Der Sturm
Ein einsam gelegener Hof in Schweden: In der Scheune liegt ein Toter. Ronny Gustafsson, der für die Lokalzeitung arbeitet, entdeckt mehr als gut für ihn ist. Plötzlich steht er zwischen den Fronten einer Verschwörung, die sogar die vom...
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Produktinformationen zu „Der Sturm “
Ein einsam gelegener Hof in Schweden: In der Scheune liegt ein Toter. Ronny Gustafsson, der für die Lokalzeitung arbeitet, entdeckt mehr als gut für ihn ist. Plötzlich steht er zwischen den Fronten einer Verschwörung, die sogar die vom schwedischen Wald aus die Wallstreet ins Schwanken bringt.
Klappentext zu „Der Sturm “
Ein Wald, ein Fluss, ein einsamer Hof im Frühling: In der Scheune liegt ein Toter, der schon als Lebender nicht hierhin gehörte. Aber wer oder was ist überhaupt noch an seinem Ort?, fragt sich Ronny Gustafsson, der für die Lokalzeitung den Süden Schwedens beobachtet und dabei mehr entdeckt, als gut für ihn ist. Plötzlich steht er zwischen Fronten einer Verschwörung, die vom schwedischen Wald aus die Wallstreet ins Schwanken bringt. 'Der Sturm' ist ein Kriminalroman voller Poesie und Landschaft, voller Verbrechen und Spannung, ein Buch über Schweden und die Welt, hart an der Gegenwart und ein literarisches Werk zugleich.Lese-Probe zu „Der Sturm “
Der Sturm von Per JohanssonEins
Bertil Cederblad hatte die Getreide- und Rübenfelder Südschonens hinter sich gelassen. Die Reichsstraße 23 hinter dem ehemaligen Nonnenkloster von Bosjö war in den Wald eingetaucht, die Straße lag trocken vor ihm, und er dachte an die Anemonen. Wenn der ganze Boden unter den Bäumen von einem Teppich aus kleinen weißen Blüten bedeckt wird, ist das eigentlich der schönste Augen blick des Jahres. Unter diesem hohen, klaren, blauen Himmel ist die Luft dann ganz durchsichtig. Ein Versprechen, dachte er, so groß und schön, dass es niemals erfüllt wer den könne, eine Welt aus Blumen und Blau, und noch tragen die Birken nur kleine grüne Spitzen, und die Buchen sind kahl, so wie die Eichen auch. Fast ist es noch Winter, und dann kommt dieser überwältigende Reichtum und ist plötzlich verschwunden, wenn der Frühling wirklich einzieht. Und so schön er auch sein wird, so schön wie das plötzliche Aufgehen dieser unendlich vielen kleinen Blumen auf einem noch ganz braunen Boden kann er gar nicht mehr werden. So dachte Bertil Cederblad, als er, ein Mann von sechzig Jahren, an einem Samstag Ende April in seinem dunkelrot glänzenden Volkswagen Golf zum Hof seiner Großeltern fuhr. Das alte Bauernhaus stand seit dreißig Jahren meistens leer. Es hatte sich, wie so viele dieser Höfe in der schwedischen Provinz, in ein eher schlichtes Ferienhaus verwandelt.
... mehr
Der Wald wurde dichter, und es waren jetzt nicht mehr Eichen und Buchen, von denen die Straße gesäumt wurde, sondern Fichten. Die Anemonen blieben, spärlicher zwar, aber immer noch allgegenwärtig, spiegelten sich in Tausenden und Abertausenden von Wasserlachen, die der Schnee zurückgelassen hatte, und leuchteten, so als sollte nun ein Sommer kommen, schöner, als je ein Sommer gewesen war. Kurz vor Hässleholm verließ Bertil Cederblad die große Straße und bog nach Norden ab, um dann, hinter Vittsjö, auf kleinen, gewundenen, aber immerhin noch asphaltierten Wegen immer tiefer in einen Wald einzudringen, der nur noch gelegentlich von einer Rodung unterbrochen wurde, von einer freien Fläche mit ein paar Feldern und Wiesen, die von roh gefügten Steinmauern eingefasst waren, mit einem Holzhaus, das rot und mit weißen Eckpfosten unter hohen Bäumen stand. Wie viele von diesen Höfen nicht mehr bewohnt waren! Dann wieder Wald, Bäche, Entwässerungsgräben, kleine Flüsse, die hoch angeschwollen waren nach einem langen Winter und die umliegenden Böden nun in Sümpfe verwandelten.
Ein paar Kilometer vor Visseltofta weitete sich die Landschaft. Der Helgeå schlängelte sich hier durch feuchte Wiesen, ein kleiner Fluss, der irgendwo in der Mitte Smålands entspringt, um durch Dutzende von Seen und weite Mäander zu fließen und endlich bei Kristianstad in der Ostsee zu münden. Oft säumt Schilf seinen Weg, im Sommer stehen die Kühe im Ufermatsch, und die Blinker der Angeln bleiben an den langen Stielen der Seerosen hängen. Bertil Cederblad ließ auch den kleinen Ort mit seiner weißen Kirche hinter sich, bog in eine Schotterstraße ein und fuhr ein, zwei Kilometer parallel zum Fluss. Dann ging es eine kleine Anhöhe hinauf, und dort, unter ein paar großen Eichen und von weithin sichtbar, stand der Hof. Bertil Cederblad setzte den Golf mit Schwung in das alte Unkraut unter der Linde vor dem Wohnhaus. Er hätte »mein Hof« sagen können, denn er gehörte ihm. Aber er tat es nie. Es war immer nur von »gården« die Rede, von »dem Hof«, und das lag an seinen Großeltern, heute arm wirkenden Leuten, die Haus, Land und Wald bis in die siebziger Jahre bewirtschaftet hatten. Das lag an der ganzen Geschichte der Familie, die sich im achtzehnten Jahrhundert hier niedergelassen hatte, um dieses Land zu bewirtschaften und dieses Haus zu bauen, und die jetzt ihrem Ende entgegenging.
Äcker und Wiesen waren verpachtet, an einen Bauern aus der Nachbarschaft, der sich selbst als einen Verwandten wahrnahm. Aber ist ein Großcousin überhaupt noch ein Verwandter? Den Wald betreute eine große Firma, die für diese Arbeit mehr Geld nahm, als die Forstwirtschaft je abwerfen konnte. Bertil Cederblad hatte keine Kinder, seine Frau hatte sich von ihm getrennt, schon vor Jahren, weil sie, wie sie behauptete, noch so viel erleben wollte, und er wollte das nicht. Dieser alte Hof war sein Zuhause, auch wenn er den größten Teil des Jahres dort nicht wohnte, und nie hätte er daran gedacht, ihn zu verkaufen. Der Nachbar, der Großcousin, war allerdings ein fürsorglicher Mann: Den alten Volvo, den Bertil Cederblad mit Haus und Hof von seinem Großvater geerbt hatte, einen Duett aus dem Jahr 1964, rot, mit weißen Fensterrahmen, noch immer fahrtüchtig, noch immer angemeldet, hatte er aus der Winterverwahrung in der geheizten Maschinenhalle schon auf seinen Stammplatz im Schuppen neben der Scheune gefahren. Bertil Cederblad liebte dieses Auto.
Er sperrte die Tür des Vorhauses auf und dann die Küchentür. Ein kalter, muffiger Geruch schlug ihm entgegen, ein Geruch wie von feuchten Wänden, alten Zeitungen und Mäusekot. Er riss die Fenster auf, ging in den Keller, schloss einen Schlauch an die Wasserpumpe an und zog ihn nach draußen, auf die abschüssige Wiese, wo einst die Johannisbeeren und der Rhabarber gewachsen waren und wo nun bald die Brennesseln sprießen würden. Monatelang hatte das Wasser im Brunnen gestanden, es musste jetzt hinaus und durch frisches Wasser ersetzt werden, genauso wie das Wasser in der Toilette, dem Bertil Cederblad bei seinem letzten Besuch im Herbst Glykol hinzugefügt hatte, damit es nicht einfror, obwohl er genau wusste, dass er das nicht durfte. Denn wo ging das Glykol hin, wenn nicht in die Sickergrube hinter dem Haus und dann weiter ins Grundwasser?
