Der Tag, an dem der Wind dich trägt
Der Tag an dem der Wind dich trägt von JamesPatterson
Leseprobe
Kapitel 1
Der Tag fing an, aus dem Gleis zu geraten, als Keith Duffy und seine kleine Tochter das arme angefahrene Reh zumInn-Patientsbrachten. So heißt meine kleine Tierklinik in Bear Bluff,Colorado, ungefähr fünfzig Minuten nordwestlich von Boulderauf dem »Peak-to-Peak«-Highway.
Aus der Stereoanlage erklang SherylCrows rauchige Stimme. Doch ich drehte ihr den Saftab, als Duffy die arme Ricke hereintrugund wie ein Idiot vor Abstraction, White Rose II, meinem derzeitigenLieblingsposter Georgia O'Keefes, stehenblieb.
Ich konnte erkennen, daß die schwerverletzte Ricke trächtig war. Ihre Augen zeigtenPanik, und als Duffy sie auf den Tisch legte, schlugsie aus. Aber nur noch mit halber Kraft, denn Duffys Allrad-Chevy hatte ihr wohl die Wirbelsäule in der Mittegebrochen.
Das kleine Mädchen weinte, und der Vater war vollkommenfertig. Ich hatte den Eindruck, auch er würde gleich losheulen.
»Geld spielt keine Rolle«, sagte er.
Um Geld ging es tatsächlich nicht, da mir klar war, daß nichts mehr die Ricke retten konnte. Aber vielleichtwürde das Kitz überleben, wenn die Mutter kurz vor dem Werfen stand und esnicht zu sehr durch die Räder des schweren Wagens zerquetscht worden war. Undes gab noch weitere Wenns.
»Ich kann die Ricke nicht retten. Es tut mir leid«, sagteich zu dem Vater des Kindes.
Duffy nickte. Er ist ein hiesiger Baulöweund außerdem Jäger. Meiner bescheidenen Meinung nach einVolltrottel. Rücksichtslos beschreibtihn wohl am ehesten, und das ist noch eine seiner besseren Eigenschaften. Ichkonnte nur erahnen, was er jetzt fühlte. Dieser Mann, der jeden Abschuß an die große Glocke hängte. Hier, in Gegenwartseiner kleinen Tochter, die mich anflehte, das Leben des Tiers zu retten. Zuseinen schlechten Angewohnheiten gehörte es auch, mich anzumachen. Auf seinerStoßstange prangte ein Sticker: UNTERSTÜTZ DAS WILDE LEBEN. GIB 'NE PARTY!
»Und das Kitz?« fragte er.
»Vielleicht. Hilf mir, die Mutter zu betäuben, und wirwerden sehen.«
Vorsichtig legte ich die Maske über das Maul der Ricke. Ichbetätigte das Pedal, und Gas zischte durch den Schlauch. In den braunen Augender Ricke sah ich Panik, aber auch unvorstellbare Traurigkeit. Sie wußte Bescheid.
Das kleine Mädchen schlang die Arme um den Bauch der Rickeund weinte herzzerreißend. Ich mochte die Kleine sehr. Ihre Augen strahlten Mutund Charakter aus. Wenigstens einmal in seinem Leben hatte Duffyetwas Gutes hingekriegt.
»Verdammt noch mal!« sagte er. »Ichhabe sie erst gesehen, als sie auf der Motorhaube lag. Gib dein Bestes, Frannie.«
Behutsam zog ich das kleine Mädchen von dem Reh weg. Ichlegte die Hände auf seine Schultern und zwang es, mich anzuschauen. »Wie heißtdu, Schätzchen?«
»Angie«, stieß die Kleine schluchzend hervor.
»Angie, hör mir jetzt zu. Das Reh spürt nichts mehr,verstehst du? Ich verspreche dir, daß es keineSchmerzen mehr hat.«
Angie vergrub ihr Gesicht in meinem Kittel und klammertesich mit aller Kraft an mich. Ich streichelte ihren Rücken und erklärte ihr, daß ich dem Reh den Gnadentod geben müsse, daß aber, falls ich das Kitz würde retten können, eineMenge Arbeit zu tun sei.
»Bitte, bitte, bitte«, flehte Angie.
»Für die Milch werdet ihr eine Ziege brauchen«, sagte ich zuDuffy. »Vielleicht auch zwei oder drei.«
»Kein Problem«, antwortete er. Hätte ich Elefantenammenverlangt, hätte er sie auch besorgt. Er wollte nur seine kleine Tochter wiederlächeln sehen.
Dann bat ich die beiden, das Untersuchungszimmer zuverlassen, damit ich ungestört arbeiten konnte. Was mir bevorstand, war eineblutige, schwierige und häßliche Operation.
