Der Sommer am See
Der Sommer am SeevonRoxana Robinson
LESEPROBE
Das Haus war kühl und dunkel; es roch nach Holz. Isabel stellteihre
Sporttasche neben die Haustür. Ohne die unbekannten Zimmer aufbeiden
Seiten anzusehen, ging sie direkt den schwach erleuchteten Flurentlang
zur Tür am hinteren Ende, einem hellen Rechteck aus Licht. Sieschob
die Fliegentür auf, blieb stehen und blickte über die Veranda auf
den dahinter liegenden See.
Es war später Nachmittag. Der breite See war noch immer vollerLicht,
aber auf der anderen Seite, am westlichen Ufer, stieg eine Wandaus
Schatten empor. Das Wasser war ruhig, die Spiegelungen vollkommen
still: Dort lagen in silbrigen Echos die niedrigen, bewaldetenHügel,
die den See umschlossen, darüber der reine, indigofarbene Himmel.
Isabel hörte ihren Mann hinter sich näher kommen; seine Schritteklangen
hohl auf den nackten Fußbodendielen. Als er bei ihr war, sprachsie,
ohne sich umzudrehen.
»Es ist wunderschön.« Es war ihr erster Besuch hier; sie war erstseit
Februar mit Paul verheiratet, sieben Monate.
»Uns gefällt es«, sagte Paul. Er war in jedem Sommer seines Lebens
hergekommen, einundfünfzig Jahre lang. Er stand direkt hinterIsabel
und hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Hochgewachsen,aber
von leichtem Körperbau, langgliedrig und schlank, schien ihm jede
Masse zu fehlen. Seine Hände auf ihr waren fast schwerelos.
»Wir lassen besser die Fliegen draußen«, sagte er, und Isabel trat
gehorsam auf die Veranda; seine Hände blieben unbeholfen auf ihrliegen.
Die Außenwände von Acorn Cabin bestanden aus unbemalten Schindeln,
die silbergrau verblasst waren, nachdem ihnen jahrzehntelang dasWetter
der Adirondacks zugesetzt hatte. Jenseits des einfachen Geländers
der Veranda aus entrindetem, knorrigem Zedernholz fiel ein sanfter
Hang zum Wasser hin ab.
»Lass uns zum See gehen«, sagte Isabel. Sie hatten bei der Fahrtaus
New York den Tag im Wagen verbracht, und was sie jetzt wollte, war
Luft und Licht, offenes Wasser. Die Erkundung der dunklen Räumedes
Hauses konnte warten.
Paul ging auf einem schmalen Pfad durch Unterholz und junge Bäumevor
ihr her. Die Luft war trocken und süßlich und roch nachFarnkräutern.
Durch die Bäume hindurch konnte man ab und an einen Blick auf den
bleich und ruhig daliegenden See erhaschen. Man verlor ihnzwischen
Zweigen aus den Augen, entdeckte ihn dann wieder, immerglitzernder
und gewaltiger, und als sie schließlich um eine Ecke bogen und am
Ufer ankamen, breitete sich der See schimmernd und in voller Größe
vor ihnen aus. Hier unten an seinem Rand sah der See riesig aus;seine
immer noch strahlende Oberfläche wirkte erhaben und unberührt. Um
sie herum war Stille: Das schwache Rauschen von Luft, die sich in
den Baumwipfeln bewegt, mehr nicht. Es roch nach Sommer: nachBäumen,
Seewasser, Hitze.
»Dies ist der Himmel«, sagte Isabel. Ihre Stimme klang leise inder
großen Weite um sie herum.
Paul legte den Arm um sie. »Genau«, sagte er befriedigt. »Jetztwirst
du mich doch nie mehr verlassen?«
Diese Mischung aus Herzlichkeit und Absurdität brachte Isabel zumLachen.
Sie spürte eine Welle von Zuneigung in sich aufsteigen, dannaufflackernde
Hoffnung. »Vielleicht klappt es diesmal«.
Hoffnung war es, was Isabel in diese Ehe mitbrachte. Das war fastalles,
was sie hatte: Die Trauer schien selbst eine Art Tod zu sein. Zwei
schmerzliche Jahre hatten alle anderen Gefühle in ihr absterbenlassen.
Spürbar vergangen die Zeit, da Freude mühelos an die Oberflächeihres
Herzens gestiegen war und es erfüllt hatte. Die Trauer hatte sich
im Mittelpunkt ihres Lebens festgesetzt, und obwohl sie nichtlänger
durch sie hindurchstürmte und alles ertränkte und überwältigte,wie
sie es zu Anfang getan hatte, war sie nicht vorüber. Sie empfandimmer
noch die Öde, welche die Abwesenheit ihres Mannes in der Weltauslöste,
die Stille, die überall ohne seine Stimme herrschte. Den Schmerzdarüber,
ihm bestimmte Dinge nicht erzählen zu können: Dass sie ihnvermisste.
Dass sie sich nach ihm sehnte. Dass sie ihn immer noch liebte.Dass
sie ihn hasste, weil er nicht mehr da war.
Es hatte nicht den Anschein gehabt, als würde diese Trauer jeverschwinden,
doch nach zwei Jahren war sie schwächer geworden, und da hatte sie
sich entschlossen, nach vorn zu blicken und diese graue Landschaft
hinter sich zu lassen. Was sie für Paul empfand, war ruhiger alsdas,
was sie für Michael gefühlt hatte, doch alles in ihrem Lebenschien
ruhiger zu sein. Diese Art von Emotion - still und gedämpft - war
ihr geblieben. Sie war siebenundvierzig. All die anderen Dinge -Wildheit
und Seligkeit und Verzweiflung, Wut, die Dringlichkeit von Sex -lagen
hinter ihr. Sie erwartete sie nicht mehr. Jetzt war sie aufLoyalität
und Zuneigung aus. Ein großer Teil der Ehe besteht ausPartnerschaft;
sie wollte im Alter nicht allein sein. Im Alter wollte siejemanden
haben, dem sie vertraute, den sie kannte. Für Paul empfand sieeine
starke Zärtlichkeit, und sie wusste, dass sich dieses Gefühl noch
steigern würde. Zuneigung vertieft sich im Laufe der Zeit und nach
überstandenen Krisen; Mitgefühl wird mit den Jahren stärker. WasIsabel
sich wünschte, war etwas Ruhiges, Dauerhaftes, Häusliches. Einenstillen
Ort, an dem sie sich sicher fühlen konnte. Von Stürmen hatte siegenug.
Sie lehnte sich gegen Paul. Sie versuchte immer noch, seinenKörper
kennen zu lernen, ihrem eigenen beizubringen, ihn zu erwarten. Es
gab Momente, in denen er sich immer noch fremd anfühlte: zu groß,
zu knochig, um sich wohl zu fühlen. Sie neigte den Kopf nachhinten
gegen Pauls Brust und blickte direkt nach oben auf das weiteHimmelsgewölbe.
© btb Verlag
Übersetzung: Hans-Joachim Maass
- Autor: Roxana Robinson
- 2004, 442 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übers. v. Hans-Joachim Maass
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 344273231X
- ISBN-13: 9783442732319
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