Ein Auto fuhr vorbei, ein kleiner Kombi mit einer deutschen Nummer, und Bertil Cederblad winkte den beiden Passagieren zu, obwohl er sie nicht kannte. Sie winkten zurück, offenbar froh, gegrüßt zu werden. »Wir sind ja auf dem Land«, dachte er und vermutete, dass diese Deutschen zu einem der alten »torp« im Wald gehörten, einem der vielen Tagelöhnerhäuser, die in den vergangenen Jahren in dieser Gegend von Dänen oder Deutschen gekauft worden waren und ohne deren bedingungslosen Einsatz längst unter Brombeeren und Ackerwinden verschwunden wären. Der kleine Baumarkt in Osby, »Järnia«, schien hauptsächlich von diesen seltsamen Neusiedlern zu leben, friedlichen Menschen mittleren Alters meistens, die nach einem bescheidenen, aber festen Platz im Leben suchten, ganz für sich allein, und wenn sie ihn gefunden zu haben meinten, dauerte es meistens nicht lange, bis sich ein solches Haus in ein kleinbürgerliches Paradies verwandelte, mit hellen Vorhängen, Kaffeemaschine und einer oft gut versteckten Parabolantenne.
»Manchmal«, dachte Bertil Cederblad, »kann die Ruhe hier fast unerträglich sein«, und er erinnerte sich an eine windstille Nacht im vergangenen Sommer, als er mitten in der Nacht aufwachte und die drei Glocken von St. Petri zu hören glaubte, der großen alten Backsteinkirche in Malmö. Ihr Geläut weckte ihn gewöhnlich in seiner Wohnung, vor allem am Sonntagmorgen, wenn er für so viel Lärm noch gar nicht bereit war. Damals hatte er, noch im Halbschlaf, große Angst bekommen und zuerst geglaubt, es seien tatsächlich diese Glocken, die da in tiefster Finsternis Alarm gaben, und es sei nun Krieg oder es habe eine Naturkatastrophe gegeben, von der er hier, mitten im Wald, nur nichts mitbekommen habe. Er war erst wieder eingeschlafen, als der Morgen gegraut und die Vögel zu singen begonnen hatten, der Rotschwanz zuerst und dann all die anderen. Aber diese Sinnestäuschung war ihm im Gedächtnis geblieben, er war ja doch sehr erschrocken, und fast immer, wenn er an den Hof dachte, kam sie ihm nun in den Sinn. »Ich bin zu viel allein«, sagte er sich dann und sehnte sich zurück in die Zeit, als seine Frau noch bei ihm gewesen war, aber nicht der Frau wegen, sondern weil er damals nicht so einsam gewesen war. Er hatte jetzt das Radio eingeschaltet und hörte Radio Kristianstad, die staatliche Rundfunkstation für den Norden und Osten Schonens, die von den Bauern auf ihren Traktoren in vollverglasten, klimatisierten Führerhäuschen empfangen wurde und hauptsächlich die Lieder längst vergangener Hitparaden sendete, aber eben auch den regionalen Wetterbericht. Es sollte schön bleiben in den kommenden Tagen.
Brombeeren und Brennnesseln gab es übrigens auch bei ihm, und gar nicht wenig, auch Schachtelhalme, Wegerich, Disteln und noch viel mehr Pflanzen, die jeder Gärtner sofort herausgerissen hätte. Das ganze Unkraut zog sich an den roten hölzernen Wänden der beiden Scheunen empor, die zusammen mit dem Wohnhaus ein offenes Geviert bildeten. Nirgends floss in diesem Hof das Wasser ausreichend ab. Längst hätte er Regenrinnen installieren oder wenigstens den Boden um die Scheunen herum ausheben müssen. Aber die Fläche zwischen Wohnhaus und Scheunen hatte sich in eine Unkrautwiese verwandelt, man hätte sie systematisch freilegen und die Bauten mit ein paar dicken Stämmen sichern müssen. Dafür schien es jetzt zu spät zu sein. Die Balken und Bretter, aus denen die Scheunen errichtet waren, faulten vom Boden bis mindestens einen Meter hinauf, und das Moos wuchs an den Außenseiten empor. Auch schienen die Scheunen immer schiefer zu stehen, und schon im vergangenen Jahr war es so gewesen, dass das Tor zur ehemaligen Wagenremise so krumm in seinen verzogenen Angeln hing, dass es sich nur noch unter großen Schwierigkeiten öffnen ließ.
»Ob der Dachs wohl noch da ist?«, fragte sich Bertil Cederblad. Vor zwei oder drei Jahren hatte er zum ersten Mal das große Loch gesehen, das offenbar ein Tier in den Boden des früheren Gerätelagers neben der Remise gegraben hatte. Der Nachbar, eben jener Großcousin, hatte sich das Loch angeschaut, sofort auf einen Dachs getippt und ihm dringend geraten, das Tier töten zu lassen, mit welchen Mitteln auch immer. Denn ein Dachs, so seine Rede, baue ein weitverzweigtes System von Tunneln mit erheblichem Umfang, und es geschehe immer wieder, dass ein Haus so sehr unterhöhlt werde, dass es schließlich zusammenbreche. Auch sei ein Dachs meistens nicht allein, sondern lebe in einer unter Umständen großen Familie, was unabsehbaren Schaden zur Folge haben könne. Dann hatte Bertil den Dachs einmal gesehen, als er spät an einem Sommerabend mit einem Glas Wein und einem Buch auf der Veranda saß, ein fast einen Meter langes, beinahe dreieckiges Tier, ein schönes, schwarz und weiß gestreiftes Wesen, das, am Boden schnüffelnd, erstaunlich flink über den Innenhof trabte. Der Dachs hatte Bertil gefallen, und ein wenig Angst hatte er auch gehabt vor dem großen Tier, und er hatte sich daran erinnert, dass der Großvater ihn gewarnt hatte. Wenn der Dachs zubeiße, hatte er gesagt, beiße er immer so fest zu, bis er den Knöchel splittern höre. Er, der Großvater also, lege deswegen immer ein paar Eierschalen oder ein Stück Knäckebrot in die Schäfte seiner Gummistiefel, wenn er in die Nähe eines Dachsbaus gehe. Bertil Cederblad wusste nicht mehr genau, ob der Großvater so etwas tatsächlich getan hatte.
Das Dach über der Remise hatte sich ein großes Stück weiter gesenkt und zur Nachbarscheune geneigt. Der Winter war lang und hart gewesen, dachte Bertil und die Schneemassen hatten das alte, morsche Gebäude wohl beinahe erdrückt. Das Tor stand nun einen halben Meter offen und war in der Mitte geborsten. Vielleicht müsse er nun doch einen Zimmermann kommen lassen, überlegte Bertil, wenigstens um einen Kostenvoranschlag zu bekommen. Dann könne man ja sehen. Aber so einfach die Scheunen umfallen oder in sich zusammensinken zu lassen, das gehe ja nun auch nicht, schon des Windschutzes wegen oder der Gemütlichkeit. Und überhaupt habe es sie ja immer schon gegeben, jedenfalls auf den ältesten Fotografien der Verwandtschaft aus den zwanziger Jahren. Bertil nahm die alte, rostige Schaufel, die noch vom vergangenen Sommer - oder war es der vorvergangene? - an der Scheunenwand lehnte, griff sie, des Dachses wegen, und ging hinüber zum leicht geöffneten Tor der Remise. Als er näher kam, nahm er einen strengen Geruch wahr, nicht stark, aber unangenehm und deutlich. Ein Tier, dachte er, der Dachs, und griff die Schaufel fester.