Kapitel 2
Um sieben Uhr abends waren die Duffysin die Klinik gekommen, und seitdem waren ungefähr zwölf Minuten vergangen. Diearme Ricke war ohne Bewußtsein, und sie tat mirunendlich leid. Frannie, das Weichei - so nennt michmeine Schwester Carole. Auch mein Mann David benutztediesen Spitznamen oft.
Vor fast eineinhalb Jahren war David auf dem Ärzteparkplatzdes Gemeindekrankenhauses von Boulder erschossenworden. Ich hatte mich noch nicht davon erholt, noch nicht genug getrauert.Wenn die Polizei wenigstens Davids Mörder gefaßthätte, wäre es eine Hilfe gewesen. Aber das war nicht geschehen.
Mit dem Skalpell öffnete ich die Bauchdecke, holte die Gebärmutterunversehrt heraus, legte sie auf die Ricke und schnitt sie auf. Dann zog ichdas Kitz heraus und betete innerlich, es nicht töten zu müssen.
Das Baby war ungefähr vier Monate alt, fast ausgetragen und,soweit ich es beurteilen konnte, unverletzt. Mit den Fingern säuberte ichvorsichtig die Atemwege des Kitzes und legte eine winzige Sauerstoffmaske überdas Maul.
Dann stellte ich den Sauerstoff an. Die Brust des Kitzeserzitterte. Es begann zu atmen.
Und dann schrie es. O Gott, was für ein wunderbaresGeräusch. Ein neues Leben. Mann o Mann. Ein derartiges Wunder läßt mein Herz immer noch höher schlagen. Frannie, das Weichei.
Während der Operation war Blut auf mein Gesicht gespritzt.Ich wischte es mit dem Ärmel ab. Das Baby wimmerte in die Sauerstoffmaske, undeinige Momente lang ließ ich es sich an die Mutter schmiegen. Vielleicht hatauch das Wild eine Seele. Laß die Mutter sichvon ihrem Kind verabschieden.
Dann durchtrennte ich die Nabelschnur, füllte eine Spritzeund erlöste die Ricke. Es ging schnell. Sie spürte den Übergang vom Leben zumTod nicht.
Im Kühlschrank war eine Büchse mit Ziegenmilch. Ich füllteein Fläschchen und ließ es in der Mikrowelle einige Sekunden warm werden.
Dann nahm ich dem Baby die Sauerstoffmaske ab und schob ihmden Sauger der Flasche ins Mäulchen, und es begann zu trinken. Das Kitz warwirklich wunderschön mit seinen sanften braunen Augen. Manchmal liebe ich meineArbeit sehr.
Als ich herauskam, saßen Vater und Tochter enganeinandergeschmiegt auf dem antiken Diwan in meinem Wartezimmer. Ich legteAngie das Kitz in die Arme.
»Herzlichen Glückwunsch. Es ist ein Mädchen«, sagte ich.
Dann ging ich mit der kleinen Familie zu ihrem verbeultenWagen. Ich gab ihnen die Büchse Ziegenmilch und meine Telefonnummer und winktezum Abschied. Nur ganz kurz dachte ich über die Ironie des Schicksals nach, daß das Kitz im selben Wagen nach Hause fuhr, der seineMutter getötet hatte.
Und dann wünschte ich mir nur noch ein dampfendes heißesBad, ein kühles Glas Chardonnay und vielleicht einegebackene Kartoffel mit Wisconsin-Cheddar - das sinddie kleinen Annehmlichkeiten des Lebens. Irgendwie war ich stolz auf mich. Sohatte ich mich lange nicht mehr gefühlt, nicht, seit Davids Tod mein Lebenvollkommen verändert hatte.
Ich wollte gerade ins Haus gehen, als ich auf dem Parkplatzeinen schwarz glänzenden Jeep Cherokee bemerkte.
Die Tür des Wagens öffnete sich, und ein Mann stieg langsamaus. Von hinten wurde er von Scheinwerfern angestrahlt, und einen Moment langglich er einer Lichtgestalt.
Er war groß, schlank und durchtrainiert, mit einem Schopfrotblonder Haare. Schnell erfaßte er seine Umgebung:die große Veranda behängt mit Kolibri-Futterstellen und ein paar Windsäcken.Mein treues schmutziges Mountainbike. Und überall Wildblumen - Berglupinen,Gänseblümchen, scharlachrote Kastilea.
