Der Sieger nimmt alles
Roman
Lange Zeit waren sie ein Tabu in der deutschen Literatur: die Manager, die Unternehmer, die Leute, die unsere Wirtschaft lenken. Dieter Wellershoff war einer der ersten, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben: Wie sieht es eigentlich in so einem...
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Produktinformationen zu „Der Sieger nimmt alles “
Lange Zeit waren sie ein Tabu in der deutschen Literatur: die Manager, die Unternehmer, die Leute, die unsere Wirtschaft lenken. Dieter Wellershoff war einer der ersten, die sich mit der Frage auseinandergesetzt haben: Wie sieht es eigentlich in so einem aus, der täglich mit Geld, mit viel Geld, umgeht, der ins Schicksal von anderen eingreift und über sein eigenes wenig nachdenkt.
Klappentext zu „Der Sieger nimmt alles “
Aufstieg und Fall Machtmenschen - von bestechender AktualitätUlrich Vogtmann, ein Aufsteiger par excellence, geprägt durch den Zweiten Weltkrieg und den Umbruch der Werte in der Nachkriegszeit, ist fasziniert vom Allmachtstraum des großen Erfolgs. Er nimmt das Leben als Herausforderung, vertraut auf seine Vitalität, seinen Scharfsinn, sein Glück. Rücksichtslos verfolgt er sein Ziel, treibt seine Umgebung in den Ruin und sich selbst in die totale Isolation.
Lese-Probe zu „Der Sieger nimmt alles “
Der Sieger nimmt alles von Dieter Wellershoff 1.
Montag morgens im Hotel Wenn am Montagmorgen die meisten Gäste abgereist und die neuen noch nicht eingetroffen sind, liegt auf den Fluren des Messehotels die abgezogene Bettwäsche in faltigen Haufen wie schmutzige Reste zusammengefegten alten Schnees. Licht fällt aus den weit geöffneten Zimmertüren, und wer an ihnen vorbeigeht, sieht in den kabinenartigen Räumen die grauen Matratzen der Doppelbetten, die beiden Nachttische mit den kleinen Lampen, beiseite gezogene Vorhänge und aufgeklappte Fenster und hier und da zwei Zimmermädchen, die gemeinsam die Betten beziehen.
Das Heulen eines unsichtbaren großen Staubsaugers in einem Zimmer am Ende des Ganges klingt heiser und besessen wie festgehakte Wut, und wenn man näher kommt, hört man die kurzen klackenden Stöße der Saugdüse gegen Fußbodenleisten, Möbelbeine und Schränke, als zucke in dem Geheul ein kleines, blindes, hartköpfiges Wesen herum, das überall an Wände prallt.
Dies ist ein Ort spurlosen Verschwindens. Man muß ihn jetzt sehen, in dieser Vormittagsstunde, da sein Bild beschädigt ist. In allen Stockwerken und Gängen sind Frauen in orangegelben Kitteln dabei, die schäbigen Hinterlassenschaften der Nacht zu beseitigen. Sie putzen Spiegel, Becken, Wannen, Armaturen blank, tragen Papierkörbe, benutzte Seifenstücke, leere Shampooflaschen, vergessene Kämme und beschmierte Frühstückstabletts aus den Zimmern und schieben Wagen mit frischer Wäsche, Toilettenpapier, eingepackten Seifenstücken und Grußkarten der Direktion von Tür zu Tür. Verspätete Gäste schleppen durch die Unordnung der Gänge ihre Koffer zu den Fahrstühlen wie Vertriebene, die ihre Habe retten.
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Es gibt auch Türen, die verschlossen bleiben, an die leise, bald dringlicher geklopft wird oder hinter denen das Telefon schrillt, bis eine verschlafene Stimme antwortet: »Ja, was ist? Ich will nicht gestört werden.« Dann wandert das Heulen des Staubsaugers an der Tür vorbei, und allmählich verziehen sich auch die Stimmen und die übrigen Geräusche. Vielleicht liegt in dem Zimmer ein Betrunkener in seiner Traumsuhle, ein Nachtschwärmer, der seinen Rausch ausschläft, oder auch jemand, der die ganze Nacht nicht schlafen konnte und nun endlich versunken ist in sandigem Tablettenschlaf. Benommen hat er dem fragenden Klopfen geantwortet, und nun wird er allein bleiben auf diesem Stockwerk, bis gegen Mittag die Hausdiener die ersten neuen Gäste zu ihren Zimmern bringen. Manchmal, nur selten, kommt keine Antwort, obwohl das Klopfen heftiger wird und das Klingeln des Telefons nicht mehr abreißt. Jetzt muß man den Hauptschlüssel holen, der auf alle Türen des Stockwerks paßt. Es kann sein, daß es schwerfällt, die Tür zu öffnen, weil jemand, der aus dem Zimmer hinauswollte, dahinterliegt.
Das Zimmermädchen, das die Tür gegen einen trägen Widerstand einen Spalt weit aufgedrückt hatte, sah einen dunklen Haarschopf und einen Männerarm mit einer Armbanduhr. Das Zifferblatt war schleimig verklebt, und sie konnte riechen, daß der Mann sich erbrochen hatte. Trotzdem wußte sie sofort, daß das kein Betrunkener war.
Laut Eintragung beim Empfang war der Zimmerbewohner ein gewisser Ulrich Vogtmann, Diplomkaufmann aus Siegburg im Rheinland, gebürtig aus Hannover. Er hatte sich für acht Uhr in die Liste des telefonischen Weckdienstes eintragen lassen. Das Mädchen, das den Weckdienst versah und für diese Uhrzeit viele Vormerkungen hatte, schien versäumt zu haben, auf seine Antwort zu warten. Sie bestritt das zwar, sagte mehrfach, sie habe ein kurzes »Ja, danke« gehört. Doch laut späterem Sektionsbericht war Vogtmann zur gewünschten Weckzeit schon einige Stunden tot.
Als die Träger mit der Bahre durch den Gang kommen, in dem noch die schmutzige Wäsche neben den Türen liegt, verstummt in einem der Zimmer das Geräusch des Staubsaugers, und in der Tür erscheint ein dunkelhäutiges Zimmermädchen mit erschrockenen Augen. Auf der Bahre wird eine undeutliche Körperform an ihr vorbeigetragen, eine menschenähnliche Masse, verdeckt von einer grauen Decke, unter der weiße, blutleere Füße hervorschauen. Der Blick des Mädchens haftet an diesen leblosen, weißlichen Fleischgebilden mit den gelblichen Sohlen. Es sind die Füße eines Mannes, der nicht mehr jung ist. In völligem Spannungsverlust sind sie seitlich weggeklappt und beben ein wenig, als die Träger zwischen den Wäschehaufen ihren Schritt wechseln. »Bitte hier lang«, sagt der Geschäftsführer des Hotels, und die kleine Prozession biegt in einen Seitengang ab, vorweg der Geschäftsführer, ein rundlicher, fast kahlköpfiger Mann mit aufgestörten Bewegungen, neben ihm der Arzt des Notwagens in einem weißen Kittel, aus dessen Brusttasche der rote Gummischlauch des Stethoskops hervorlugt, dann die beiden Träger mit ihrer Last und zum Schluß der Hoteldiener, der den Koffer des Toten und seinen Mantel trägt.
Das Schreckliche an diesen Füßen ist nicht, daß es die Füße einer Leiche sind, sondern die kleine Verkrüppelung, die sie aussehen läßt, als lebten sie. Die beiden äußeren Zehen sind wurmartig nach innen gekrümmt und überklammern die benachbarten Zehen wie in einem ängstlichen, zimperlichen Krampf. Die Augen des dunkelhäutigen Zimmermädchens folgen den verkrüppelten Füßen. Eine ältere Frau im orangegelben Kittel, einen Karton mit Seifenstücken in der Hand, bleibt an der Wand stehen und läßt den Transport an sich vorbei.
»Hier lang«, sagt der Geschäftsführer.
Er hat die Fahrstühle für einige Minuten blockieren lassen. Neben den automatischen Türen leuchten die roten Besetztzeichen. Alle Fahrstühle halten im fünften Stock. Unten an der Haupttreppe hat sich unauffällig der Portier postiert, um Gäste, die nach oben wollen, einen Augenblick um Geduld zu bitten. Er soll sagen, die Treppe sei versperrt durch einen Möbeltransport.
»Hier lang bitte. Ich halte die Türe auf.«
Tote, das hat der Geschäftsführer gelernt, werden über die Nottreppe fortgeschafft. Im frisch bezogenen Bett des Sterbezimmers wird heute nacht ein neuer Gast schlafen. Auf seinem Nachttisch wird die Grußkarte des Direktors liegen, die ihm einen angenehmen Aufenthalt wünscht. Angeheftet ist ein kleiner Schokoladenriegel.
Es gibt keinen Tod im Hotel, nur das tägliche Abreisen. Es bleiben keine Erinnerungen in diesen Zimmern, nur blankgeriebene Spiegel und die Geometrie der Möbel. Die störenden Geräusche im Nebenzimmer sind am Morgen vergessen.
