, und dann freut er sich, dich schlafen zu sehen.« »Kommt er wieder, um seinen Schuh zu holen?«
Ich sah sie verblüfft an. »Um seinen Schuh zu holen?« »Ja, als er verschwunden ist, hat er seinen Schuh dagelassen.« »Ach ja?« (Eben, wie soll man damit fliegen?) »Da auf dem Dach, wo er stand.« Ich hatte einen Geistesblitz. »Jetzt verstehe ich, warum er traurig aussah: Seine Füße taten ihm weh. Mir geht's genauso, wenn ich neue Schuhe trage, drücken sie am Anfang ein bisschen und dann bin ich traurig, aber das ist überhaupt nicht schlimm.«
Das tröstete sie zunächst. Doch dann legte sie nach: »Der Schuh war gar nicht neu, im Gegenteil, der war uralt.« »Wollen wir morgen weiterreden, über die Sache mit den Schuhen? Wenn wir ausgeschlafen sind?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich mag nicht mehr schlafen.« Schon klar, spätestens jetzt hätte ich einen anderen Ton anschlagen sollen, aber ich war wohl zu müde, um mich wirklich aufzuregen. Ich hatte selbst fast das Gefühl, im Traum zu sprechen.
»Vielleicht wollte er seine Schuhe gerade deswegen loswerden, weil sie ihm zu oll waren.« »Aber warum hat er dann nur einen dagelassen?«
Jetzt war ich mit meinem Latein am Ende. Ich schwieg einen Moment. »Er hat ihn vergessen, als er gehen musste«, sagte sie, nachdem sie eine Weile überlegt hatte. Ich machte ein nachdenkliches Gesicht und nickte schließlich: »Du hast recht. So muss es gewesen sein.« »Er hat mich angeguckt, dann hat er die Arme ganz weit ausgebreitet, so, und dann ist er verschwunden, aber den Schuh hat er vergessen.« »So was passiert schon mal«, sagte ich, »selbst Engel können ihre Schuhe vergessen, wenn sie es eilig haben. Und jetzt ist Schluss.«
»Aber warum sah er traurig aus?« Diese Diskussionen, die sich endlos im Kreis drehen, erinnern mich ein bisschen an meine Kundengespräche.
»Das weiß ich nicht, aber wenn du morgen aufwachst, wirst du sicher feststellen, dass er seinen Schuh in der Nacht geholt hat. Er wartet nur, bis du eingeschlafen bist, damit er ihn ungestört holen kann.« »Und wenn der Schuh immer noch da ist?« »Dann holt er ihn eben in der nächsten Nacht, sobald du ein-ge-schla-fen bist.«
Jetzt schien sie endlich schläfrig zu werden. »Trotzdem ist es sicher schwer für ihn, mit nur einem Schuh«, sagte sie.
»Immer noch leichter als mit zweien, mein Schatz. Schlaf jetzt.« »Wir könnten den Schuh ja holen und ihm zurückbringen.« »Hör zu, mein kleines Mädchen, wir wissen ja nicht einmal, wo er wohnt, während er ganz genau weiß, wo er seinen Schuh gelassen hat, also holt er ihn am besten selbst.« Ihre Stimme klang inzwischen ganz schwach und müde.
»Gut«, hauchte sie schließlich, »aber wenn der Schuh morgen immer noch da ist, bringen wir ihn zurück, versprochen?« »Versprochen, mein Schatz, wir besorgen uns dann irgendwie seine Adresse, wir schauen im Telefonbuch nach. Aber jetzt wird geschlafen.«
Da war sie bereits eingeschlummert. Ich bin auf Zehenspitzen aus dem Zimmer geschlichen. Dann habe ich laut gestöhnt. Verdammt, dachte ich, ich werde bestimmt kein Auge mehr zutun. Ich bin in die Küche gegangen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Das Licht habe ich nicht angemacht. Sollte ich Catherine erzählen, dass die Kleine wieder halluziniert hatte? Dass sie einen Engel in Hosen gesehen hatte, der seinen Schuh zurückließ? Dann fiel mir die Arbeit wieder ein, und ich dachte: Um ehrlich zu sein, würde ich den Tag lieber damit verbringen, die Adresse dieses Engels in Hosen herauszufinden, als Fotokopiergeräte zu verkaufen.