Doch was dann passierte, war mehr als merkwürdig. Ich hatteden Mann nie zuvor gesehen, aber mein Gehirn, ein unnützes kleines Organ und soprimitiv, daß es imstande ist, jedes logische Denkenaußer acht zu lassen, wurde vollkommen in seinen Banngezogen. Ich starrte ihn an und hatte unvermittelt das Gefühl, ihn irgendwie zukennen. Und mein Herz, das in den letzten Jahren eiskalt gewesen war, erwachtefür ein paar Sekunden zu neuem Leben und klopfte heftig. Irgendwie störte michdas.
Doch wer immer der geheimnisvolle Fremde auch sein mochte,offensichtlich hatte er sich verfahren.
»Die Sprechzeit ist schon vorbei«, sagte ich.
Er starrte mich an, ohne sich für sein Eindringen auf meinenPrivatgrund zu entschuldigen. Dann sprach er mich mit meinem Namen an.
»Dr. O'Neill?«
»Schuldet sie Ihnen Geld?« fragteich zurück. Gut, das ist ein alter Comedygag, aberich mag ihn. Außerdem mußte ich mich nach der Tötungder Ricke wieder etwas aufmuntern.
Er lächelte. Seine blauen Augen strahlten, und ich konntemeinen Blick nicht mehr von ihnen lösen. »Sind Sie Frances O'Neill?«
»Ja, aber Frannie ist mir lieber.«
Ich sah in ein Gesicht, das ausdruckslos sein wollte, jedocheinen Anflug von Wärme nicht unterdrücken konnte. Die Offenheit seines Blickshielt mich förmlich fest. Er hatte eine schmale Nase und ein ausgeprägtes Kinn.Ein bißchen Tom Cruise mit einem SchußHarrison Ford. Jedenfalls sah es im Scheinwerferlicht des Jeeps so aus.
Er schob seinen zerknautschten Hut in den Nacken, und einSchopf glänzenden rotblonden Haars wurde sichtbar. Dann stand der Mannschließlich in voller Größe direkt vor mir, ein Meter fünfundachtzig, wie einBild aus einem L.L. Bean-Katalog oder vielleichteinem von Eddie Bauer. Dennoch wirkte er seriös.
»Ich komme von Hollander und Cowell.«
»Sie sind Immobilienmakler?«krächzte ich.
»Wenn ich ungelegen komme, tut esmir leid«, sagte er. Wenigstens war er höflich.
»Was bringt Sie darauf?« fragteich, wohl wissend, daß meine Jeans blutüberströmtwaren und mein Sweatshirt aussah wie ein Gemälde von Jackson Pollock.
Er warf einen kurzen Blick auf mein Äußeres. »Ich hasse es,den Verlierer eines Kampfes zu treffen. Oder betreiben Sie etwa Hexerei?«
»Manche Menschen nennen es Veterinärmedizin«, gab ichzurück. »Also, worum geht es, und warum schicken Hollanderund Cowell Sie zu dieser späten Stunde hierher?«
Er zeigte mit dem Daumen nach BearBluff, wo das Maklerbüro lag.
»Ich bin Ihr neuer Mieter. Heute nachmittag habe ich die Papiere unterzeichnet. Manhat mir gesagt, daß Sie der Agentur die Angelegenheitübergeben haben.«
»Ist das ein Witz? Haben Sie wirklich die Hütte gemietet?«
Ich hatte fast vergessen, daß ichdie Hütte zur Vermietung ausgeschrieben hatte. Sie liegt eine Viertelmeilehinter der Tierklinik in den Wäldern. Bevor David und ich einzogen, war es eineJagdhütte gewesen. Nach seinem Tod schlief ich dann in einem kleinen Zimmer inder Praxis. Damals hatte sich sehr viel für mich verändert und nichts davon zumBesseren.
»Also, was ist? Kann ich die Behausung jetzt sehen?« fragte L.L. Bean.
»Folgen Sie einfach dem Weg hinter der Praxis«, antworteteich. »Ungefähr vier bis fünf Minuten. Es lohnt sich. Die Tür ist nichtabgeschlossen.«
»Bekomme ich keine Führung?« fragteer.
»So gern ich das auch tun würde, aber ich muß noch ein paar Hühner töten und etliche Zauberformelnmurmeln, bevor ich zu Bett gehe. Ich hole Ihnen eine Taschenlampe.«
»Ich habe eine im Auto«, lautete die Antwort.
Ich blieb in der Tür stehen und schaute ihm nach, als erüber den knirschenden Kies zu seinem Wagen zurücklief. Er hatte einen schönenGang. Selbstsicher, aber nicht angeberisch.
»He!« rief ich ihm nach. »Wieheißen Sie eigentlich?«
Er drehte sich um, zögerte einen Moment.