Ruhiger, wiegender Schritt der Träger, die niemanden anschauen rechts und links von ihrem Weg durch die langen Korridore. Als trügen sie damit zur Unsichtbarkeit des Toten bei, sehen sie geradeaus und über ihn hinweg. Zwischen ihnen schwebt er auf der Bahre. Die Decke, grau und dünenhaft, vereinfacht ihn. Nur die verwachsenen Füße strecken sich unter dem Saum hervor wie eine zur Schau gestellte Obszönität. Seht, wer ich bin, wer ich gewesen bin.
2.
Niemandsgefühle Immer hatte Ulrich Vogtmann darauf gewartet, daß etwas geschah, ein Ereignis, das Bedeutung für ihn gewann und sein Leben veränderte, irgend etwas, das ein neuer Anfang war. Doch genauso hartnäckig, wie er auf diese unbestimmte große Veränderung hoffte, zweifelte er an ihr. Es würde nichts dergleichen geschehen. Inzwischen jedenfalls würde nichts geschehen. Denn wenn sich der Anfang einer möglichen Veränderung zeigte, würde er ihn kaum erkennen können. Dieses vorläufige Leben, in dem er seit Jahren dahintrottete, hatte ihn innerlich fast blind gemacht, und manchmal sagte er sich, daß er das Leben eines Schlafwandlers führte, der bereit war zu erwachen, aber nicht wußte, wie es geschehen konnte und was es bedeutete, wach zu sein.
Nun war er siebenundzwanzig Jahre alt, hatte zweimal sein Studienfach gewechselt und konnte sich seit einem Jahr kaum noch verschleiern, daß er wieder in eine innere Flaute geraten war und nur noch weitermachte, weil er dann seinen erneuten Stillstand fürchtete, der diesmal, noch nicht genau vorstellbar, die Auslöschung seiner Person zu bedeuten schien.
Er hatte, weil er einen überlegenen Standpunkt suchte und an Beruf und Geldverdienen nicht denken mochte, zunächst mit Philosophie begonnen, aber enttäuscht und verwirrt nach zwei Semestern aufgehört. Es kam ihm so vor, als sei er in einem Wortnebel verschwunden gewesen, und nur die eigene Stimme, die eines Tages zu sagen begann, »ich bin es nicht, das bin ich nicht«, hatte ihn wieder hinausgeführt. Nicht weniger unglücklich verlief sein Versuch mit der Medizin. Nur daß die Stimme, die »ich bin es nicht« sagte, jetzt leiser geworden war und zu Selbstvorwürfen überging und ihn immer mehr in die Enge trieb. Während er sich durch die Paukereien der vorklinischen Semester quälte, wurde er von Kopfschmerzen und Stimmungsschwankungen heimgesucht, versuchte aber dagegen anzukämpfen und erschöpfte seine Kräfte, bis er schließlich, wie bei seinem ersten Studium, wieder die Flucht ergriff.
Es geschah im Seziersaal der Anatomie, als er an grauem, künstlich gehärtetem Leichenfleisch herumschnitt, das ein Stück vom Schenkel eines alten Mannes war. Unfähig, sich zu konzentrieren, hatte er das Präparat gründlich verdorben. Es war nur noch ein zerfetztes Gezaddel toter Muskelfasern, Sehnen und Adern, in dem er ein Abbild falscher und vertaner Möglichkeiten sah. Als er es zur Verbrennung in den Müllschlucker warf, hatte er seine Zukunft als Arzt gleich mitgeworfen.
Diesmal geriet er in eine längere Krise und vermied ein halbes Jahr die Universität, außer wenn er in das Büro des Studentenschnelldienstes ging, wo er sich seine wechselnden Jobs besorgte. Von Tag zu Tag zu leben war jetzt sein Prinzip, und dies besagte auch, daß er nicht darüber nachdenken durfte, ob er langfristig so leben konnte.
Er steckte tief in seinen Verworrenheiten, als ein Bekannter, den er zufällig auf der Straße traf, ihn überredete, mit ihm in einen Vortrag zu gehen. Es war der Einführungsvortrag einer längeren Vorlesungsreihe über das Geld, ein Thema, dem er in seiner Armut nur höhnische Skepsis entgegenbrachte. Doch gleich nach den ersten Sätzen hatte er gemerkt, daß sein Vorbehalt schmolz, und der Mann, der dort vorne sprach, ihm eine grundsätzliche Blindheit aus den Augen nahm.
Denn der Vortragende stellte das Geld nicht als etwas Totes dar, als ein rationales System abstrakter Größen, sondern als den Lebensstoff der Phantasie. Geld löste alles, was fest schien, in Bewegung auf. Selbst nichts Bestimmtes, ermöglichte es den Austausch und die Verknüpfung aller Dinge und Tätigkeiten. Es war die universelle Maschine, die alle anderen Maschinen in Bewegung setzte. Es war der Stoffwechsel der Gesellschaft, ihr Nervensystem. Es war die glitzernde Brücke, die die Vergangenheit mit der Zukunft verband, der Zauberstab, der aus dem bloß Möglichen das Wirkliche schlug, das Spiegelkabinett der unendlichen Wechselwirkung. Fast alles, was Menschen sich wünschten, sich ausdachten, zu tun versuchten, war ausdrückbar und erreichbar durch Geld. Es war das höchste Allgemeine, die alles umschließende Einheit aller Elemente der beweglichen, veränderbaren Welt. Flüchtig, allmächtig, wandelbar, glich es ganz dem gestaltenmischenden Traum. Es war die genialste Hervorbringung des menschlichen Geistes. Mit ihm erst entfaltete er sich selbst, löste sich aus der Bindung an die konkreten Dinge, entwand sich dem Hier und Jetzt, dem Reich des immergleichen Notwendigen und wurde freie Schöpfung und Spekulation.
Vogtmann war aus dieser Vorlesung herausgekommen wie jemand, der in das geheime Zentrum der Welt geblickt hatte. Das war es! So geschahen die Dinge. Er mußte unbedingt in den Besitz dieses Wissens gelangen, mit dem man die unzugängliche, verschlossene Welt öffnen und beherrschen konnte.
Wieder stand er am Anfang eines neuen Studiums und einer langsam wachsenden Enttäuschung darüber, daß die Vision des Anfangs sich nicht hielt. Was er in den wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen und Seminaren hörte und in den Büchern und Skripten las, wuchs als ein grauer Belag über sein inneres Bild und löschte den Zauber aus. Er sagte sich diesmal, daß das üblich sei und in seiner Enttäuschung sich nur sein Hochmut verberge, der ihn daran hindere, ein normaler Mensch zu werden. Diesmal wollte er durchhalten. Doch weil alles, was er bis jetzt verfolgt hatte, ihm bald wie ein Licht im Nebel erschienen war, suchte er dringend nach etwas Greifbarem. Ob ihm deshalb vor Augen kam, was er suchte, oder ob das Gefundene nicht das Gesuchte war, konnte er später nicht entscheiden.
Die Pattbergsche Fabrik, die Milchprodukte, vor allem Kondensmilch herstellte, war Ende der fünfziger Jahre, als Vogtmann sie zum erstenmal sah, ein unorganischer Komplex aus düsteren Klinkerbauten im gotisierenden Stil der Jahrhundertwende und mehreren betongrauen Hallen mit schwarzen Wellblechdächern. Völlig beziehungslos stand dazwischen ein fensterloses, weiß verkacheltes Kühlhaus, das fast genau die Form eines Würfels hatte. Es war sichtlich der modernste Teil der Fabrik und fiel neben den rauhen Betonbauten durch seine helle klinische Glätte auf. Dagegen wirkte der zweistöckige, gelblich verputzte Bürotrakt, der auch erst sechs Jahre alt war, schon ein wenig schäbig. Es war noch ein typischer Sparbau der Nachkriegsjahre mit verhältnismäßig kleinen, rechteckigen Fenstern, dessen bescheidener Haupteingang nachträglich etwas erweitert worden war.
Produktion, Verpackung und Auslieferung der Waren fanden in den Hallen statt, die entweder aneinander grenzten oder durch überdachte Gänge und dicke Rohrleitungen miteinander verbunden waren. In den Klinkerbauten der Jahrhundertwende mit ihren hochgezogenen, spitzbogigen, halb verdrahteten Fenstern befanden sich nur noch der Heizungsraum und das sogenannte Dosenwerk, in dem die Feinbleche gestanzt, geformt und gelötet wurden, um als offene Dosen in endloser Reihe auf einem Transportband zu den Füllautomaten der nächsten Halle zu wandern. Die Produktionsstätten und die Auslieferung umschlossen einen weiten, zur Straße hin offenen Innenhof. Wenn die Schiebetore der Hallen nicht fest geschlossen waren, drang lauter Maschinenlärm nach draußen. Aus den Abzügen der Halle, in der die Milch kondensiert wurde, quollen dicke weiße Wolken von Wasserdampf.
Vogtmann kam von der anderen Seite der Straße über einen zweiten Hof, an den das Bürogebäude grenzte. Hier parkten die Angestellten, die Werkmeister und die Familie Pattberg ihre Autos, während die Arbeiter, falls damals überhaupt schon einige mit Autos zur Arbeit kamen, ihre Wagen in den benachbarten Straßen abstellten. Bürohof und Parkplatz waren durch eine niedrige, mit einem schwarzen Eisengitter überhöhte Mauer von der Auffahrt zum Wohnhaus der Pattbergs getrennt, und nur eine kleine Pforte für die Mitglieder der Familie stellte eine Verbindung zwischen beiden Bereichen her.