Während ich trank, versuchte ich, mich auf den Schlaf einzustimmen. Hatte ich als Kind ähnliches Zeug geträumt? Vielleicht. Warum sollte es bei der Kleinen anders sein? Warum sollte man sich wegen dieser Halluzinationen Sorgen machen? Weil sie bei ihr öfter vorkommen als bei anderen? Weil sie fester daran glaubt? Ich hatte bestimmt auch an solche Sachen geglaubt.
Ich trank ein zweites Glas Wasser und musste lächeln. Eigentlich süß, dachte ich, von einem Engel zu träumen, der Schuhe trägt, Hosen und Hemd. Er sah allerdings traurig aus, ich weiß. Als ich mein Glas wieder neben die Spüle stellte, blickte ich aus dem Küchenfenster und sah auf dem Dach gegenüber einen Schuh.
Gähnend habe ich ihr zugeraunt: »Häschen, was ist los? Was machst du da? Ab ins Bett, du musst morgen in die Schule.« (Und Papa muss zur Arbeit, und er hat diesen garstigen Chef.) Sie rührte sich aber nicht vom Fleck. Ich sah sie im Halbdunkel vor dem Fenster stehen (die Vorhänge ziehen wir nicht zu, sie fürchtet sich, wenn es richtig dunkel ist in ihrem Alter ist das normal).
Ich bin auf Zehenspitzen zu ihr gegangen: »Hast du wieder schlecht geträumt?« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist es dann? Du weißt, Papa muss sich ausruhen, er hat morgen einen Großkampftag.« (Einen ganz gewöhnlichen Arbeitstag eben.)
Doch sie rührte sich immer noch nicht. Fast wäre ich über die Schultasche gestolpert, dann ging ich vor ihr in die Hocke. Ihr Bruder atmete friedlich vor sich hin. Ihn könnten zum Glück nicht mal Kornettbläser aus dem Schlaf reißen. Morgens bekommt man ihn praktisch nicht aus dem Bett.
Bei ihr ist es genau andersherum, keine Ahnung, was sie die ganze Nacht so treibt, eine echte Nachteule.
»Was ist, mein Schatz?« Sie mochte nicht so recht damit herausrücken. Ich dachte: Es ist so weit, jetzt schlafwandelt sie. Ich wollte sie in die Arme nehmen, aber da hat sie sich gesträubt.
»Was ist los, Häschen«, wiederholte ich (gähnend), »willst du es mir nicht verraten?«
In diesem nächtlichen Halbdunkel konnte ich sehen, wie sie mich anstarrte. Sie schwieg. Ich richtete mich auf. »Gut, dann legst du dich am besten gleich wieder hin. Sonst bist du morgen todmüde. Komm, Papa bringt dich ins Bett.«
Da wich sie leicht zurück und murmelte: »Papa?« »Ja, mein Schatz?« Sie wollte mir etwas sagen, traute sich aber nicht. »Papa?« »Ja?« »Wenn ich dir jetzt ein Geheimnis erzähle, glaubst du mir dann?« »Bist du deshalb aufgewacht?«
Sie sah mich unverwandt an, doch Angst schien sie nicht zu haben. »Erzähl mir dein Geheimnis, danach gehst du wieder ins Bett, einverstanden?« Sie wollte immer noch nicht reden. »Ich erzähl es auch nicht weiter, versprochen, sag schon, Papa muss nämlich schlafen.« »Aber glaubst du mir dann wirklich?« »Sicher, mein Schatz, sicher, erzähl es mir nur schnell und geh wieder ins Bett.« »Und Mama erzählst du's auch nicht?« Selbst um drei Uhr morgens müssen gewisse Prinzipien gewahrt werden.
»Mal sehen«, sagte ich, »kommt auf das Geheimnis an.« Sie dachte ein Weilchen ernsthaft nach und sah dabei auf ihre Zehen. In solchen Momenten gleicht sie ihrer Mutter aufs Haar. Ich wollte nur ins Bett und hätte das große Geheimnis gern am nächsten Morgen erfahren, von mir aus konnte es auch Catherine zur Kenntnis nehmen.