»Kit«, sagte er dann. »Ich heiße Kit Harrison.«
Kapitel 3
Was dann geschah, werde ich nie vergessen. Für mich war esein Schock, wie ein Schlag in die Magengrube oder auf den Kopf.
Kit Harrison griff ins Innere seinesJeeps und tat das Unbeschreibliche. Aus einem silber-metallenen Gewehrständerzog er ein Jagdgewehr. So ein Scheißkerl!
Ich traute meinen Augen nicht und bekam eine Gänsehaut.
Dann schrie ich ihn an. Sehr laut, wie es sonst gar nichtmeine Art ist. »Warten Sie! He, Sie! Bleiben Sie hier, Mister!«
Er drehte sich zu mir um. Seine Miene war genauso ruhig undausdruckslos wie vorher. »Was ist?« fragte er. Wagteer etwa, mich herauszufordern?
»Hören Sie.« Ich ließ dieFliegenschutztür geräuschvoll hinter mir zufallen und ging schnell undentschieden über den kiesbestreuten Hof. Auf keinen Fall duldete ich jemandenmit einem Jagdgewehr auf meinem Land. Auf gar keinen Fall! Nur über meineLeiche.
»Ich habe es mir anders überlegt. Es geht nicht. Es wirdnicht funktionieren. Sie können nicht hierbleiben.Keine Jäger. Auf keinen Fall!«
Harrison wandte sich wieder dem Inneren des Jeeps zu, ließdas Handschuhfach zuschnappen und verschloß es. Erschien mir gar nicht zuzuhören.
»Verzeihung«, sagte er, ohne sich umzuwenden. »Wir habeneinen Vertrag.«
»Der Vertrag ist ungültig! Haben Sie mir eben nicht zugehört?«
»Nein. Ein Vertrag ist ein Vertrag.«
Er schnappte sich eine Taschenlampe aus dem Fach an derInnenseite der Autotür, ergriff eine rötliche Sporttasche und nahm dann das gräßliche Gewehr in die andere Hand. Ich war wie gelähmtund stotterte nur: »Aber aber hören Sie doch.« Docher ignorierte mich, schien mich gar nicht zu hören.
Mit dem Fuß schloß Harrison dieWagentür, knipste die Taschenlampe an und ging ganz ruhig den Weg zum Waldhinunter, der das Licht und das Geräusch seiner Schritte langsam verschluckte.
In meinen Schläfen pochte das Blut.
Ein gottverdammterJäger wohnte in meiner Hütte!
Kapitel 4
Es war fast dunkel, und die Jäger hatten den Körper desMädchens immer noch nicht gefunden. Sie froren, waren hungrig und unheimlichfrustriert. Und sie hatten Angst. Falls sie versagen sollten, drohtenunangenehme Konsequenzen.
Sie mußten das Mädchen finden.
Und auch den Bruder - Matthew.
Zu fünft liefen die Häscher durch das dichtbewaldeteGebiet, in dem sie das Mädchen vermuteten. Eigentlich mußtees genau hier sein! Versuchsobjekt Tinkerbell mußte gefunden und ausgelöscht werden, wenn der Schuß und der anschließende Sturz es nicht schon getötethatten.
Schläfere Tinkerbell ein, dachte Harding Thomas, während er die Suchmannschaftweiterführte. Es war ein Euphemismus, ein beschönigender Ausdruck, den erbenutzte, um Augenblicke wie diesen erträglicher zu machen. Jemanden einschläfern. Wie bei Tieren. KeinTod, kein Mord - nur friedlicher Schlaf.
Er glaubte, die genaue Stelle zu kennen, an der das Mädchenwie ein Stein vom Himmel gefallen war. Doch er sah keinen zerschmettertenKörper auf dem Boden. Auch hing niemand in den Zweigen der riesigen Fichten.
Sie konnten das Kind nicht hier draußen zurücklassen, dasRisiko nicht eingehen, Wanderer oder Camper könnten seinen Körper finden. Daswäre eine Katastrophe, vergleichbar dem Untergang der Titanic.
»Tinkerbell, kannst du mich hören?Bist du verletzt, Süße? Wir wollen dich doch nur nach Hause bringen, das ist alles.« Thomas setzte seine sanfteste Stimme ein. Es fiel ihmnicht schwer, denn er hatte Max und Matthew immer gern gemocht.
Tinkerbell war ein Codename, und so hatte er sie immer genannt. Matthews Codenamelautete Peter Pan. Und er selbst war OnkelTommy.