Die Villa, wie das große Wohnhaus allgemein genannt wurde, war ungefähr genauso alt wie der alte Teil der Fabrik, hatte aber ihre Architektur den klassischen Formen italienischer Landhäuser entlehnt. Ihre ockerfarbene Fassade mit den vorspringenden Seitenflügeln wurde beherrscht vom Mittelteil, in dessen Hochparterre, flankiert von zwei alten großen Tannen, eine breite Freitreppe führte, über der sich, ein Stockwerk höher, eine Loggia befand. Zur Parkseite besaß das Haus einen erst später angebauten Wintergarten, der wie ein gläserner Wandelgang auf der immer noch breiten, ausladenden Terrasse stand. Gleich unterhalb der Terrasse begann ein von Blumenbeeten umsäumter, flach geschorener Rasen, hinter dem sich der Park in die unregelmäßigen Wiesenflächen und Baumgruppen eines englischen Landschaftsparks verwandelte. Sein ausgedehntes, teilweise fast waldartiges Gelände umschloß das Areal der Fabrik in einem Winkel und war von einer mehr als mannshohen Mauer umgeben. Damals grenzte sie noch an Kartoffeläcker und Gemüsefelder.
Alles das lernte Vogtmann erst Wochen später kennen. Zunächst wurde er im Personalbüro von einem wortkargen, älteren Mann im grauen Kittel abgeholt und über den Hof in eine fast vierzig Meter lange, lärmerfüllte Halle gebracht, in der viele graugrüne Maschinen standen, die durch Transportbänder miteinander verbunden waren. Es war ein riesiges Bewegungssystem in mehreren Etagen, das aus dem Dosenwerk leere Blechdosen einfuhr und in einen langwierigen Umlauf brachte. Über Verteilerstellen beschickte es die Magnetbänder, auf denen die Dosen wie festgeklebt standen, wenn sie steil abwärts in die Füllautomaten fuhren. Von dort wanderten sie in die benachbarten Lötautomaten, wo sie mit einem Deckel verschlossen wurden, und stiegen auf einem anderen Magnetband in den großen Umlauf zurück, der sie alle wieder einsammelte und zu einem zehn Meter langen, tonnenartigen Kessel am Ende der Halle brachte, in dem sie minutenlang erhitzt wurden, um dann weiterzufahren in die nächste Halle, wo sie verpackt wurden.
Der Mann im grauen Kittel hatte unterwegs kaum ein Wort gesagt. Nun, da sie hinter der Eingangsschleuse in die Maschinenhalle traten, setzte er sich einen Bügel mit Lärmdämpfern auf den Kopf und brüllte Vogtmann ein paar Erklärungen in die betäubten Ohren. Die Halle war erfüllt von den gleichmäßigen Takten und dem dumpf-dunklen Motorgeräusch der Maschinen, die in zwei verschiedenen Geschwindigkeiten liefen, manchmal auch abgeschaltet wurden, weil eine defekte Dose den Ablauf störte, und dann sausend wieder in Gang kamen. Doch die Arbeitsgeräusche der Maschinen und das surrende Transportsystem waren nur der Untergrund des ununterbrochenen Schepperns und Klapperns Tausender leerer Blechbüchsen, die gegen die Leitplanken der Transportbänder stießen, sich rempelten, aufstauten und weiterfuhren, während hinter ihnen, am Anfang ihres Umlaufs, noch die Stanzenschläge des Dosenwerkes zu hören waren.
Die Halle war künstlich erleuchtet durch lange Lichtröhren an der Decke, obwohl sie ein breites Oberlicht hatte, durch das sie jetzt, beim Beginn der Mittagsschicht, von der Sommersonne bis zu einer schwülen Tropenwärme aufgeheizt wurde, in der sich der Milch-, Öl-und Wasserdunst zu einem erstickenden Geruch mischten.
Wenn dies sein Arbeitsplatz war, dann steckte er in der Falle.
Die Arbeit bei der Firma Pattberg hatte ihm sein ehemaliger Studienkollege Horst Reichenbach beschafft, der im Auftrag einer Exportfirma für ein Vierteljahr ins Ausland reiste und jemanden suchte, der solange in seine Junggesellenwohnung einzog und seine Katze versorgte. Vogtmann hatte sofort zugesagt, weil die Pattbergsche Fabrik in Siegburg weit von seiner Universitätsstadt Freiburg entfernt war und er damals einen Grund suchte, sich aus den besitzergreifenden Umarmungen einer Frau zurückzuziehen.
Sie war acht Jahre älter als er, Jugoslawin, von Beruf Lehrerin, die nach einer zerstörten Ehe ihre Heimat verlassen hatte, in Freiburg als Putzfrau und Kellnerin lebte und vergeblich versuchte, Schreibarbeiten und Aufträge für Übersetzungen zu bekommen. Sie hieß Jovanka - für ihn ein Name, der ihm immer ein wenig fremd blieb, so zärtlich er ihn oft gesprochen hatte. Er hatte sie kennengelernt, weil er in dem Lokal, in dem sie bediente, gelegentlich ein Glas Bier getrunken hatte. Sie war ihm aufgefallen durch ihre traumwandlerischen und zugleich zweckmäßig sicheren Bewegungen, mit denen sie zwischen den Tischen des Gastraumes herumging, und durch den abwesenden Ausdruck ihres angestrengten, manchmal müden Gesichtes. Es war ein Gesicht, das sich verschloß und doch seine vom Mißtrauen gebändigte Leidenschaftlichkeit und Wildheit zeigte, die Kraft, die auch ihr kaum mittelgroßer, stämmiger Körper verriet, der sich ihm nachdrücklich bewußt machte, wenn sie an seinen Tisch kam, obwohl sie ihn lange Zeit genauso kühl und wortkarg bediente wie alle anderen Gäste. Meistens trug sie einen kurzärmeligen, schwarzen Pullover und einen schwarzen Rock, über den sie eine Schürze band. Es war eine Art Berufskleidung, doch zusammen mit ihrem dichten schwarzen Haar schien das Schwarz auch der Ausdruck ihres Wesens zu sein, einer düsteren Einfachheit und Unbedingtheit, die er in ihrem Blick zu erkennen glaubte. Einmal, als er sie auf der Straße mit einem Kopftuch und in einem billigen braunen Mantel sah, der ihr überhaupt nicht stand, begriff er, daß sie arm war und wahrscheinlich geschenkte Sachen trug, und er hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt wie zu einem für ihn bestimmten Geheimnis.
Auch er war arm, und das war schon fast wie ein Bündnis. Auch sie, das ahnte er, stand auf wenig festem Boden. Und doch war sie bestimmter, erfahrener als er, war ihm weit voraus. Er zögerte, mehr mit ihr zu reden als die üblichen Formeln zwischen Gast und Kellnerin, denn er spürte in ihrem Verhalten eine grundsätzliche Abwehr gegen alles, was ihr zu nahe kam. Sie sollte sich erst an ihn gewöhnen, und er wollte sie besser kennenlernen, indem er sie heimlich beobachtete.
So erschien er öfter gegen Abend in dem Lokal, trank ein Bier und las eine Zeitung, die er sich vorher gekauft hatte, wechselte einige freundliche Worte mit ihr und ging nach einer halben Stunde wieder fort. Schließlich war sie es, die eines Tages den Abstand überbrückte. Sie trat hinter ihn, um in seiner Zeitung das neue Wochenprogramm der Kinos zu lesen, und stützte sich mit einer Hand leicht auf seine Schulter auf. Ihre Berührung war so sicher, so vertraut, daß es fast selbstverständlich war, sie einzuladen, und ohne Umstände sagte sie für den nächsten Abend zu. Wieder kam sie in ihrem schäbigen Mantel, doch zu seiner Überraschung trug sie ihr Haar offen, und während sie, ein ganzes Stück kleiner als er, neben ihm ging, bewunderte er, wie schön es war.
Er hatte genug Instinkt gehabt, um zu wissen, daß er sie auf dem Nachhauseweg nicht bedrängen durfte. Alles sollte sich wie von selbst ergeben, nach ihrem inneren Zeitplan, dem sie unbewußt zu folgen schien und nach dem sie ihn lenkte, indem sie durch kleine Zeichen seine Ungeduld besänftigte und ihn an sich band. Es war nicht viel, was sie tat. Doch es konnte ihn schon in Entzücken versetzen, wenn sie leicht seinen Arm berührte oder ein Lächeln ihr Gesicht aufhellte, sobald sie ihn sah. Offenbar war sie jetzt auch bemüht, sich trotz ihrer Armut hübscher anzuziehen, wenn sie sich mit ihm traf, und diese Abkehr von der Achtlosigkeit, mit der sie sich bisher gekleidet hatte, bewies ihm am deutlichsten, daß sie sich für ihn entschied.