Es dauerte einen Augenblick, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht in der Scheune gewöhnt hatten. Ganz hinten stand, wie immer, der alte Traktor-Anhänger mit seinem hölzernen Aufbau, ein großes Fahrzeug, das keiner mehr benutzen würde und das doch von Jahr zu Jahr weiter verwahrt wurde. Aber davor lag etwas auf dem Boden, etwas Weiches und Dunkles. Es war viel größer als ein Dachs und bewegte sich nicht. Bertil drückte das Tor mit dem Rücken nach hinten, so dass ein wenig mehr Licht hineinfiel.
Da lag etwas, was einmal ein Mensch gewesen war, aber was nun zerteilt, auseinandergerissen und zerfetzt war, Knochen, Knorpel, Kleidungsreste. Nur die Schuhe schienen ganz erhalten zu sein: schwarze, noch glänzende Brogues. In den eleganten Schuhen steckten ein Paar abgenagte Beine. Ein schwerer, dumpfer Schrecken legte sich über Bertil Cederblad. In seinen Ohren dröhnten die Glocken von St. Petri. Langsam wich er zurück, ließ die Schaufel fallen, wankte zum Wohnhaus, setzte sich vor den alten Sekretär, griff das Telefon, mit beiden Händen, am ganzen Körper zitternd, und wählte den Notruf.
Zwei
Als Ronny Gustavsson die Sirene des Polizeiwagens hörte, am frühen Nachmittag dieses Samstags im April, lag er, ein großer, dünner, blonder Mensch in einem Bademantel aus billigem grauen Frottée, auf dem Sofa. Man hätte ihn, mit seinen klaren Zügen, der hohen Stirn, den starken Wangenknochen und den blauen Augen, für einen gutaussehenden Mann halten können. Er hatte lange geschlafen und war dann, ungeduscht, mit einem Becher Kaffee und wirren Haaren, in den technischen Feinheiten seiner Stereoanlage versunken, um, wieder einmal, die akustische Anpassung an den Raum zu verbessern. Eine seiner ältesten Schallplatten hatte er dazu gewählt, »The Freewheelin' Bob Dylan«. Er hatte sich dem großen Meister immer verwandt gefühlt und gehofft, von dessen Lässigkeit würde sich ein Bruchteil auf ihn übertragen. Als er aber dieses »Meisterwerk der Musikgeschichte«, wie er sagte, einmal einer jungen Frau vorstellte, auf die er ein begehrliches Auge geworfen hatte, wurde er als »seniler Studienrat« verlacht. Das Urteil hatte ihn hart getroffen. Lange Zeit danach hatte er jedes Gespräch mit jüngeren Menschen gemieden. Dabei war er selbst kaum geboren gewesen, als diese Schallplatte in die Welt gekommen war. Jetzt aber trafen ihn diese Songs wieder einmal direkt ins Herz, und bei dem Vers »remember me to one who lived there, she once was a true friend of mine« - »sie war mir einst als Freundin treu« - traten ihm, wie immer, ein paar Tränen in die Augen, und er dachte, auch er hätte gern einmal eine solche wahre Freundin gehabt. Aber da war keine gewesen, jedenfalls keine, an die er sich mit so viel Gefühl hätte erinnern können, und das tat weh, auch weil die eine, die er sich gewünscht hatte und vielleicht immer noch wünschte, bestimmt nicht einmal daran dachte.
Nun ging die Sirene, fuhr mit einem Höllenlärm heraus aus der Garage der Gemeindeverwaltung von Västra Storgatan und raste gen Norden. Ein Unfall, dachte Ronny und wusste, dass die kommenden Stunden nicht mehr ihm gehören sollten. Vermutlich auf der Reichsstraße 19. Es hatte nicht viel geholfen, dass in der Mitte der Straße Spannseile gezogen worden waren, die Leute fuhren auf der schnurgeraden Strecke trotzdem viel zu schnell. Aber dann hörte er, wie das Geheul nicht im Osten verschwand, dort, wo die große Straße entlangführte, sondern im Westen, in Richtung Visseltofta oder Verum. »Da ist doch nichts«, dachte er weiter, aber in diesem Augenblick war er schon auf dem Weg in die Dusche. Es war ein Glück oder, je nachdem, wie man es nahm, ein besonderes Pech, dass er, der für Osby zuständige Lokalreporter von »Skåneposten«, der Regionalzeitung für die Welt zwischen Kristianstad, Osby und Höör, gleich gegenüber von »kommunhuset«, der Gemeindeverwaltung, wohnte, wo auch die Polizeistation untergebracht war. Und doch, vermutlich konnte man die Sirene des Polizeiwagens, wenn sie irgendwo losging, an jeder Stelle in dieser Stadt hören, so klein war Osby mit seinen siebentausend Einwohnern. Billig jedenfalls war seine Wohnung, die in einem mit roten Klinkern verschalten dreistöckigen Mietshaus aus den sechziger Jahren lag, mit Blick auf den mit grauen Platten in Waschbeton ausgelegten Marktplatz, auf dem nie ein Markt stattfand, und auf einen rotweißen Kiosk, der sich »Texas Grill und Pizzeria« nannte, Hamburger und Würstchen verkaufte und wo sich, in der wärmeren Jahreszeit, die Jugend mit ihren Mopeds und umgebauten alten Volvos traf.
Als Ronny nach knapp drei Minuten aus der Dusche kam, war er immer noch mürrisch, unwillig und nicht wirklich bereit, das Schicksal des Tages anzunehmen. Da klingelte sein Mobiltelefon. Leif Karlsson war am Apparat, ein Kollege aus der Redaktion in Hässleholm, der beneidenswert gute Verbindungen zur Polizei besaß. »Mach dich bitte auf den Weg, aber schnell«, sagte er, »irgendwo bei Visseltofta hat man eine Leiche gefunden. Die Kriminalpolizei ist auch schon unterwegs.« Ronny kannte Visseltofta, das Straßendorf, die alte Brücke über den Fluss Helgeå, die Kirche mit ihrem Friedhof dahinter, das aufgegebene Sägewerk, aus dem jemand, mit wenig Geld, in den vergangenen Jahren versucht hatte, eine Spukstadt wie im Wilden Westen zu machen, und das jetzt als Ruine dalag. Visseltofta war ein idyllischer kleiner Ort und wurde, wie viele kleine Dörfer in den Wäldern im Norden Schonens, nunmehr Haus für Haus von seiner Bevölkerung aufgegeben.
»Weißt du, wo genau?« - »Nein, aber das findest du heraus. Wenn es stimmt, hast du morgen einen Platz auf der Eins. Also los.« Fünf Jahre schon arbeitete Ronny bei dieser Zeitung, und eine Leiche hatte in dieser Zeit keiner gefunden. Einen Mord, so etwas passierte vielleicht in Kristianstad, aber nicht hier draußen auf dem Land. Schlägereien hatte es hier gegeben, vor allem unter jungen Einwanderern und manchmal auch mit ihnen. Einmal war eine Frau von ihrem eifersüchtigen Ehemann mit dem Küchenmesser bedroht worden. Ein anderes Mal hatte ein betrunkener Jungbauer auf einem Sommerfest versucht, einem anderen mit der Axt den Schädel einzuschlagen, weil dieser ihn einen »Schwulen« genannt hatte. Vergewaltigungen kamen vor, in meistens unklaren Verhältnissen, bei denen wiederum der Alkohol eine große Rolle spielte. Ja, und Unfälle, erstaunlich viele Unfälle eigentlich, dafür, dass die Leute so schnell gar nicht fahren durften, und mit nichts beschäftigte sich die Leserschaft von »Skåneposten« lieber als mit Nachrichten von Unfällen. Das bewiesen die Klick-Zahlen der Online-Ausgabe. Mehr aber war in den vergangenen Jahren nicht geschehen. Ein Glück, dachte Ronny, als er in seine Jeans schlüpfte, dass die Zeitung am Sonntag nicht erscheint. Bis morgen Nachmittag, dachte er weiter, werde er schon genug zu schreiben finden. Hastig trank er noch einen Schluck kalten Kaffee aus der halbleeren Tasse und zog die Tür hinter sich zu.