»Na gut, dann erzählst du es mir eben morgen, wir wollen doch nicht die ganze Nacht hier stehen, oder?« Das hat sie überzeugt. Sie ist vom Fenster weggegangen und auf mich zugekommen, dann hat sie sich auf die Zehenspitzen gestellt, während ich mich zu ihr beugte, um ihr Geheimnis zu hören: »Ich habe einen Engel gesehen.« Prima, dachte ich mir, immerhin mal was anderes als diese Alpträume. Ich sagte: »Da hast du aber großes Glück gehabt, mein Schatz, einen Engel bekommt man nicht jeden Tag zu sehen. Bestimmt beschützt er dich, und so kannst du ganz beruhigt einschlafen.«
Sie wiederholte: »Ich habe einen Engel gesehen.« »Klar, das habe ich verstanden: Du hast einen Engel gesehen. Das ist wunderbar. Bestimmt wollte er dir eine gute Nacht wünschen.« Erst letzte Woche hat uns die Psychologin davor gewarnt, das, was die Kleine sich vorstellt, brutal als Illusion zu entlarven falls ich das richtig verstanden habe, Psychologie ist nicht mein Ding.
Die Kleine dachte nach: »Hast du schon mal einen gesehen?« Ich ahnte, dass uns eine dieser Diskussionen bevorstand, die meine Einsatzfähigkeit im Büro beeinträchtigen würde. »Nein, aber das liegt sicher daran, dass sie immer nur kleinen Mädchen erscheinen, weißt du, und jetzt ...«
Sie fiel mir ins Wort: »Er hat mir keine Angst gemacht.« »Schön, aber Engel machen nie Angst, sie sind nett.« »Er sah aber gar nicht nett aus.« »Ach?« Mir nichts, dir nichts gelang es mir dann doch, sie wieder ins Bett zu bringen. Sie schlüpfte unter die Decke, und ich setzte mich zu ihr.
»Er sah also nicht nett aus?« »Nein, er sah traurig aus.« »Engel sind aber nicht traurig, mein Schatz.« »Du meinst, es war gar kein Engel?« »Das wollte ich damit nicht sagen, aber ...« »Nein, ich bin sicher, dass es ein Engel war. Er hat mich angeguckt, und er sah traurig aus.«
Ich strich mir über das Gesicht. »Er hat dich angeguckt?« »Ja, lange.« »Und dann ist er davongeflogen?«
Da hauchte sie: »Er hatte keine Flügel.«
»Komisch«, sagte ich, »normalerweise haben Engel Flügel, vielleicht hast du sie nur nicht gesehen, es ist ja Nacht.« »Nein, er hatte keine, das weiß ich ganz sicher: Ich habe genau hingesehen, vom Fenster aus.«
Dann war es eine Weile still. Schließlich sagte ich: »Hör zu, meine Süße, wir reden morgen weiter. Jetzt kannst du schön schlafen, du hast Glück gehabt, einen Engel zu sehen, wirklich großes Glück.« »Es war ein Engel, er sah traurig aus und hatte keine Flügel.« Mit einem Stöhnen stellte ich mir vor, wie mein Chef morgen wohl reagieren würde, wenn ich ihm erklärte: Ja, ich bin müde, aber nur, weil meine Tochter gestern Nacht einen Engel gesehen hat. Das passiert nicht alle Tage. Offensichtlich dachte sie nicht im Traum daran, wieder einzuschlafen.