Zögernd und zunächst nur bruchstückhaft begann sie von sich zu erzählen, und allmählich tauchte hinter dieser Frau, die alle Menschen auf Distanz hielt, die lange Geschichte ihrer Verletzung auf. Da hatte es einen Ehemann gegeben, der sie in chronischer Eifersucht immer häufiger geschlagen hatte, obwohl der Anlaß für seine Eifersucht Jahre zurücklag, als sie ihn noch nicht kannte und ein junges Mädchen war. Ein älterer verheirateter Mann aus der entfernten Verwandtschaft hatte sie verführt. Der Ehemann, viel jünger als der Verführer, hatte das durch ihr eigenes Geständnis erfahren und war darüber zum Trinker geworden. Gedemütigt und verzweifelt hatte sie ihn schließlich verlassen, obwohl sie geglaubt hatte, ihn zu lieben, oder ihn geliebt hatte, oder dazu bereit gewesen war. Sie wußte es nicht mehr. Sie hatte sich mehr und mehr in sich zurückgezogen, um zu überleben. Allmählich mußte sie feststellen, daß die meisten Verwandten und Freunde ihr die Schuld an der Selbstzerstörung ihres Mannes gaben und seinen Wahnsinn einfach übernommen hatten. Sie galt als leichtfertig und haltlos, vor allem bei den Frauen. Und wie um dieses Vorurteil zu bestätigen, begannen die Männer dieser Frauen ihr nachzustellen. Mit einem von ihnen hatte sie sich eingelassen. Es war ein Zwang gewesen, den sie selbst nicht verstanden hatte, eine plötzliche Leidenschaft, der sie sich unterwarf und in der sie sich nicht wiedererkannte. Trotzdem hatte sie gehofft, verstanden zu werden. Doch der Mann brauchte das Vorurteil, daß sie eine Hure sei. Es war der einzige Zugang, den er zu ihr hatte, und auch der Grund, weshalb er sie bald verließ. Sie war danach völlig isoliert gewesen, eine verfemte Person, die in der Bannmeile eines beharrlichen, unwidersprechbaren Schweigens lebte. Das hatte sie immer weniger ausgehalten. Sie versagte als Lehrerin, sie wurde krank, sie mußte sich beurlauben lassen. Als ihr Mann in einer Trinkerheilanstalt starb, war sie in panischer Angst vor irgendeiner neuen Strafe geflohen. Niemand aus der Familie hatte ihr je geschrieben.
Während sie ihm das alles erzählte, hatte er das Gefühl, daß sie einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit zog, aber auch, daß ihm damit ein Vertrag untergeschoben wurde, in dem stand, er dürfe sie nie verlassen und nie enttäuschen, weil sonst der Boden, über den sie ging, unter ihr zerbrechen würde.
Weil sie ihn so dringend darum bat, hatte er auch von sich erzählt, von seinem Vater, der im Krieg als vermißt gemeldet wurde und für immer verschwunden blieb, seiner Mutter, die im dritten Kriegsjahr starb, der Tante, die ihn in das Internat brachte und ihn dort allmählich vergaß. Sein Widerwille gegen diese Erinnerungen war wieder so heftig geworden, daß sich seine Stimme belegte, und er kaum mehr zustande brachte als eine Aufzählung der Fakten, den dürren Beleg der Tatsache, daß er seit damals allein war und genauso bindungslos lebte wie sie.
Schon während er redete, hatte er gewußt, daß sie das endgültig verführte, und er merkte es auch an ihrem nachdenklichen Schweigen. Sie schien sich über sein und ihr Leben wie über ein schwieriges Rätsel zu beugen, für das es auf einmal eine einfache und glückliche Lösung gab. Nur ihr Mißtrauen hielt sie noch von ihren Wünschen zurück.
»Hast du nachgedacht?« fragte sie, »weißt du wirklich, was du willst?«
Für ihn gab es nichts nachzudenken, weil es überhaupt keine Zukunft gab, außer der allernächsten, der sie beide entgegengingen und die längst unvermeidlich war. Und eigentlich war dies keine Zukunft, sondern die leere Stelle einer Erwartung, die nicht wieder eine Geschichte hervorbringen wollte, sondern nur Gegenwart, einen Ausstieg aus der Zeit, soweit Zeit eine Konstruktion des Gehirns war, das Pläne, Ziele, Absichten, Versprechungen und Verträge erzeugte und nicht einfach nur der Herzschlag war, die gemeinsamen Atemzüge, Mund an Mund.
»Ich will, was du auch willst«, sagte er, »das weißt du längst.« Er sah, daß sie erschauerte und sich unwillkürlich zusammenzog.
»Laß mich nicht allein vernünftig sein«, hörte er sie sagen, und eine Weile redete sie noch weiter, rechnerisch wie eine Bäuerin, daß sie die falsche Frau für ihn sei, zu alt, zu arm, zu verletzt, zu fremd, was er vielleicht auch hätte denken können, wenn Denken wichtig gewesen wäre, wo er doch so viel auf einmal begriff, ohne darüber nachgedacht zu haben: ihren Schritt, der keinen Aufenthalt mehr wollte, ihre Finger, die sich gierig mit seinen verschränkten wie zu einem unauflöslichen Bündnis, ihre Stimme, die rauh und erregt war, als müsse sie den ganzen Raum zwischen Sprechen und Schreien füllen.
In dem Jahr, in dem er mit ihr zusammen war, verlor er wieder den Kontakt zu seinem Studium. Er hatte sich zwar geweigert, mit ihr zusammenzuziehen, weil der kleine Verschlag auf dem Speicher eines Mietshauses, in dem er seit Jahren hauste, für ihn der Schutzort seiner unverwirklichten Projekte und Träume war. Doch wenn er, wie fast jede Nacht, bei Jovanka geschlafen hatte, kam er meist erst gegen Mittag, wenn ihr Dienst als Kellnerin begann, durch das Gerümpel des Speichers zu seiner Klause zurück, und falls er nicht ohnehin gleich fort mußte zu irgendeinem Stundenjob, konnte er lange mit nichts einen Anfang machen.
Oft ging er erst spät abends wieder zu ihr hin, ausgehöhlt und süchtig geworden von Enttäuschung und vergeblicher Anstrengung, was sie in unruhiger Erwartung schon in seinen Augen sah. Während er die Treppe heraufkam, stand sie oben über das Geländer gebeugt, das Gesicht halb verdeckt von ihren geöffneten Haaren, und wenn sie ihren Bademantel anhatte, wußte er, sie war darunter nackt. Sie ließ ihn stumm eintreten, und während sie mit der einen Hand hinter ihm die Tür schloß, war die andere schon in seinem Nacken, um seinen Mund zu ihrem herabzuziehen. Etwas von der schnellen Verständigung von Verschwörern oder Verbrechern spürte er in dieser Begrüßung. Der Kuß besiegelte ihren Pakt gegen die Welt, die draußen blieb, die nichts von ihnen wußte, er löschte die Stunden aus, in denen sie nicht zusammen waren, und noch immer konnte es geschehen, daß sie nicht mehr voneinander loskamen. Ein wilder, triumphierender Ausdruck trat in ihr Gesicht, ein Glimmen ihrer Augen oder ein Starren wie in Schrecken und Schmerz, während ihr Mund sich öffnete, unschlüssig, ob sie schreien oder jubeln sollte, und ein Zwang, der an die Stelle seines und ihres Willens trat, sie zusammenfügte. Doch dann schloß sie die Lider, beruhigt und sicher, als nehme mit jeder Bewegung, jedem Atemzug ihre Gewißheit zu und sie könne sich immer mehr in sich zurückziehen und zugleich immer mehr außen in ihrer Haut sein.
Schließlich lagen sie still beieinander. Sie hatte die Arme weich und entspannt um ihn geschlungen, und er hörte ihr Herz schlagen. Er wußte, er hatte ihr die Angst genommen. Er selbst aber fühlte sich oft fremd und wie verdunkelt, einer stillstehenden Hoffnungslosigkeit preisgegeben. Es war sein Niemandsgefühl, er kannte es, wußte aber nicht, woher es kam, und es verwirrte ihn, daß es ihn gerade dann überfiel, wenn sie sich geliebt hatten.
Da er nicht mit ihr darüber sprechen konnte, ohne sofort ihre Angst aufzurühren, daß sie ihn verlieren würde, wurde ihr warmer, an ihn geschmiegter Körper allmählich zu einer stummen Bedrohung für ihn, und oft mußte er denken, daß sie das spürte und ihn mit ihren Umarmungen von sich fortriß, weg von seinen Vorbehalten in eine blinde Nähe hinein, in der er nicht mehr sehen konnte, wer er war.
Die Frage seines früheren Studienkollegen Horst Reichenbach, ob er nicht für ein Vierteljahr in seine Wohnung in Siegburg im Rheinland ziehen wolle, war ihm als ein Wink erschienen, dem er unbedingt folgen mußte. Da er aber nicht wußte, wie er das Jovanka erklären sollte, rückte er erst wenige Tage vor seiner Abreise, bei einem abendlichen Spaziergang in den Anlagen an der Dreisam, mit seinem fertigen Entschluß heraus. Sie erschrak so, daß sie verstummte, und seine Erklärung - er müsse eine Zeitlang allein sein, um wieder in sein Studium hineinzufinden - schien sie nur davon zu überzeugen, daß er sie verlassen wollte. Schließlich hatte er aufgegeben, auf sie einzureden, denn seine Argumente kamen ihm selbst haltlos vor, und in dem zähen Schweigen, in dem sie nebeneinander hergingen, fühlte er sich schon von ihr getrennt. Er blieb stehen, um sie festzuhalten und dieses dauernde Wegstreben neben sich zu verhindern. Sie gab ihm eine stumme Antwort, indem sie sich totstellte und als ein fühlloses Gewicht in seinen Armen hing.