Eine kleine, fast gerade Straße führt von Osby nach Visseltofta. Nur knapp zehn Minuten brauchte Ronny in seinem alten, rostigen Toyota Corolla für die Strecke, und dabei fuhr er nicht einmal zu schnell. »She once was a true friend of mine«, dieser Vers hatte sich in seinen Kopf gebohrt und eine Endlosschleife gebildet. Als er das Dorf erreichte, war niemand zu sehen. Langsam fuhr er die Häuserzeile entlang bis zur Kirche, wendete auf dem Vorplatz, als nirgendwo eine Ansammlung von Menschen zu sehen war, und fuhr zurück. In einem Hof erblickte er einen Mann, der im ersten großen Sonnenschein des Frühlings in seinem Vorgarten ein Kindertrampolin aufbaute. Ob er vielleicht einen Polizeiwagen gesehen habe, vielleicht mit angeschalteten Sirenen? Der Mann schaute kurz auf und wies dann nach Norden, am Fluss entlang. »Jo då«, sagte er, »sie fuhren wohl Richtung Hallaryd.« Ronny schlug die Schotterstraße ein, erreichte die Anhöhe, auf der Bertil Cederblads Hof lag, der Weg machte dort einen Bogen - und da stand der weißgelbblaue Volvo-Kombi der Polizei mit eingeschaltetem Blaulicht quer auf der Straße. Dahinter hatte sich, ein seltsamer Anblick in dieser ländlichen Umgebung, fast so etwas wie ein Stau gebildet: hinter der Scheune, halb auf dem frischgepflügten Acker, ein zerbeulter Saab, der vermutlich einem Bauern gehörte, dahinter ein kleiner deutscher Skoda-Kombi, mit dessen Fahrer ein Polizist sprach, dann ein Tanklastwagen von »Skånemejerier«, der wahrscheinlich auf seiner täglichen Tour war, um die Milch von den Höfen zu holen. Unter der Linde aber stand ein Polizist und schaute auf die Straße, als erwarte er etwas Großes und Bedeutendes.
Ronny setzte sein Auto gleichfalls auf den Acker und ging auf den Polizisten unter dem Baum zu.
»Hej«, sagte er, »wartet ihr auf die Kollegen?« Der Polizist schaute Ronny kurz und steif an. Dann nickte er, unfreundlich.
»Sie sind unterwegs. Müssten in einer Viertelstunde hier sein.« In Osby gab es schon seit Jahren keine Kriminalpolizei mehr. Die ganze Abteilung war jetzt in Kristianstad zu Hause, eine Stunde südöstlich, wenngleich ein paar Kriminalpolizisten in Hässleholm arbeiteten, und dahin war es nur eine halbe Stunde. Aber auch diese halbe Stunde musste gefahren werden.
»Ihr habt eine Leiche, hörte ich. Wo ist sie denn?«
»Da drüben. In der Scheune.« Ronnys Freundlichkeit prallte an diesem Polizisten ab.
»Kann ich sie sehen, bitte?«
»Nein. Spurensicherung. Da darf keiner hin, bis der Kommissar da ist. Und dann gilt: Schutzkleidung.«
»Was meinst du? Hat sich da einer umgebracht?«
»Sieht nicht so aus.«
»Ich schau mal.« Ronny tat einen Schritt in Richtung Scheune. Der Polizist hob die Arme, um ihn am Weitergehen zu hindern. Nein, noch ein Schritt, und der Polizist wäre handgreiflich geworden. Vor dem Eingang zum Wohnhaus, auf einer steinernen Stufe, sah Ronny einen älteren Herrn sitzen, der sich immer wieder mit beiden Händen über das Gesicht fuhr. Neben ihm, an ein eisernes Geländer gelehnt, stand ein zweiter Mann, in grüner Latzhose, mit Schirmmütze und in Gummistiefeln. Ein Bauer, vermutlich ein Nachbar, der beruhigend auf den Sitzenden einredete. Rechts daneben ein fast neuer, dunkelroter Volkswagen Golf. Ronny wendete und ging hinüber zu den beiden. Der Polizist verwehrte es ihm nicht.
»Hej, was ist passiert?« Ronny bemühte sich, mitfühlend zu klingen.
Der ältere Herr schaute verwirrt auf, mit flackernden Augen, fuhr sich mit einer Hand wieder über das Gesicht und wollte sich gerade einen Ruck geben, als ihm der Bauer zuvorkam.
»Bertil hat in seiner Scheune eine Leiche gefunden.« Der Bauer hatte ungewöhnlich große, ja riesenhafte Hände.
»Jemanden, den ihr kennt?«
»Nein, keiner von hier. Ist aber schwer zu sagen, so wie die Leiche aussieht. Aber solche Schuhe hat hier keiner.«
»Was ist denn mit der Leiche?«
»Die Dachse. Sie liegt neben einem Dachsbau. Muss ein Fest für die Tiere gewesen sein. Waren wohl gerade aufgewacht, aus dem Winterschlaf, so richtig hungrig, und da lag dann das Futter, direkt vor dem Ausgang. Komm, schau dir das an.«
Der Bauer ging am Schuppen mit dem Volvo Duett vorbei, dann hinüber zur Scheune und winkte Ronny mitzukommen. Der Polizist hob sofort die Hand.
»Lass sein«, sagte der Bauer, der den Polizisten zu kennen schien. Die Hand sank. Der zweite Polizist war unterdessen zum Wagen gegangen, hatte eine Rolle mit einem blauweißen Kunststoffband und ein gelbes Schild mit der Aufschritt »Abgesperrt« hervorgeholt. Sein Kollege, der dem Bauern offenbar nicht zu widersprechen wagte, wandte sich um und winkte das deutsche Auto und den Tankwagen vorbei. Ronny trat zum offenen Tor, nahm einen strengen Geruch wahr, blickte in das Halbdunkel - und musste sich, kreidebleich, am Arm des Bauern festhalten.
»Liegt er schon lange hier?« Es war einige Zeit vergangen, bis Ronny wieder sprechen konnte.
»Weiß ich nicht. Glaube ich aber nicht. Aasfresser sind schnell. Können Füchse sein, aber auch Dachse. Oft kommen Füchse und Dachse zusammen. Nach einer Nacht ist manchmal nur noch das Skelett übrig. Und der hier hat noch Fleisch.«
Ronny spürte, wie eine starke Übelkeit in ihm hochstieg, konzentrierte sich mühsam und sah halb benommen einen abgenagten Schädel, einen wirren Haufen aus weißroten Fleischresten und Knochen, aus Stofffetzen, die einmal ein dunkelblaues Sakko, eine graue Flanellhose, ein hellblaues Hemd gewesen sein mussten - und ein Paar jetzt verstaubter, aber offensichtlich noch vor kurzem gut geputzter Schuhe, in denen die Unterschenkelknochen staken. Der Bauer zog ihn fort. Ronny ließ sich zur Verandatreppe zurückführen. Er ging mechanisch stapfend, es war ihm noch speiübel und gleichzeitig kam er sich vor wie ein Automat, dem viele Fragen auf einmal eingegeben wurden: Konnte es sein, dass die Schuhe noch nach Schuhcreme rochen? Kannte er diesen Geruch? Konnte dieser Haufen ein vollständiger Mensch gewesen sein?
»Was machst du eigentlich hier?«
»Oh, Entschuldigung, ich komme von Skåneposten.«
Der ältere Herr blickte auf. »Das hätte ich mir denken können«, sagte er.
»Ist das dein Hof?«, fragte Ronny. »Entschuldige, dass ich frage.« Der ältere Herr nickte.
»Dein Sommerhaus?«
»Der Hof der Familie. Seit 1762.«
»Und wo lebst du jetzt, wenn ich fragen darf?«
»In Malmö. Und darf ich fragen, warum dich das interessiert? « Ronny antwortete nicht, sondern versuchte jetzt, ein richtiger Reporter zu sein, indem er eine Gegenfrage stellte.