»Tinkerbell, wo bist du? Kommraus, komm schon. Wir werden dir nicht weh tun,Liebling. Ich bin dir noch nicht mal böse. Hier ist dein Onkel Tommy. Du kannstmir vertrauen. Wenn du mir nicht vertraust, wem dann? Kannst du mich hören?Komm schon, Kindchen. Ich weiß, daß du hier bist.Vertrau deinem Onkel Thomas. Niemand sonst kann dir helfen.«
Kapitel 5
Sie lebte. Erstaunlich, wirklich äußerst erstaunlich.
Aber Max hatte eine Schußverletzung,deren Schwere sie nicht beurteilen konnte. Vielleicht war es gar nicht soschlimm, denn bisher hatte sie weder das Bewußtseinverloren noch allzuviel Blut.
Seit Stunden kauerte das Mädchen versteckt zwischen dendicken Ästen einer Baumkrone. Wenigstens hofftees, gut verborgen zu sein. Max versuchte, unbeweglich, ruhig und möglichstunsichtbar zu sein.
Sie zitterte, irgendwie geriet die ganze Sache außerKontrolle.
Wenn nur Matthew bei ihr wäre. Sie würden sich gegenseitigKraft und Hoffnung geben und Weisheiten austauschen. So war es bei ihnen immergewesen. In der Schule waren sie unzertrennlich. Mrs. Beattie,die einzige nette Person dort, nannte sie die »Unzertrennlichen« oder »Bobsey Zwillinge« - wer auch immer das gewesen sein mochte.Als Mrs. Beattie starb, wurde alles schlimmer.Wirklich schlimm. Sehr schlimm.
Dort im Wald waren die Männer. Schlechte Männer - dieschlimmsten Kreaturen, die man sich vorstellen konnte. Und sie waren mindestenszu sechst. Jäger - Killer. Siesuchten verzweifelt nach ihr und Matthew. Und sie hatten Gewehre und Lampen.
Einer von ihnen war Onkel Thomas, er war der schlimmste. Erhatte vorgegeben, ihr Freund zu sein doch er war derjenige, der sieeinschläfern würde. Er war ein Lehrer gewesen, ein Wissenschaftler, und jetzt warer nur noch ein Mörder.
»Wir werden dir nichtweh tun, Liebling.« Max ahmte seine Stimme und sein aufgesetztes falschesGehabe nach.
Ihr Vorteil war, daß sie dieMänner im Wald nicht zu sehenbrauchte. Sie hatte ein überdurchschnittlich ausgeprägtes Gehör. Es konnteGeräusche wahrnehmen, die nur ein Tausendstel einer Sekunde auseinanderlagen.Eine wirklich gute Gabe. Max konnte das leise Summen ferner Mücken hören, dasärgerliche Zwitschern eines Zaunkönigs und das Rascheln von Espenblättern, dieeine halbe Meile entfernt waren. Ob Matthew wohl irgendwo in der Nähe war?Lauschte auch er?
»Tinkerbell, kannst du mich hören?«
Ja, sie konnte sie hören, diese abartigen Typen, die nachihr suchten. Schon als sie noch weit entfernt gewesen waren, hatte Max sie gehört.Jeden Schritt, jedes Hüsteln oder Schnauben, jeden einzelnen ihrer heißen, übelriechenden Atemzüge, von denen sie wünschte, er mögeihr letzter sein.
Einer von ihnen sagte etwas, und sie erkannte einenbesonders gefühllosen Aufseher von der Schule. »Wir hätten Hunde mitnehmensollen.«
»Hätten, könnten, würden.« EinKumpan äffte ihn nach und lachte. »Es ist doch nur ein Kind. Beide sind Kinder.Wenn wir noch nicht mal ein kleines Kind finden, dann können wir gleicheinpacken.«
Hunde! Max unterdrückte ein Schluchzen.Hunde würden sie finden, sie waren darin besser als Menschen. Auch Hunde hattenbesondere Gaben. Die Menschen waren die schwächste Spezies, vielleicht warensie deshalb auch die gemeinste.
Zornig und heulend frischte der Wind wieder auf, und demMädchen wurde bewußt, wie kalt es hier draußen war.Fest umschlang es den Baum und lauschte angestrengt, bis die Jäger nicht mehrzu hören waren. Erst einmal waren sie fort.
Langsam und unter Schmerzen rutschte Max die Fichte hinunterund schlich sich vorsichtig in den Wald.
Und dann rannte sie. Sie mußteSichtschutz finden und Matthew bevor es zu spät war.
© für diedeutsprachige Ausgabe 2001 by Verlagsgruppe LübbeGmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach - All rights reserved.
Übersetzung:Karin Meddekisu; Edda Petri
- Autor: James Patterson
- 2001, 380 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Edda Petri
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404146093
- ISBN-13: 9783404146093
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