Eine Weile standen sie so mitten auf dem Weg, scheu betrachtet von zwei älteren Leuten, die an ihnen vorbeigingen. Dieser Weg am Fluß, der zwischen Rasenhängen dunkel und leise rauschend dahinströmte, war einer ihrer Lieblingsspaziergänge. Sie waren oft eng umschlungen hier entlang gewandert, wenn er sie bei Dienstschluß in ihrem Lokal abgeholt hatte, um mit ihr in ihre Wohnung zu gehen. Jetzt mußte er sie festhalten mit einem wütenden Ringergriff, und sie wies ihn ab, indem sie sich nicht einmal widersetzte, sondern völlig leblos war.
»Komm zu dir«, sagte er, »kannst du nicht vernünftig sein?« Sie antwortete nicht, sah ihn nur an mit einem Ausdruck von starrem Stolz.
»Jovanka«, sagte er, »was soll das? Ich habe einen Fehler gemacht, das weiß ich. Ich hätte früher mit dir sprechen sollen. Aber ich muß dorthin fahren, ich brauche das. Begreif das doch.«
»Dann fahr gleich«, sagte sie.
Copyright © 1983 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Es gibt auch Türen, die verschlossen bleiben, an die leise, bald dringlicher geklopft wird oder hinter denen das Telefon schrillt, bis eine verschlafene Stimme antwortet: »Ja, was ist? Ich will nicht gestört werden.« Dann wandert das Heulen des Staubsaugers an der Tür vorbei, und allmählich verziehen sich auch die Stimmen und die übrigen Geräusche. Vielleicht liegt in dem Zimmer ein Betrunkener in seiner Traumsuhle, ein Nachtschwärmer, der seinen Rausch ausschläft, oder auch jemand, der die ganze Nacht nicht schlafen konnte und nun endlich versunken ist in sandigem Tablettenschlaf. Benommen hat er dem fragenden Klopfen geantwortet, und nun wird er allein bleiben auf diesem Stockwerk, bis gegen Mittag die Hausdiener die ersten neuen Gäste zu ihren Zimmern bringen. Manchmal, nur selten, kommt keine Antwort, obwohl das Klopfen heftiger wird und das Klingeln des Telefons nicht mehr abreißt. Jetzt muß man den Hauptschlüssel holen, der auf alle Türen des Stockwerks paßt. Es kann sein, daß es schwerfällt, die Tür zu öffnen, weil jemand, der aus dem Zimmer hinauswollte, dahinterliegt.
Das Zimmermädchen, das die Tür gegen einen trägen Widerstand einen Spalt weit aufgedrückt hatte, sah einen dunklen Haarschopf und einen Männerarm mit einer Armbanduhr. Das Zifferblatt war schleimig verklebt, und sie konnte riechen, daß der Mann sich erbrochen hatte. Trotzdem wußte sie sofort, daß das kein Betrunkener war.
Laut Eintragung beim Empfang war der Zimmerbewohner ein gewisser Ulrich Vogtmann, Diplomkaufmann aus Siegburg im Rheinland, gebürtig aus Hannover. Er hatte sich für acht Uhr in die Liste des telefonischen Weckdienstes eintragen lassen. Das Mädchen, das den Weckdienst versah und für diese Uhrzeit viele Vormerkungen hatte, schien versäumt zu haben, auf seine Antwort zu warten. Sie bestritt das zwar, sagte mehrfach, sie habe ein kurzes »Ja, danke« gehört. Doch laut späterem Sektionsbericht war Vogtmann zur gewünschten Weckzeit schon einige Stunden tot.
Als die Träger mit der Bahre durch den Gang kommen, in dem noch die schmutzige Wäsche neben den Türen liegt, verstummt in einem der Zimmer das Geräusch des Staubsaugers, und in der Tür erscheint ein dunkelhäutiges Zimmermädchen mit erschrockenen Augen. Auf der Bahre wird eine undeutliche Körperform an ihr vorbeigetragen, eine menschenähnliche Masse, verdeckt von einer grauen Decke, unter der weiße, blutleere Füße hervorschauen. Der Blick des Mädchens haftet an diesen leblosen, weißlichen Fleischgebilden mit den gelblichen Sohlen. Es sind die Füße eines Mannes, der nicht mehr jung ist. In völligem Spannungsverlust sind sie seitlich weggeklappt und beben ein wenig, als die Träger zwischen den Wäschehaufen ihren Schritt wechseln. »Bitte hier lang«, sagt der Geschäftsführer des Hotels, und die kleine Prozession biegt in einen Seitengang ab, vorweg der Geschäftsführer, ein rundlicher, fast kahlköpfiger Mann mit aufgestörten Bewegungen, neben ihm der Arzt des Notwagens in einem weißen Kittel, aus dessen Brusttasche der rote Gummischlauch des Stethoskops hervorlugt, dann die beiden Träger mit ihrer Last und zum Schluß der Hoteldiener, der den Koffer des Toten und seinen Mantel trägt.
Das Schreckliche an diesen Füßen ist nicht, daß es die Füße einer Leiche sind, sondern die kleine Verkrüppelung, die sie aussehen läßt, als lebten sie. Die beiden äußeren Zehen sind wurmartig nach innen gekrümmt und überklammern die benachbarten Zehen wie in einem ängstlichen, zimperlichen Krampf. Die Augen des dunkelhäutigen Zimmermädchens folgen den verkrüppelten Füßen. Eine ältere Frau im orangegelben Kittel, einen Karton mit Seifenstücken in der Hand, bleibt an der Wand stehen und läßt den Transport an sich vorbei.
»Hier lang«, sagt der Geschäftsführer.
Er hat die Fahrstühle für einige Minuten blockieren lassen. Neben den automatischen Türen leuchten die roten Besetztzeichen. Alle Fahrstühle halten im fünften Stock. Unten an der Haupttreppe hat sich unauffällig der Portier postiert, um Gäste, die nach oben wollen, einen Augenblick um Geduld zu bitten. Er soll sagen, die Treppe sei versperrt durch einen Möbeltransport.
»Hier lang bitte. Ich halte die Türe auf.«
Tote, das hat der Geschäftsführer gelernt, werden über die Nottreppe fortgeschafft. Im frisch bezogenen Bett des Sterbezimmers wird heute nacht ein neuer Gast schlafen. Auf seinem Nachttisch wird die Grußkarte des Direktors liegen, die ihm einen angenehmen Aufenthalt wünscht. Angeheftet ist ein kleiner Schokoladenriegel.
Es gibt keinen Tod im Hotel, nur das tägliche Abreisen. Es bleiben keine Erinnerungen in diesen Zimmern, nur blankgeriebene Spiegel und die Geometrie der Möbel. Die störenden Geräusche im Nebenzimmer sind am Morgen vergessen.
Ruhiger, wiegender Schritt der Träger, die niemanden anschauen rechts und links von ihrem Weg durch die langen Korridore. Als trügen sie damit zur Unsichtbarkeit des Toten bei, sehen sie geradeaus und über ihn hinweg. Zwischen ihnen schwebt er auf der Bahre. Die Decke, grau und dünenhaft, vereinfacht ihn. Nur die verwachsenen Füße strecken sich unter dem Saum hervor wie eine zur Schau gestellte Obszönität. Seht, wer ich bin, wer ich gewesen bin.
2.
Niemandsgefühle Immer hatte Ulrich Vogtmann darauf gewartet, daß etwas geschah, ein Ereignis, das Bedeutung für ihn gewann und sein Leben veränderte, irgend etwas, das ein neuer Anfang war. Doch genauso hartnäckig, wie er auf diese unbestimmte große Veränderung hoffte, zweifelte er an ihr. Es würde nichts dergleichen geschehen. Inzwischen jedenfalls würde nichts geschehen. Denn wenn sich der Anfang einer möglichen Veränderung zeigte, würde er ihn kaum erkennen können. Dieses vorläufige Leben, in dem er seit Jahren dahintrottete, hatte ihn innerlich fast blind gemacht, und manchmal sagte er sich, daß er das Leben eines Schlafwandlers führte, der bereit war zu erwachen, aber nicht wußte, wie es geschehen konnte und was es bedeutete, wach zu sein.
Nun war er siebenundzwanzig Jahre alt, hatte zweimal sein Studienfach gewechselt und konnte sich seit einem Jahr kaum noch verschleiern, daß er wieder in eine innere Flaute geraten war und nur noch weitermachte, weil er dann seinen erneuten Stillstand fürchtete, der diesmal, noch nicht genau vorstellbar, die Auslöschung seiner Person zu bedeuten schien.