»Ist das dein Auto?«
»Der Golf?«
»Nein, der Duett.«
»Ja, auch.«
»B 18 Motor, mit 75 PS?«
»Ja«, antwortete Bertil Cederblad, und für einen kurzen Augenblick schien er die Leiche vergessen zu haben, »die Maschine kriegt man nicht kaputt.«
»Ich hatte früher auch mal so einen Volvo, einen Buckel von 1953, ein schönes Ding. Aber die Bodenplatte war durchgerostet.« Dann schwieg Ronny und schaute auf Wiese und Wald. »She once was a true friend of mine.« Er wollte nicht aufdringlich sein. Aber er brauchte eine Geschichte. Er blickte sich um, sah die geöffneten Fenster des Wohnhauses, den Schlauch, der in die Wiese hinausführte, und die Schaufel, die mitten auf dem Hof lag. Zusammen ergaben diese Dinge eine Folge von Ereignissen. Er sprach den Bauern mit den großen Händen an:
»Du hast die Polizei gerufen, richtig?«
»Nein, das war Bertil. Ich schaue manchmal nach dem Hof, wenn er nicht da ist. Wir sind ja verwandt. Früher gehörten die fünf Höfe hier zusammen, alles Familie. Und dann hat Bertil mich angerufen. Der Dachs unter der Scheune, das ist nicht gut, der muss weg. Es können ja viele sein, und auch Füchse. Man weiß es ja nicht.«
»Seltsam, dass da einer kommt und einem einfach eine Leiche in die Scheune legt.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Der Wald wurde dichter, und es waren jetzt nicht mehr Eichen und Buchen, von denen die Straße gesäumt wurde, sondern Fichten. Die Anemonen blieben, spärlicher zwar, aber immer noch allgegenwärtig, spiegelten sich in Tausenden und Abertausenden von Wasserlachen, die der Schnee zurückgelassen hatte, und leuchteten, so als sollte nun ein Sommer kommen, schöner, als je ein Sommer gewesen war. Kurz vor Hässleholm verließ Bertil Cederblad die große Straße und bog nach Norden ab, um dann, hinter Vittsjö, auf kleinen, gewundenen, aber immerhin noch asphaltierten Wegen immer tiefer in einen Wald einzudringen, der nur noch gelegentlich von einer Rodung unterbrochen wurde, von einer freien Fläche mit ein paar Feldern und Wiesen, die von roh gefügten Steinmauern eingefasst waren, mit einem Holzhaus, das rot und mit weißen Eckpfosten unter hohen Bäumen stand. Wie viele von diesen Höfen nicht mehr bewohnt waren! Dann wieder Wald, Bäche, Entwässerungsgräben, kleine Flüsse, die hoch angeschwollen waren nach einem langen Winter und die umliegenden Böden nun in Sümpfe verwandelten.
Ein paar Kilometer vor Visseltofta weitete sich die Landschaft. Der Helgeå schlängelte sich hier durch feuchte Wiesen, ein kleiner Fluss, der irgendwo in der Mitte Smålands entspringt, um durch Dutzende von Seen und weite Mäander zu fließen und endlich bei Kristianstad in der Ostsee zu münden. Oft säumt Schilf seinen Weg, im Sommer stehen die Kühe im Ufermatsch, und die Blinker der Angeln bleiben an den langen Stielen der Seerosen hängen. Bertil Cederblad ließ auch den kleinen Ort mit seiner weißen Kirche hinter sich, bog in eine Schotterstraße ein und fuhr ein, zwei Kilometer parallel zum Fluss. Dann ging es eine kleine Anhöhe hinauf, und dort, unter ein paar großen Eichen und von weithin sichtbar, stand der Hof. Bertil Cederblad setzte den Golf mit Schwung in das alte Unkraut unter der Linde vor dem Wohnhaus. Er hätte »mein Hof« sagen können, denn er gehörte ihm. Aber er tat es nie. Es war immer nur von »gården« die Rede, von »dem Hof«, und das lag an seinen Großeltern, heute arm wirkenden Leuten, die Haus, Land und Wald bis in die siebziger Jahre bewirtschaftet hatten. Das lag an der ganzen Geschichte der Familie, die sich im achtzehnten Jahrhundert hier niedergelassen hatte, um dieses Land zu bewirtschaften und dieses Haus zu bauen, und die jetzt ihrem Ende entgegenging.
Äcker und Wiesen waren verpachtet, an einen Bauern aus der Nachbarschaft, der sich selbst als einen Verwandten wahrnahm. Aber ist ein Großcousin überhaupt noch ein Verwandter? Den Wald betreute eine große Firma, die für diese Arbeit mehr Geld nahm, als die Forstwirtschaft je abwerfen konnte. Bertil Cederblad hatte keine Kinder, seine Frau hatte sich von ihm getrennt, schon vor Jahren, weil sie, wie sie behauptete, noch so viel erleben wollte, und er wollte das nicht. Dieser alte Hof war sein Zuhause, auch wenn er den größten Teil des Jahres dort nicht wohnte, und nie hätte er daran gedacht, ihn zu verkaufen. Der Nachbar, der Großcousin, war allerdings ein fürsorglicher Mann: Den alten Volvo, den Bertil Cederblad mit Haus und Hof von seinem Großvater geerbt hatte, einen Duett aus dem Jahr 1964, rot, mit weißen Fensterrahmen, noch immer fahrtüchtig, noch immer angemeldet, hatte er aus der Winterverwahrung in der geheizten Maschinenhalle schon auf seinen Stammplatz im Schuppen neben der Scheune gefahren. Bertil Cederblad liebte dieses Auto.
Er sperrte die Tür des Vorhauses auf und dann die Küchentür. Ein kalter, muffiger Geruch schlug ihm entgegen, ein Geruch wie von feuchten Wänden, alten Zeitungen und Mäusekot. Er riss die Fenster auf, ging in den Keller, schloss einen Schlauch an die Wasserpumpe an und zog ihn nach draußen, auf die abschüssige Wiese, wo einst die Johannisbeeren und der Rhabarber gewachsen waren und wo nun bald die Brennesseln sprießen würden. Monatelang hatte das Wasser im Brunnen gestanden, es musste jetzt hinaus und durch frisches Wasser ersetzt werden, genauso wie das Wasser in der Toilette, dem Bertil Cederblad bei seinem letzten Besuch im Herbst Glykol hinzugefügt hatte, damit es nicht einfror, obwohl er genau wusste, dass er das nicht durfte. Denn wo ging das Glykol hin, wenn nicht in die Sickergrube hinter dem Haus und dann weiter ins Grundwasser?
Ein Auto fuhr vorbei, ein kleiner Kombi mit einer deutschen Nummer, und Bertil Cederblad winkte den beiden Passagieren zu, obwohl er sie nicht kannte. Sie winkten zurück, offenbar froh, gegrüßt zu werden. »Wir sind ja auf dem Land«, dachte er und vermutete, dass diese Deutschen zu einem der alten »torp« im Wald gehörten, einem der vielen Tagelöhnerhäuser, die in den vergangenen Jahren in dieser Gegend von Dänen oder Deutschen gekauft worden waren und ohne deren bedingungslosen Einsatz längst unter Brombeeren und Ackerwinden verschwunden wären. Der kleine Baumarkt in Osby, »Järnia«, schien hauptsächlich von diesen seltsamen Neusiedlern zu leben, friedlichen Menschen mittleren Alters meistens, die nach einem bescheidenen, aber festen Platz im Leben suchten, ganz für sich allein, und wenn sie ihn gefunden zu haben meinten, dauerte es meistens nicht lange, bis sich ein solches Haus in ein kleinbürgerliches Paradies verwandelte, mit hellen Vorhängen, Kaffeemaschine und einer oft gut versteckten Parabolantenne.