»Na gut, wo hast du ihn gesehen?« »Drüben, auf dem Dach, vom Fenster aus. Er stand ganz am Rand.« »Auf dem Dach gegenüber?« »Ja.« »Und was hat er gemacht?« »Nichts, er stand einfach da, auf dem Dach, und hat mich traurig angeguckt. Jetzt bin ich traurig, Papa.«
Ich habe ihre Hand genommen. »Aber dazu hast du keinen Grund, mein Schatz, im Gegenteil, es ist wunderschön, einen Engel zu sehen.« »Ja, aber dieser Engel war traurig.« »Vielleicht hast du dir das nur eingebildet, du hast ihn vielleicht nicht richtig gesehen, von deinem Bett aus.« »Ich war aber nicht mehr im Bett, ich stand ganz nah am Fenster. Ich konnte alles genau erkennen, sein Hemd, seine Hose, seine Schuhe.« »Ein Engel in Hosen?« »Ich schwör's, Papa, er hatte keine Flügel, aber eine Hose.« »Und Schuhe?« (Wie soll man fliegen, mit Latschen an den Füßen? Diesen Gedanken konnte ich mir nicht verkneifen.) »Ja.« »Vielleicht hatte er einen wichtigen Termin in der Stadt. Eine Krawatte trug er aber nicht?« »Nein.« »Das hätte mich auch gewundert.«
Ich drückte ihre Hand. »Du kannst wirklich stolz auf dich sein, du bist das erste kleine Mädchen, das jemals einen Engel in Hosen gesehen hat, mit Schuhen und Hemd, da hast du deinen Freunden morgen was zu erzählen.« »Nein, das ist ein Geheimnis.« »Klar, ein Geheimnis. Das bleibt ganz unter uns, ich verrate es nicht einmal Mama, aber schlaf jetzt.«
»Es gefällt mir nicht, dass er traurig ist, Papa.« Da wurde ich wirklich müde. »Hör zu, mein Schatz, er hatte sicher nur einen klitzekleinen Kummer, der blitzschnell vergangen ist, jetzt ist er wieder so fröhlich wie alle Engel.« Das überzeugte sie nicht. (Ich dachte: Vielleicht leiden auch die Engel unter ihrem Chef.)
»Nein, denn als er wegging, sah er immer noch traurig aus.« Ich zog ihre Decke hoch. »Pass auf«, sagte ich, »wenn du ihn das nächste Mal siehst, ist er bestimmt quietschvergnügt.«
Sie schmollte kurz. »Ich weiß nicht, ob er wiederkommt.« Und sie sah tatsächlich traurig aus. Ich strich ihr sanft über die Haare. »Aber sicher kommt er wieder, mein Schatz, in bester Stimmung, und dann freut er sich, dich schlafen zu sehen.« »Kommt er wieder, um seinen Schuh zu holen?«
Ich sah sie verblüfft an. »Um seinen Schuh zu holen?« »Ja, als er verschwunden ist, hat er seinen Schuh dagelassen.« »Ach ja?« (Eben, wie soll man damit fliegen?) »Da auf dem Dach, wo er stand.« Ich hatte einen Geistesblitz. »Jetzt verstehe ich, warum er traurig aussah: Seine Füße taten ihm weh. Mir geht's genauso, wenn ich neue Schuhe trage, drücken sie am Anfang ein bisschen und dann bin ich traurig, aber das ist überhaupt nicht schlimm.«
Das tröstete sie zunächst. Doch dann legte sie nach: »Der Schuh war gar nicht neu, im Gegenteil, der war uralt.« »Wollen wir morgen weiterreden, über die Sache mit den Schuhen? Wenn wir ausgeschlafen sind?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich mag nicht mehr schlafen.« Schon klar, spätestens jetzt hätte ich einen anderen Ton anschlagen sollen, aber ich war wohl zu müde, um mich wirklich aufzuregen. Ich hatte selbst fast das Gefühl, im Traum zu sprechen.
»Vielleicht wollte er seine Schuhe gerade deswegen loswerden, weil sie ihm zu oll waren.« »Aber warum hat er dann nur einen dagelassen?«
Jetzt war ich mit meinem Latein am Ende. Ich schwieg einen Moment. »Er hat ihn vergessen, als er gehen musste«, sagte sie, nachdem sie eine Weile überlegt hatte. Ich machte ein nachdenkliches Gesicht und nickte schließlich: »Du hast recht. So muss es gewesen sein.« »Er hat mich angeguckt, dann hat er die Arme ganz weit ausgebreitet, so, und dann ist er verschwunden, aber den Schuh hat er vergessen.« »So was passiert schon mal«, sagte ich, »selbst Engel können ihre Schuhe vergessen, wenn sie es eilig haben. Und jetzt ist Schluss.«
»Aber warum sah er traurig aus?« Diese Diskussionen, die sich endlos im Kreis drehen, erinnern mich ein bisschen an meine Kundengespräche.