Er hatte, weil er einen überlegenen Standpunkt suchte und an Beruf und Geldverdienen nicht denken mochte, zunächst mit Philosophie begonnen, aber enttäuscht und verwirrt nach zwei Semestern aufgehört. Es kam ihm so vor, als sei er in einem Wortnebel verschwunden gewesen, und nur die eigene Stimme, die eines Tages zu sagen begann, »ich bin es nicht, das bin ich nicht«, hatte ihn wieder hinausgeführt. Nicht weniger unglücklich verlief sein Versuch mit der Medizin. Nur daß die Stimme, die »ich bin es nicht« sagte, jetzt leiser geworden war und zu Selbstvorwürfen überging und ihn immer mehr in die Enge trieb. Während er sich durch die Paukereien der vorklinischen Semester quälte, wurde er von Kopfschmerzen und Stimmungsschwankungen heimgesucht, versuchte aber dagegen anzukämpfen und erschöpfte seine Kräfte, bis er schließlich, wie bei seinem ersten Studium, wieder die Flucht ergriff.
Es geschah im Seziersaal der Anatomie, als er an grauem, künstlich gehärtetem Leichenfleisch herumschnitt, das ein Stück vom Schenkel eines alten Mannes war. Unfähig, sich zu konzentrieren, hatte er das Präparat gründlich verdorben. Es war nur noch ein zerfetztes Gezaddel toter Muskelfasern, Sehnen und Adern, in dem er ein Abbild falscher und vertaner Möglichkeiten sah. Als er es zur Verbrennung in den Müllschlucker warf, hatte er seine Zukunft als Arzt gleich mitgeworfen.
Diesmal geriet er in eine längere Krise und vermied ein halbes Jahr die Universität, außer wenn er in das Büro des Studentenschnelldienstes ging, wo er sich seine wechselnden Jobs besorgte. Von Tag zu Tag zu leben war jetzt sein Prinzip, und dies besagte auch, daß er nicht darüber nachdenken durfte, ob er langfristig so leben konnte.
Er steckte tief in seinen Verworrenheiten, als ein Bekannter, den er zufällig auf der Straße traf, ihn überredete, mit ihm in einen Vortrag zu gehen. Es war der Einführungsvortrag einer längeren Vorlesungsreihe über das Geld, ein Thema, dem er in seiner Armut nur höhnische Skepsis entgegenbrachte. Doch gleich nach den ersten Sätzen hatte er gemerkt, daß sein Vorbehalt schmolz, und der Mann, der dort vorne sprach, ihm eine grundsätzliche Blindheit aus den Augen nahm.
Denn der Vortragende stellte das Geld nicht als etwas Totes dar, als ein rationales System abstrakter Größen, sondern als den Lebensstoff der Phantasie. Geld löste alles, was fest schien, in Bewegung auf. Selbst nichts Bestimmtes, ermöglichte es den Austausch und die Verknüpfung aller Dinge und Tätigkeiten. Es war die universelle Maschine, die alle anderen Maschinen in Bewegung setzte. Es war der Stoffwechsel der Gesellschaft, ihr Nervensystem. Es war die glitzernde Brücke, die die Vergangenheit mit der Zukunft verband, der Zauberstab, der aus dem bloß Möglichen das Wirkliche schlug, das Spiegelkabinett der unendlichen Wechselwirkung. Fast alles, was Menschen sich wünschten, sich ausdachten, zu tun versuchten, war ausdrückbar und erreichbar durch Geld. Es war das höchste Allgemeine, die alles umschließende Einheit aller Elemente der beweglichen, veränderbaren Welt. Flüchtig, allmächtig, wandelbar, glich es ganz dem gestaltenmischenden Traum. Es war die genialste Hervorbringung des menschlichen Geistes. Mit ihm erst entfaltete er sich selbst, löste sich aus der Bindung an die konkreten Dinge, entwand sich dem Hier und Jetzt, dem Reich des immergleichen Notwendigen und wurde freie Schöpfung und Spekulation.
Vogtmann war aus dieser Vorlesung herausgekommen wie jemand, der in das geheime Zentrum der Welt geblickt hatte. Das war es! So geschahen die Dinge. Er mußte unbedingt in den Besitz dieses Wissens gelangen, mit dem man die unzugängliche, verschlossene Welt öffnen und beherrschen konnte.
Wieder stand er am Anfang eines neuen Studiums und einer langsam wachsenden Enttäuschung darüber, daß die Vision des Anfangs sich nicht hielt. Was er in den wirtschaftswissenschaftlichen Vorlesungen und Seminaren hörte und in den Büchern und Skripten las, wuchs als ein grauer Belag über sein inneres Bild und löschte den Zauber aus. Er sagte sich diesmal, daß das üblich sei und in seiner Enttäuschung sich nur sein Hochmut verberge, der ihn daran hindere, ein normaler Mensch zu werden. Diesmal wollte er durchhalten. Doch weil alles, was er bis jetzt verfolgt hatte, ihm bald wie ein Licht im Nebel erschienen war, suchte er dringend nach etwas Greifbarem. Ob ihm deshalb vor Augen kam, was er suchte, oder ob das Gefundene nicht das Gesuchte war, konnte er später nicht entscheiden.
Die Pattbergsche Fabrik, die Milchprodukte, vor allem Kondensmilch herstellte, war Ende der fünfziger Jahre, als Vogtmann sie zum erstenmal sah, ein unorganischer Komplex aus düsteren Klinkerbauten im gotisierenden Stil der Jahrhundertwende und mehreren betongrauen Hallen mit schwarzen Wellblechdächern. Völlig beziehungslos stand dazwischen ein fensterloses, weiß verkacheltes Kühlhaus, das fast genau die Form eines Würfels hatte. Es war sichtlich der modernste Teil der Fabrik und fiel neben den rauhen Betonbauten durch seine helle klinische Glätte auf. Dagegen wirkte der zweistöckige, gelblich verputzte Bürotrakt, der auch erst sechs Jahre alt war, schon ein wenig schäbig. Es war noch ein typischer Sparbau der Nachkriegsjahre mit verhältnismäßig kleinen, rechteckigen Fenstern, dessen bescheidener Haupteingang nachträglich etwas erweitert worden war.
Produktion, Verpackung und Auslieferung der Waren fanden in den Hallen statt, die entweder aneinander grenzten oder durch überdachte Gänge und dicke Rohrleitungen miteinander verbunden waren. In den Klinkerbauten der Jahrhundertwende mit ihren hochgezogenen, spitzbogigen, halb verdrahteten Fenstern befanden sich nur noch der Heizungsraum und das sogenannte Dosenwerk, in dem die Feinbleche gestanzt, geformt und gelötet wurden, um als offene Dosen in endloser Reihe auf einem Transportband zu den Füllautomaten der nächsten Halle zu wandern. Die Produktionsstätten und die Auslieferung umschlossen einen weiten, zur Straße hin offenen Innenhof. Wenn die Schiebetore der Hallen nicht fest geschlossen waren, drang lauter Maschinenlärm nach draußen. Aus den Abzügen der Halle, in der die Milch kondensiert wurde, quollen dicke weiße Wolken von Wasserdampf.
Vogtmann kam von der anderen Seite der Straße über einen zweiten Hof, an den das Bürogebäude grenzte. Hier parkten die Angestellten, die Werkmeister und die Familie Pattberg ihre Autos, während die Arbeiter, falls damals überhaupt schon einige mit Autos zur Arbeit kamen, ihre Wagen in den benachbarten Straßen abstellten. Bürohof und Parkplatz waren durch eine niedrige, mit einem schwarzen Eisengitter überhöhte Mauer von der Auffahrt zum Wohnhaus der Pattbergs getrennt, und nur eine kleine Pforte für die Mitglieder der Familie stellte eine Verbindung zwischen beiden Bereichen her.
Die Villa, wie das große Wohnhaus allgemein genannt wurde, war ungefähr genauso alt wie der alte Teil der Fabrik, hatte aber ihre Architektur den klassischen Formen italienischer Landhäuser entlehnt. Ihre ockerfarbene Fassade mit den vorspringenden Seitenflügeln wurde beherrscht vom Mittelteil, in dessen Hochparterre, flankiert von zwei alten großen Tannen, eine breite Freitreppe führte, über der sich, ein Stockwerk höher, eine Loggia befand. Zur Parkseite besaß das Haus einen erst später angebauten Wintergarten, der wie ein gläserner Wandelgang auf der immer noch breiten, ausladenden Terrasse stand. Gleich unterhalb der Terrasse begann ein von Blumenbeeten umsäumter, flach geschorener Rasen, hinter dem sich der Park in die unregelmäßigen Wiesenflächen und Baumgruppen eines englischen Landschaftsparks verwandelte. Sein ausgedehntes, teilweise fast waldartiges Gelände umschloß das Areal der Fabrik in einem Winkel und war von einer mehr als mannshohen Mauer umgeben. Damals grenzte sie noch an Kartoffeläcker und Gemüsefelder.
Alles das lernte Vogtmann erst Wochen später kennen. Zunächst wurde er im Personalbüro von einem wortkargen, älteren Mann im grauen Kittel abgeholt und über den Hof in eine fast vierzig Meter lange, lärmerfüllte Halle gebracht, in der viele graugrüne Maschinen standen, die durch Transportbänder miteinander verbunden waren. Es war ein riesiges Bewegungssystem in mehreren Etagen, das aus dem Dosenwerk leere Blechdosen einfuhr und in einen langwierigen Umlauf brachte. Über Verteilerstellen beschickte es die Magnetbänder, auf denen die Dosen wie festgeklebt standen, wenn sie steil abwärts in die Füllautomaten fuhren. Von dort wanderten sie in die benachbarten Lötautomaten, wo sie mit einem Deckel verschlossen wurden, und stiegen auf einem anderen Magnetband in den großen Umlauf zurück, der sie alle wieder einsammelte und zu einem zehn Meter langen, tonnenartigen Kessel am Ende der Halle brachte, in dem sie minutenlang erhitzt wurden, um dann weiterzufahren in die nächste Halle, wo sie verpackt wurden.