»Manchmal«, dachte Bertil Cederblad, »kann die Ruhe hier fast unerträglich sein«, und er erinnerte sich an eine windstille Nacht im vergangenen Sommer, als er mitten in der Nacht aufwachte und die drei Glocken von St. Petri zu hören glaubte, der großen alten Backsteinkirche in Malmö. Ihr Geläut weckte ihn gewöhnlich in seiner Wohnung, vor allem am Sonntagmorgen, wenn er für so viel Lärm noch gar nicht bereit war. Damals hatte er, noch im Halbschlaf, große Angst bekommen und zuerst geglaubt, es seien tatsächlich diese Glocken, die da in tiefster Finsternis Alarm gaben, und es sei nun Krieg oder es habe eine Naturkatastrophe gegeben, von der er hier, mitten im Wald, nur nichts mitbekommen habe. Er war erst wieder eingeschlafen, als der Morgen gegraut und die Vögel zu singen begonnen hatten, der Rotschwanz zuerst und dann all die anderen. Aber diese Sinnestäuschung war ihm im Gedächtnis geblieben, er war ja doch sehr erschrocken, und fast immer, wenn er an den Hof dachte, kam sie ihm nun in den Sinn. »Ich bin zu viel allein«, sagte er sich dann und sehnte sich zurück in die Zeit, als seine Frau noch bei ihm gewesen war, aber nicht der Frau wegen, sondern weil er damals nicht so einsam gewesen war. Er hatte jetzt das Radio eingeschaltet und hörte Radio Kristianstad, die staatliche Rundfunkstation für den Norden und Osten Schonens, die von den Bauern auf ihren Traktoren in vollverglasten, klimatisierten Führerhäuschen empfangen wurde und hauptsächlich die Lieder längst vergangener Hitparaden sendete, aber eben auch den regionalen Wetterbericht. Es sollte schön bleiben in den kommenden Tagen.
Brombeeren und Brennnesseln gab es übrigens auch bei ihm, und gar nicht wenig, auch Schachtelhalme, Wegerich, Disteln und noch viel mehr Pflanzen, die jeder Gärtner sofort herausgerissen hätte. Das ganze Unkraut zog sich an den roten hölzernen Wänden der beiden Scheunen empor, die zusammen mit dem Wohnhaus ein offenes Geviert bildeten. Nirgends floss in diesem Hof das Wasser ausreichend ab. Längst hätte er Regenrinnen installieren oder wenigstens den Boden um die Scheunen herum ausheben müssen. Aber die Fläche zwischen Wohnhaus und Scheunen hatte sich in eine Unkrautwiese verwandelt, man hätte sie systematisch freilegen und die Bauten mit ein paar dicken Stämmen sichern müssen. Dafür schien es jetzt zu spät zu sein. Die Balken und Bretter, aus denen die Scheunen errichtet waren, faulten vom Boden bis mindestens einen Meter hinauf, und das Moos wuchs an den Außenseiten empor. Auch schienen die Scheunen immer schiefer zu stehen, und schon im vergangenen Jahr war es so gewesen, dass das Tor zur ehemaligen Wagenremise so krumm in seinen verzogenen Angeln hing, dass es sich nur noch unter großen Schwierigkeiten öffnen ließ.
»Ob der Dachs wohl noch da ist?«, fragte sich Bertil Cederblad. Vor zwei oder drei Jahren hatte er zum ersten Mal das große Loch gesehen, das offenbar ein Tier in den Boden des früheren Gerätelagers neben der Remise gegraben hatte. Der Nachbar, eben jener Großcousin, hatte sich das Loch angeschaut, sofort auf einen Dachs getippt und ihm dringend geraten, das Tier töten zu lassen, mit welchen Mitteln auch immer. Denn ein Dachs, so seine Rede, baue ein weitverzweigtes System von Tunneln mit erheblichem Umfang, und es geschehe immer wieder, dass ein Haus so sehr unterhöhlt werde, dass es schließlich zusammenbreche. Auch sei ein Dachs meistens nicht allein, sondern lebe in einer unter Umständen großen Familie, was unabsehbaren Schaden zur Folge haben könne. Dann hatte Bertil den Dachs einmal gesehen, als er spät an einem Sommerabend mit einem Glas Wein und einem Buch auf der Veranda saß, ein fast einen Meter langes, beinahe dreieckiges Tier, ein schönes, schwarz und weiß gestreiftes Wesen, das, am Boden schnüffelnd, erstaunlich flink über den Innenhof trabte. Der Dachs hatte Bertil gefallen, und ein wenig Angst hatte er auch gehabt vor dem großen Tier, und er hatte sich daran erinnert, dass der Großvater ihn gewarnt hatte. Wenn der Dachs zubeiße, hatte er gesagt, beiße er immer so fest zu, bis er den Knöchel splittern höre. Er, der Großvater also, lege deswegen immer ein paar Eierschalen oder ein Stück Knäckebrot in die Schäfte seiner Gummistiefel, wenn er in die Nähe eines Dachsbaus gehe. Bertil Cederblad wusste nicht mehr genau, ob der Großvater so etwas tatsächlich getan hatte.
Das Dach über der Remise hatte sich ein großes Stück weiter gesenkt und zur Nachbarscheune geneigt. Der Winter war lang und hart gewesen, dachte Bertil und die Schneemassen hatten das alte, morsche Gebäude wohl beinahe erdrückt. Das Tor stand nun einen halben Meter offen und war in der Mitte geborsten. Vielleicht müsse er nun doch einen Zimmermann kommen lassen, überlegte Bertil, wenigstens um einen Kostenvoranschlag zu bekommen. Dann könne man ja sehen. Aber so einfach die Scheunen umfallen oder in sich zusammensinken zu lassen, das gehe ja nun auch nicht, schon des Windschutzes wegen oder der Gemütlichkeit. Und überhaupt habe es sie ja immer schon gegeben, jedenfalls auf den ältesten Fotografien der Verwandtschaft aus den zwanziger Jahren. Bertil nahm die alte, rostige Schaufel, die noch vom vergangenen Sommer - oder war es der vorvergangene? - an der Scheunenwand lehnte, griff sie, des Dachses wegen, und ging hinüber zum leicht geöffneten Tor der Remise. Als er näher kam, nahm er einen strengen Geruch wahr, nicht stark, aber unangenehm und deutlich. Ein Tier, dachte er, der Dachs, und griff die Schaufel fester.
Es dauerte einen Augenblick, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht in der Scheune gewöhnt hatten. Ganz hinten stand, wie immer, der alte Traktor-Anhänger mit seinem hölzernen Aufbau, ein großes Fahrzeug, das keiner mehr benutzen würde und das doch von Jahr zu Jahr weiter verwahrt wurde. Aber davor lag etwas auf dem Boden, etwas Weiches und Dunkles. Es war viel größer als ein Dachs und bewegte sich nicht. Bertil drückte das Tor mit dem Rücken nach hinten, so dass ein wenig mehr Licht hineinfiel.
Da lag etwas, was einmal ein Mensch gewesen war, aber was nun zerteilt, auseinandergerissen und zerfetzt war, Knochen, Knorpel, Kleidungsreste. Nur die Schuhe schienen ganz erhalten zu sein: schwarze, noch glänzende Brogues. In den eleganten Schuhen steckten ein Paar abgenagte Beine. Ein schwerer, dumpfer Schrecken legte sich über Bertil Cederblad. In seinen Ohren dröhnten die Glocken von St. Petri. Langsam wich er zurück, ließ die Schaufel fallen, wankte zum Wohnhaus, setzte sich vor den alten Sekretär, griff das Telefon, mit beiden Händen, am ganzen Körper zitternd, und wählte den Notruf.