»Das weiß ich nicht, aber wenn du morgen aufwachst, wirst du sicher feststellen, dass er seinen Schuh in der Nacht geholt hat. Er wartet nur, bis du eingeschlafen bist, damit er ihn ungestört holen kann.« »Und wenn der Schuh immer noch da ist?« »Dann holt er ihn eben in der nächsten Nacht, sobald du ein-ge-schla-fen bist.«
Jetzt schien sie endlich schläfrig zu werden. »Trotzdem ist es sicher schwer für ihn, mit nur einem Schuh«, sagte sie.
»Immer noch leichter als mit zweien, mein Schatz. Schlaf jetzt.« »Wir könnten den Schuh ja holen und ihm zurückbringen.« »Hör zu, mein kleines Mädchen, wir wissen ja nicht einmal, wo er wohnt, während er ganz genau weiß, wo er seinen Schuh gelassen hat, also holt er ihn am besten selbst.« Ihre Stimme klang inzwischen ganz schwach und müde.
»Gut«, hauchte sie schließlich, »aber wenn der Schuh morgen immer noch da ist, bringen wir ihn zurück, versprochen?« »Versprochen, mein Schatz, wir besorgen uns dann irgendwie seine Adresse, wir schauen im Telefonbuch nach. Aber jetzt wird geschlafen.«
Da war sie bereits eingeschlummert. Ich bin auf Zehenspitzen aus dem Zimmer geschlichen. Dann habe ich laut gestöhnt. Verdammt, dachte ich, ich werde bestimmt kein Auge mehr zutun. Ich bin in die Küche gegangen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Das Licht habe ich nicht angemacht. Sollte ich Catherine erzählen, dass die Kleine wieder halluziniert hatte? Dass sie einen Engel in Hosen gesehen hatte, der seinen Schuh zurückließ? Dann fiel mir die Arbeit wieder ein, und ich dachte: Um ehrlich zu sein, würde ich den Tag lieber damit verbringen, die Adresse dieses Engels in Hosen herauszufinden, als Fotokopiergeräte zu verkaufen.
Während ich trank, versuchte ich, mich auf den Schlaf einzustimmen. Hatte ich als Kind ähnliches Zeug geträumt? Vielleicht. Warum sollte es bei der Kleinen anders sein? Warum sollte man sich wegen dieser Halluzinationen Sorgen machen? Weil sie bei ihr öfter vorkommen als bei anderen? Weil sie fester daran glaubt? Ich hatte bestimmt auch an solche Sachen geglaubt.
Ich trank ein zweites Glas Wasser und musste lächeln. Eigentlich süß, dachte ich, von einem Engel zu träumen, der Schuhe trägt, Hosen und Hemd. Er sah allerdings traurig aus, ich weiß. Als ich mein Glas wieder neben die Spüle stellte, blickte ich aus dem Küchenfenster und sah auf dem Dach gegenüber einen Schuh.
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Autoren-Porträt von Vincent Delecroix
Vincent Delecroix wurde 1969 geboren. Er studierte Philosophie und Soziologie und lebt in Paris, wo er Philosophie lehrt.Patricia Klobusiczky, geb. 1968, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und arbeitete zehn Jahre lang als Lektorin. Seit 2006 ist sie Übersetzerin aus dem Französischen und dem Englischen, u.a. von Lorrie Moore, Peter Hobbs, Vincent Delecroix und Louise de Vilmorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Vincent Delecroix
- 2010, 224 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Französ. v. Klobusiczky, Patricia
- Übersetzer: Patricia Klobusiczky
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548609627
- ISBN-13: 9783548609621
Rezension zu „Der Schuh auf dem Dach “
»Es ist ein kleines feines Buch, ebenso philosophisch wie unterhaltsam.« General-Anzeiger, 25.04.09 »Zum Träumen schön und zum Weinen traurig, lebensklug und heiter« Münchner Merkur, 25.04.09 »Traurig-schön, mit leichtfüßigem Charme erzählt« Emotion, 2009/07
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