Der Mann im grauen Kittel hatte unterwegs kaum ein Wort gesagt. Nun, da sie hinter der Eingangsschleuse in die Maschinenhalle traten, setzte er sich einen Bügel mit Lärmdämpfern auf den Kopf und brüllte Vogtmann ein paar Erklärungen in die betäubten Ohren. Die Halle war erfüllt von den gleichmäßigen Takten und dem dumpf-dunklen Motorgeräusch der Maschinen, die in zwei verschiedenen Geschwindigkeiten liefen, manchmal auch abgeschaltet wurden, weil eine defekte Dose den Ablauf störte, und dann sausend wieder in Gang kamen. Doch die Arbeitsgeräusche der Maschinen und das surrende Transportsystem waren nur der Untergrund des ununterbrochenen Schepperns und Klapperns Tausender leerer Blechbüchsen, die gegen die Leitplanken der Transportbänder stießen, sich rempelten, aufstauten und weiterfuhren, während hinter ihnen, am Anfang ihres Umlaufs, noch die Stanzenschläge des Dosenwerkes zu hören waren.
Die Halle war künstlich erleuchtet durch lange Lichtröhren an der Decke, obwohl sie ein breites Oberlicht hatte, durch das sie jetzt, beim Beginn der Mittagsschicht, von der Sommersonne bis zu einer schwülen Tropenwärme aufgeheizt wurde, in der sich der Milch-, Öl-und Wasserdunst zu einem erstickenden Geruch mischten.
Wenn dies sein Arbeitsplatz war, dann steckte er in der Falle.
Die Arbeit bei der Firma Pattberg hatte ihm sein ehemaliger Studienkollege Horst Reichenbach beschafft, der im Auftrag einer Exportfirma für ein Vierteljahr ins Ausland reiste und jemanden suchte, der solange in seine Junggesellenwohnung einzog und seine Katze versorgte. Vogtmann hatte sofort zugesagt, weil die Pattbergsche Fabrik in Siegburg weit von seiner Universitätsstadt Freiburg entfernt war und er damals einen Grund suchte, sich aus den besitzergreifenden Umarmungen einer Frau zurückzuziehen.
Sie war acht Jahre älter als er, Jugoslawin, von Beruf Lehrerin, die nach einer zerstörten Ehe ihre Heimat verlassen hatte, in Freiburg als Putzfrau und Kellnerin lebte und vergeblich versuchte, Schreibarbeiten und Aufträge für Übersetzungen zu bekommen. Sie hieß Jovanka - für ihn ein Name, der ihm immer ein wenig fremd blieb, so zärtlich er ihn oft gesprochen hatte. Er hatte sie kennengelernt, weil er in dem Lokal, in dem sie bediente, gelegentlich ein Glas Bier getrunken hatte. Sie war ihm aufgefallen durch ihre traumwandlerischen und zugleich zweckmäßig sicheren Bewegungen, mit denen sie zwischen den Tischen des Gastraumes herumging, und durch den abwesenden Ausdruck ihres angestrengten, manchmal müden Gesichtes. Es war ein Gesicht, das sich verschloß und doch seine vom Mißtrauen gebändigte Leidenschaftlichkeit und Wildheit zeigte, die Kraft, die auch ihr kaum mittelgroßer, stämmiger Körper verriet, der sich ihm nachdrücklich bewußt machte, wenn sie an seinen Tisch kam, obwohl sie ihn lange Zeit genauso kühl und wortkarg bediente wie alle anderen Gäste. Meistens trug sie einen kurzärmeligen, schwarzen Pullover und einen schwarzen Rock, über den sie eine Schürze band. Es war eine Art Berufskleidung, doch zusammen mit ihrem dichten schwarzen Haar schien das Schwarz auch der Ausdruck ihres Wesens zu sein, einer düsteren Einfachheit und Unbedingtheit, die er in ihrem Blick zu erkennen glaubte. Einmal, als er sie auf der Straße mit einem Kopftuch und in einem billigen braunen Mantel sah, der ihr überhaupt nicht stand, begriff er, daß sie arm war und wahrscheinlich geschenkte Sachen trug, und er hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt wie zu einem für ihn bestimmten Geheimnis.
Auch er war arm, und das war schon fast wie ein Bündnis. Auch sie, das ahnte er, stand auf wenig festem Boden. Und doch war sie bestimmter, erfahrener als er, war ihm weit voraus. Er zögerte, mehr mit ihr zu reden als die üblichen Formeln zwischen Gast und Kellnerin, denn er spürte in ihrem Verhalten eine grundsätzliche Abwehr gegen alles, was ihr zu nahe kam. Sie sollte sich erst an ihn gewöhnen, und er wollte sie besser kennenlernen, indem er sie heimlich beobachtete.
So erschien er öfter gegen Abend in dem Lokal, trank ein Bier und las eine Zeitung, die er sich vorher gekauft hatte, wechselte einige freundliche Worte mit ihr und ging nach einer halben Stunde wieder fort. Schließlich war sie es, die eines Tages den Abstand überbrückte. Sie trat hinter ihn, um in seiner Zeitung das neue Wochenprogramm der Kinos zu lesen, und stützte sich mit einer Hand leicht auf seine Schulter auf. Ihre Berührung war so sicher, so vertraut, daß es fast selbstverständlich war, sie einzuladen, und ohne Umstände sagte sie für den nächsten Abend zu. Wieder kam sie in ihrem schäbigen Mantel, doch zu seiner Überraschung trug sie ihr Haar offen, und während sie, ein ganzes Stück kleiner als er, neben ihm ging, bewunderte er, wie schön es war.
Er hatte genug Instinkt gehabt, um zu wissen, daß er sie auf dem Nachhauseweg nicht bedrängen durfte. Alles sollte sich wie von selbst ergeben, nach ihrem inneren Zeitplan, dem sie unbewußt zu folgen schien und nach dem sie ihn lenkte, indem sie durch kleine Zeichen seine Ungeduld besänftigte und ihn an sich band. Es war nicht viel, was sie tat. Doch es konnte ihn schon in Entzücken versetzen, wenn sie leicht seinen Arm berührte oder ein Lächeln ihr Gesicht aufhellte, sobald sie ihn sah. Offenbar war sie jetzt auch bemüht, sich trotz ihrer Armut hübscher anzuziehen, wenn sie sich mit ihm traf, und diese Abkehr von der Achtlosigkeit, mit der sie sich bisher gekleidet hatte, bewies ihm am deutlichsten, daß sie sich für ihn entschied.
Zögernd und zunächst nur bruchstückhaft begann sie von sich zu erzählen, und allmählich tauchte hinter dieser Frau, die alle Menschen auf Distanz hielt, die lange Geschichte ihrer Verletzung auf. Da hatte es einen Ehemann gegeben, der sie in chronischer Eifersucht immer häufiger geschlagen hatte, obwohl der Anlaß für seine Eifersucht Jahre zurücklag, als sie ihn noch nicht kannte und ein junges Mädchen war. Ein älterer verheirateter Mann aus der entfernten Verwandtschaft hatte sie verführt. Der Ehemann, viel jünger als der Verführer, hatte das durch ihr eigenes Geständnis erfahren und war darüber zum Trinker geworden. Gedemütigt und verzweifelt hatte sie ihn schließlich verlassen, obwohl sie geglaubt hatte, ihn zu lieben, oder ihn geliebt hatte, oder dazu bereit gewesen war. Sie wußte es nicht mehr. Sie hatte sich mehr und mehr in sich zurückgezogen, um zu überleben. Allmählich mußte sie feststellen, daß die meisten Verwandten und Freunde ihr die Schuld an der Selbstzerstörung ihres Mannes gaben und seinen Wahnsinn einfach übernommen hatten. Sie galt als leichtfertig und haltlos, vor allem bei den Frauen. Und wie um dieses Vorurteil zu bestätigen, begannen die Männer dieser Frauen ihr nachzustellen. Mit einem von ihnen hatte sie sich eingelassen. Es war ein Zwang gewesen, den sie selbst nicht verstanden hatte, eine plötzliche Leidenschaft, der sie sich unterwarf und in der sie sich nicht wiedererkannte. Trotzdem hatte sie gehofft, verstanden zu werden. Doch der Mann brauchte das Vorurteil, daß sie eine Hure sei. Es war der einzige Zugang, den er zu ihr hatte, und auch der Grund, weshalb er sie bald verließ. Sie war danach völlig isoliert gewesen, eine verfemte Person, die in der Bannmeile eines beharrlichen, unwidersprechbaren Schweigens lebte. Das hatte sie immer weniger ausgehalten. Sie versagte als Lehrerin, sie wurde krank, sie mußte sich beurlauben lassen. Als ihr Mann in einer Trinkerheilanstalt starb, war sie in panischer Angst vor irgendeiner neuen Strafe geflohen. Niemand aus der Familie hatte ihr je geschrieben.