Zwei
Als Ronny Gustavsson die Sirene des Polizeiwagens hörte, am frühen Nachmittag dieses Samstags im April, lag er, ein großer, dünner, blonder Mensch in einem Bademantel aus billigem grauen Frottée, auf dem Sofa. Man hätte ihn, mit seinen klaren Zügen, der hohen Stirn, den starken Wangenknochen und den blauen Augen, für einen gutaussehenden Mann halten können. Er hatte lange geschlafen und war dann, ungeduscht, mit einem Becher Kaffee und wirren Haaren, in den technischen Feinheiten seiner Stereoanlage versunken, um, wieder einmal, die akustische Anpassung an den Raum zu verbessern. Eine seiner ältesten Schallplatten hatte er dazu gewählt, »The Freewheelin' Bob Dylan«. Er hatte sich dem großen Meister immer verwandt gefühlt und gehofft, von dessen Lässigkeit würde sich ein Bruchteil auf ihn übertragen. Als er aber dieses »Meisterwerk der Musikgeschichte«, wie er sagte, einmal einer jungen Frau vorstellte, auf die er ein begehrliches Auge geworfen hatte, wurde er als »seniler Studienrat« verlacht. Das Urteil hatte ihn hart getroffen. Lange Zeit danach hatte er jedes Gespräch mit jüngeren Menschen gemieden. Dabei war er selbst kaum geboren gewesen, als diese Schallplatte in die Welt gekommen war. Jetzt aber trafen ihn diese Songs wieder einmal direkt ins Herz, und bei dem Vers »remember me to one who lived there, she once was a true friend of mine« - »sie war mir einst als Freundin treu« - traten ihm, wie immer, ein paar Tränen in die Augen, und er dachte, auch er hätte gern einmal eine solche wahre Freundin gehabt. Aber da war keine gewesen, jedenfalls keine, an die er sich mit so viel Gefühl hätte erinnern können, und das tat weh, auch weil die eine, die er sich gewünscht hatte und vielleicht immer noch wünschte, bestimmt nicht einmal daran dachte.
Nun ging die Sirene, fuhr mit einem Höllenlärm heraus aus der Garage der Gemeindeverwaltung von Västra Storgatan und raste gen Norden. Ein Unfall, dachte Ronny und wusste, dass die kommenden Stunden nicht mehr ihm gehören sollten. Vermutlich auf der Reichsstraße 19. Es hatte nicht viel geholfen, dass in der Mitte der Straße Spannseile gezogen worden waren, die Leute fuhren auf der schnurgeraden Strecke trotzdem viel zu schnell. Aber dann hörte er, wie das Geheul nicht im Osten verschwand, dort, wo die große Straße entlangführte, sondern im Westen, in Richtung Visseltofta oder Verum. »Da ist doch nichts«, dachte er weiter, aber in diesem Augenblick war er schon auf dem Weg in die Dusche. Es war ein Glück oder, je nachdem, wie man es nahm, ein besonderes Pech, dass er, der für Osby zuständige Lokalreporter von »Skåneposten«, der Regionalzeitung für die Welt zwischen Kristianstad, Osby und Höör, gleich gegenüber von »kommunhuset«, der Gemeindeverwaltung, wohnte, wo auch die Polizeistation untergebracht war. Und doch, vermutlich konnte man die Sirene des Polizeiwagens, wenn sie irgendwo losging, an jeder Stelle in dieser Stadt hören, so klein war Osby mit seinen siebentausend Einwohnern. Billig jedenfalls war seine Wohnung, die in einem mit roten Klinkern verschalten dreistöckigen Mietshaus aus den sechziger Jahren lag, mit Blick auf den mit grauen Platten in Waschbeton ausgelegten Marktplatz, auf dem nie ein Markt stattfand, und auf einen rotweißen Kiosk, der sich »Texas Grill und Pizzeria« nannte, Hamburger und Würstchen verkaufte und wo sich, in der wärmeren Jahreszeit, die Jugend mit ihren Mopeds und umgebauten alten Volvos traf.
Als Ronny nach knapp drei Minuten aus der Dusche kam, war er immer noch mürrisch, unwillig und nicht wirklich bereit, das Schicksal des Tages anzunehmen. Da klingelte sein Mobiltelefon. Leif Karlsson war am Apparat, ein Kollege aus der Redaktion in Hässleholm, der beneidenswert gute Verbindungen zur Polizei besaß. »Mach dich bitte auf den Weg, aber schnell«, sagte er, »irgendwo bei Visseltofta hat man eine Leiche gefunden. Die Kriminalpolizei ist auch schon unterwegs.« Ronny kannte Visseltofta, das Straßendorf, die alte Brücke über den Fluss Helgeå, die Kirche mit ihrem Friedhof dahinter, das aufgegebene Sägewerk, aus dem jemand, mit wenig Geld, in den vergangenen Jahren versucht hatte, eine Spukstadt wie im Wilden Westen zu machen, und das jetzt als Ruine dalag. Visseltofta war ein idyllischer kleiner Ort und wurde, wie viele kleine Dörfer in den Wäldern im Norden Schonens, nunmehr Haus für Haus von seiner Bevölkerung aufgegeben.
»Weißt du, wo genau?« - »Nein, aber das findest du heraus. Wenn es stimmt, hast du morgen einen Platz auf der Eins. Also los.« Fünf Jahre schon arbeitete Ronny bei dieser Zeitung, und eine Leiche hatte in dieser Zeit keiner gefunden. Einen Mord, so etwas passierte vielleicht in Kristianstad, aber nicht hier draußen auf dem Land. Schlägereien hatte es hier gegeben, vor allem unter jungen Einwanderern und manchmal auch mit ihnen. Einmal war eine Frau von ihrem eifersüchtigen Ehemann mit dem Küchenmesser bedroht worden. Ein anderes Mal hatte ein betrunkener Jungbauer auf einem Sommerfest versucht, einem anderen mit der Axt den Schädel einzuschlagen, weil dieser ihn einen »Schwulen« genannt hatte. Vergewaltigungen kamen vor, in meistens unklaren Verhältnissen, bei denen wiederum der Alkohol eine große Rolle spielte. Ja, und Unfälle, erstaunlich viele Unfälle eigentlich, dafür, dass die Leute so schnell gar nicht fahren durften, und mit nichts beschäftigte sich die Leserschaft von »Skåneposten« lieber als mit Nachrichten von Unfällen. Das bewiesen die Klick-Zahlen der Online-Ausgabe. Mehr aber war in den vergangenen Jahren nicht geschehen. Ein Glück, dachte Ronny, als er in seine Jeans schlüpfte, dass die Zeitung am Sonntag nicht erscheint. Bis morgen Nachmittag, dachte er weiter, werde er schon genug zu schreiben finden. Hastig trank er noch einen Schluck kalten Kaffee aus der halbleeren Tasse und zog die Tür hinter sich zu.
Eine kleine, fast gerade Straße führt von Osby nach Visseltofta. Nur knapp zehn Minuten brauchte Ronny in seinem alten, rostigen Toyota Corolla für die Strecke, und dabei fuhr er nicht einmal zu schnell. »She once was a true friend of mine«, dieser Vers hatte sich in seinen Kopf gebohrt und eine Endlosschleife gebildet. Als er das Dorf erreichte, war niemand zu sehen. Langsam fuhr er die Häuserzeile entlang bis zur Kirche, wendete auf dem Vorplatz, als nirgendwo eine Ansammlung von Menschen zu sehen war, und fuhr zurück. In einem Hof erblickte er einen Mann, der im ersten großen Sonnenschein des Frühlings in seinem Vorgarten ein Kindertrampolin aufbaute. Ob er vielleicht einen Polizeiwagen gesehen habe, vielleicht mit angeschalteten Sirenen? Der Mann schaute kurz auf und wies dann nach Norden, am Fluss entlang. »Jo då«, sagte er, »sie fuhren wohl Richtung Hallaryd.« Ronny schlug die Schotterstraße ein, erreichte die Anhöhe, auf der Bertil Cederblads Hof lag, der Weg machte dort einen Bogen - und da stand der weißgelbblaue Volvo-Kombi der Polizei mit eingeschaltetem Blaulicht quer auf der Straße. Dahinter hatte sich, ein seltsamer Anblick in dieser ländlichen Umgebung, fast so etwas wie ein Stau gebildet: hinter der Scheune, halb auf dem frischgepflügten Acker, ein zerbeulter Saab, der vermutlich einem Bauern gehörte, dahinter ein kleiner deutscher Skoda-Kombi, mit dessen Fahrer ein Polizist sprach, dann ein Tanklastwagen von »Skånemejerier«, der wahrscheinlich auf seiner täglichen Tour war, um die Milch von den Höfen zu holen. Unter der Linde aber stand ein Polizist und schaute auf die Straße, als erwarte er etwas Großes und Bedeutendes.
Ronny setzte sein Auto gleichfalls auf den Acker und ging auf den Polizisten unter dem Baum zu.
»Hej«, sagte er, »wartet ihr auf die Kollegen?« Der Polizist schaute Ronny kurz und steif an. Dann nickte er, unfreundlich.
»Sie sind unterwegs. Müssten in einer Viertelstunde hier sein.« In Osby gab es schon seit Jahren keine Kriminalpolizei mehr. Die ganze Abteilung war jetzt in Kristianstad zu Hause, eine Stunde südöstlich, wenngleich ein paar Kriminalpolizisten in Hässleholm arbeiteten, und dahin war es nur eine halbe Stunde. Aber auch diese halbe Stunde musste gefahren werden.
»Ihr habt eine Leiche, hörte ich. Wo ist sie denn?«
»Da drüben. In der Scheune.« Ronnys Freundlichkeit prallte an diesem Polizisten ab.
»Kann ich sie sehen, bitte?«
»Nein. Spurensicherung. Da darf keiner hin, bis der Kommissar da ist. Und dann gilt: Schutzkleidung.«
»Was meinst du? Hat sich da einer umgebracht?«
»Sieht nicht so aus.«
»Ich schau mal.« Ronny tat einen Schritt in Richtung Scheune. Der Polizist hob die Arme, um ihn am Weitergehen zu hindern. Nein, noch ein Schritt, und der Polizist wäre handgreiflich geworden. Vor dem Eingang zum Wohnhaus, auf einer steinernen Stufe, sah Ronny einen älteren Herrn sitzen, der sich immer wieder mit beiden Händen über das Gesicht fuhr. Neben ihm, an ein eisernes Geländer gelehnt, stand ein zweiter Mann, in grüner Latzhose, mit Schirmmütze und in Gummistiefeln. Ein Bauer, vermutlich ein Nachbar, der beruhigend auf den Sitzenden einredete. Rechts daneben ein fast neuer, dunkelroter Volkswagen Golf. Ronny wendete und ging hinüber zu den beiden. Der Polizist verwehrte es ihm nicht.
»Hej, was ist passiert?« Ronny bemühte sich, mitfühlend zu klingen.
Der ältere Herr schaute verwirrt auf, mit flackernden Augen, fuhr sich mit einer Hand wieder über das Gesicht und wollte sich gerade einen Ruck geben, als ihm der Bauer zuvorkam.
»Bertil hat in seiner Scheune eine Leiche gefunden.« Der Bauer hatte ungewöhnlich große, ja riesenhafte Hände.
»Jemanden, den ihr kennt?«
»Nein, keiner von hier. Ist aber schwer zu sagen, so wie die Leiche aussieht. Aber solche Schuhe hat hier keiner.«
»Was ist denn mit der Leiche?«
»Die Dachse. Sie liegt neben einem Dachsbau. Muss ein Fest für die Tiere gewesen sein. Waren wohl gerade aufgewacht, aus dem Winterschlaf, so richtig hungrig, und da lag dann das Futter, direkt vor dem Ausgang. Komm, schau dir das an.«
Der Bauer ging am Schuppen mit dem Volvo Duett vorbei, dann hinüber zur Scheune und winkte Ronny mitzukommen. Der Polizist hob sofort die Hand.
»Lass sein«, sagte der Bauer, der den Polizisten zu kennen schien. Die Hand sank. Der zweite Polizist war unterdessen zum Wagen gegangen, hatte eine Rolle mit einem blauweißen Kunststoffband und ein gelbes Schild mit der Aufschritt »Abgesperrt« hervorgeholt. Sein Kollege, der dem Bauern offenbar nicht zu widersprechen wagte, wandte sich um und winkte das deutsche Auto und den Tankwagen vorbei. Ronny trat zum offenen Tor, nahm einen strengen Geruch wahr, blickte in das Halbdunkel - und musste sich, kreidebleich, am Arm des Bauern festhalten.
»Liegt er schon lange hier?« Es war einige Zeit vergangen, bis Ronny wieder sprechen konnte.
»Weiß ich nicht. Glaube ich aber nicht. Aasfresser sind schnell. Können Füchse sein, aber auch Dachse. Oft kommen Füchse und Dachse zusammen. Nach einer Nacht ist manchmal nur noch das Skelett übrig. Und der hier hat noch Fleisch.«
Ronny spürte, wie eine starke Übelkeit in ihm hochstieg, konzentrierte sich mühsam und sah halb benommen einen abgenagten Schädel, einen wirren Haufen aus weißroten Fleischresten und Knochen, aus Stofffetzen, die einmal ein dunkelblaues Sakko, eine graue Flanellhose, ein hellblaues Hemd gewesen sein mussten - und ein Paar jetzt verstaubter, aber offensichtlich noch vor kurzem gut geputzter Schuhe, in denen die Unterschenkelknochen staken. Der Bauer zog ihn fort. Ronny ließ sich zur Verandatreppe zurückführen. Er ging mechanisch stapfend, es war ihm noch speiübel und gleichzeitig kam er sich vor wie ein Automat, dem viele Fragen auf einmal eingegeben wurden: Konnte es sein, dass die Schuhe noch nach Schuhcreme rochen? Kannte er diesen Geruch? Konnte dieser Haufen ein vollständiger Mensch gewesen sein?
»Was machst du eigentlich hier?«
»Oh, Entschuldigung, ich komme von Skåneposten.«
Der ältere Herr blickte auf. »Das hätte ich mir denken können«, sagte er.
»Ist das dein Hof?«, fragte Ronny. »Entschuldige, dass ich frage.« Der ältere Herr nickte.
»Dein Sommerhaus?«
»Der Hof der Familie. Seit 1762.«
»Und wo lebst du jetzt, wenn ich fragen darf?«
»In Malmö. Und darf ich fragen, warum dich das interessiert? « Ronny antwortete nicht, sondern versuchte jetzt, ein richtiger Reporter zu sein, indem er eine Gegenfrage stellte.
»Ist das dein Auto?«
»Der Golf?«
»Nein, der Duett.«
»Ja, auch.«
»B 18 Motor, mit 75 PS?«
»Ja«, antwortete Bertil Cederblad, und für einen kurzen Augenblick schien er die Leiche vergessen zu haben, »die Maschine kriegt man nicht kaputt.«
»Ich hatte früher auch mal so einen Volvo, einen Buckel von 1953, ein schönes Ding. Aber die Bodenplatte war durchgerostet.« Dann schwieg Ronny und schaute auf Wiese und Wald. »She once was a true friend of mine.« Er wollte nicht aufdringlich sein. Aber er brauchte eine Geschichte. Er blickte sich um, sah die geöffneten Fenster des Wohnhauses, den Schlauch, der in die Wiese hinausführte, und die Schaufel, die mitten auf dem Hof lag. Zusammen ergaben diese Dinge eine Folge von Ereignissen. Er sprach den Bauern mit den großen Händen an:
»Du hast die Polizei gerufen, richtig?«
»Nein, das war Bertil. Ich schaue manchmal nach dem Hof, wenn er nicht da ist. Wir sind ja verwandt. Früher gehörten die fünf Höfe hier zusammen, alles Familie. Und dann hat Bertil mich angerufen. Der Dachs unter der Scheune, das ist nicht gut, der muss weg. Es können ja viele sein, und auch Füchse. Man weiß es ja nicht.«
»Seltsam, dass da einer kommt und einem einfach eine Leiche in die Scheune legt.«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Per Johansson
Per Johansson ist das Pseudonym des Autoren-Duos Thomas Steinfeld und Martin Winkler.
Bibliographische Angaben
- Autor: Per Johansson
- 2012, 335 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968805506
Rezension zu „Der Sturm “
"Stark. Einzigartig und unterhaltsam. Dicht liegt das Geheimnis über diesem Kriminalroman wie der Herbstnebel über den schwedischen Wäldern." Håkan Nesser
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