Während sie ihm das alles erzählte, hatte er das Gefühl, daß sie einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit zog, aber auch, daß ihm damit ein Vertrag untergeschoben wurde, in dem stand, er dürfe sie nie verlassen und nie enttäuschen, weil sonst der Boden, über den sie ging, unter ihr zerbrechen würde.
Weil sie ihn so dringend darum bat, hatte er auch von sich erzählt, von seinem Vater, der im Krieg als vermißt gemeldet wurde und für immer verschwunden blieb, seiner Mutter, die im dritten Kriegsjahr starb, der Tante, die ihn in das Internat brachte und ihn dort allmählich vergaß. Sein Widerwille gegen diese Erinnerungen war wieder so heftig geworden, daß sich seine Stimme belegte, und er kaum mehr zustande brachte als eine Aufzählung der Fakten, den dürren Beleg der Tatsache, daß er seit damals allein war und genauso bindungslos lebte wie sie.
Schon während er redete, hatte er gewußt, daß sie das endgültig verführte, und er merkte es auch an ihrem nachdenklichen Schweigen. Sie schien sich über sein und ihr Leben wie über ein schwieriges Rätsel zu beugen, für das es auf einmal eine einfache und glückliche Lösung gab. Nur ihr Mißtrauen hielt sie noch von ihren Wünschen zurück.
»Hast du nachgedacht?« fragte sie, »weißt du wirklich, was du willst?«
Für ihn gab es nichts nachzudenken, weil es überhaupt keine Zukunft gab, außer der allernächsten, der sie beide entgegengingen und die längst unvermeidlich war. Und eigentlich war dies keine Zukunft, sondern die leere Stelle einer Erwartung, die nicht wieder eine Geschichte hervorbringen wollte, sondern nur Gegenwart, einen Ausstieg aus der Zeit, soweit Zeit eine Konstruktion des Gehirns war, das Pläne, Ziele, Absichten, Versprechungen und Verträge erzeugte und nicht einfach nur der Herzschlag war, die gemeinsamen Atemzüge, Mund an Mund.
»Ich will, was du auch willst«, sagte er, »das weißt du längst.« Er sah, daß sie erschauerte und sich unwillkürlich zusammenzog.
»Laß mich nicht allein vernünftig sein«, hörte er sie sagen, und eine Weile redete sie noch weiter, rechnerisch wie eine Bäuerin, daß sie die falsche Frau für ihn sei, zu alt, zu arm, zu verletzt, zu fremd, was er vielleicht auch hätte denken können, wenn Denken wichtig gewesen wäre, wo er doch so viel auf einmal begriff, ohne darüber nachgedacht zu haben: ihren Schritt, der keinen Aufenthalt mehr wollte, ihre Finger, die sich gierig mit seinen verschränkten wie zu einem unauflöslichen Bündnis, ihre Stimme, die rauh und erregt war, als müsse sie den ganzen Raum zwischen Sprechen und Schreien füllen.
In dem Jahr, in dem er mit ihr zusammen war, verlor er wieder den Kontakt zu seinem Studium. Er hatte sich zwar geweigert, mit ihr zusammenzuziehen, weil der kleine Verschlag auf dem Speicher eines Mietshauses, in dem er seit Jahren hauste, für ihn der Schutzort seiner unverwirklichten Projekte und Träume war. Doch wenn er, wie fast jede Nacht, bei Jovanka geschlafen hatte, kam er meist erst gegen Mittag, wenn ihr Dienst als Kellnerin begann, durch das Gerümpel des Speichers zu seiner Klause zurück, und falls er nicht ohnehin gleich fort mußte zu irgendeinem Stundenjob, konnte er lange mit nichts einen Anfang machen.
Oft ging er erst spät abends wieder zu ihr hin, ausgehöhlt und süchtig geworden von Enttäuschung und vergeblicher Anstrengung, was sie in unruhiger Erwartung schon in seinen Augen sah. Während er die Treppe heraufkam, stand sie oben über das Geländer gebeugt, das Gesicht halb verdeckt von ihren geöffneten Haaren, und wenn sie ihren Bademantel anhatte, wußte er, sie war darunter nackt. Sie ließ ihn stumm eintreten, und während sie mit der einen Hand hinter ihm die Tür schloß, war die andere schon in seinem Nacken, um seinen Mund zu ihrem herabzuziehen. Etwas von der schnellen Verständigung von Verschwörern oder Verbrechern spürte er in dieser Begrüßung. Der Kuß besiegelte ihren Pakt gegen die Welt, die draußen blieb, die nichts von ihnen wußte, er löschte die Stunden aus, in denen sie nicht zusammen waren, und noch immer konnte es geschehen, daß sie nicht mehr voneinander loskamen. Ein wilder, triumphierender Ausdruck trat in ihr Gesicht, ein Glimmen ihrer Augen oder ein Starren wie in Schrecken und Schmerz, während ihr Mund sich öffnete, unschlüssig, ob sie schreien oder jubeln sollte, und ein Zwang, der an die Stelle seines und ihres Willens trat, sie zusammenfügte. Doch dann schloß sie die Lider, beruhigt und sicher, als nehme mit jeder Bewegung, jedem Atemzug ihre Gewißheit zu und sie könne sich immer mehr in sich zurückziehen und zugleich immer mehr außen in ihrer Haut sein.
Schließlich lagen sie still beieinander. Sie hatte die Arme weich und entspannt um ihn geschlungen, und er hörte ihr Herz schlagen. Er wußte, er hatte ihr die Angst genommen. Er selbst aber fühlte sich oft fremd und wie verdunkelt, einer stillstehenden Hoffnungslosigkeit preisgegeben. Es war sein Niemandsgefühl, er kannte es, wußte aber nicht, woher es kam, und es verwirrte ihn, daß es ihn gerade dann überfiel, wenn sie sich geliebt hatten.
Da er nicht mit ihr darüber sprechen konnte, ohne sofort ihre Angst aufzurühren, daß sie ihn verlieren würde, wurde ihr warmer, an ihn geschmiegter Körper allmählich zu einer stummen Bedrohung für ihn, und oft mußte er denken, daß sie das spürte und ihn mit ihren Umarmungen von sich fortriß, weg von seinen Vorbehalten in eine blinde Nähe hinein, in der er nicht mehr sehen konnte, wer er war.
Die Frage seines früheren Studienkollegen Horst Reichenbach, ob er nicht für ein Vierteljahr in seine Wohnung in Siegburg im Rheinland ziehen wolle, war ihm als ein Wink erschienen, dem er unbedingt folgen mußte. Da er aber nicht wußte, wie er das Jovanka erklären sollte, rückte er erst wenige Tage vor seiner Abreise, bei einem abendlichen Spaziergang in den Anlagen an der Dreisam, mit seinem fertigen Entschluß heraus. Sie erschrak so, daß sie verstummte, und seine Erklärung - er müsse eine Zeitlang allein sein, um wieder in sein Studium hineinzufinden - schien sie nur davon zu überzeugen, daß er sie verlassen wollte. Schließlich hatte er aufgegeben, auf sie einzureden, denn seine Argumente kamen ihm selbst haltlos vor, und in dem zähen Schweigen, in dem sie nebeneinander hergingen, fühlte er sich schon von ihr getrennt. Er blieb stehen, um sie festzuhalten und dieses dauernde Wegstreben neben sich zu verhindern. Sie gab ihm eine stumme Antwort, indem sie sich totstellte und als ein fühlloses Gewicht in seinen Armen hing.
Eine Weile standen sie so mitten auf dem Weg, scheu betrachtet von zwei älteren Leuten, die an ihnen vorbeigingen. Dieser Weg am Fluß, der zwischen Rasenhängen dunkel und leise rauschend dahinströmte, war einer ihrer Lieblingsspaziergänge. Sie waren oft eng umschlungen hier entlang gewandert, wenn er sie bei Dienstschluß in ihrem Lokal abgeholt hatte, um mit ihr in ihre Wohnung zu gehen. Jetzt mußte er sie festhalten mit einem wütenden Ringergriff, und sie wies ihn ab, indem sie sich nicht einmal widersetzte, sondern völlig leblos war.
»Komm zu dir«, sagte er, »kannst du nicht vernünftig sein?« Sie antwortete nicht, sah ihn nur an mit einem Ausdruck von starrem Stolz.
»Jovanka«, sagte er, »was soll das? Ich habe einen Fehler gemacht, das weiß ich. Ich hätte früher mit dir sprechen sollen. Aber ich muß dorthin fahren, ich brauche das. Begreif das doch.«
»Dann fahr gleich«, sagte sie.
Copyright © 1983 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Dieter Wellershoff
Dieter Wellershoff, 1925 in Neuss geboren, schrieb Romane, Erzählungen und Essays, Filmdrehbücher und Hörspiele. 1988 erhielt "dieser Meisterrealist vertrauter Umstände" (Die Zeit) den Heinrich-Böll-Preis, 2001 den Friedrich-Hölderlin-Preis, außerdem wurden ihm der Joseph-Breitbach-Preis und der Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik verliehen. Wellershoff lebt in Köln. Seine Werke sind in 15 Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter Wellershoff
- 2011, 512 Seiten, Maße: 12,1 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442743516
- ISBN-13: 9783442743513
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