Der Teufel auf dem Kirchturm
Tradition von Bohumil Hrabal: Der Erzähler nimmt, bevor er sich endlich entschließt, geboren zu werden, die Welt ins Visier. Genauer gesagt, die Welt zwischen Wilna und Lemberg, zwischen Litauen und Polen, mit einem...
Tradition von Bohumil Hrabal: Der Erzähler nimmt, bevor er sich endlich entschließt, geboren zu werden, die Welt ins Visier. Genauer gesagt, die Welt zwischen Wilna und Lemberg, zwischen Litauen und Polen, mit einem kurzen Intermezzo in Deutschland. Humorvoll nimmt er das Treiben der Großelterngeneration unter die Lupe aus der sicheren Perspektive des Bauches seiner Mutter. Ein hinreißender Roman voll verschmitztem Charme, bilderreicher Sprache, grotesker Überzeichnung und vergnüglichem Spott.
Der Teufel auf dem Kirchturm von Marek Lawrynowicz
LESEPROBE
Und dort an der Wilia
Ist einGlockenturm so hoch,
Daß kein menschlichAuge
Ihn gesehen noch.
Und auf diesemTurm
Steht der heiligeSchorsch.
Der piekst denHerrn Teufel
In den Po ganzforsch.
Leide, meineSeele,
Und du wirsterlöst.
Wenn du nichtgelitten hast,
dann ergeht s dir bös.
Oj!
So sang mein Großvater Józefund lehnte sich aus dem mit Soldaten überfüllten Güterwaggon. Großvater warunterwegs, um für den russischen Zaren zu fallen, und er sang, um sich etwasMut zu machen und die täglichen Sorgen zu vergessen.
Eigentlich hatte Großvater nur eine große Sorge: Voreinem Jahr hatte er Großmutter Anna, eine sehr energische und entschlossenePerson, geheiratet; vor einem Monat hatte er ihr beim Kreuz geschworen, daß er sich in keinem Fall umbringen lassen werde, und voreiner Woche hatte er bei Gott geschworen, daß erbereit sei, für den Zaren zu fallen. Wie der liebe Gott diesen Widerspruchlösen sollte, wußte Großvater beim besten Willen nicht.
Er saß da, baumelte mit den Beinen über dem Gras desschnell dahinziehenden Bahndamms und lauschte demKeuchen der Lokomotive; schließlich war er Maschinist und kannte sich aus. DieLokomotiven keuchten jetzt durch ganz Europa. Um sich mit Großvater Józef, dem Maschinisten aus Wilna, zu treffen, eilten auchschon Maschinisten aus Lemberg herbei, die geschworen hatten, für den Kaiservon Österreich-Ungarn zu fallen.
Weil die Linie Wilna-Lemberg pfeilgerade verlief, kames bald zum Kampf. Zuerst jagten diejenigen aus Wilna die aus Lemberg undschossen sehr schlecht. Dann jagten die Lemberger die Wilnaer, und diese liefendavon, mit Ausnahme von Großvater Józef, der insGebüsch fiel und, von einer eigenartigen Schwäche befallen, nicht mehraufstehen konnte. Erst als er von allen Seiten vom Feind umringt war, kam erheraus, mit vorschriftsmäßig erhobenen Händen, was ihm keine Mühe machte, da ersein Gewehr ohnehin schon verloren hatte. Auf diese Art und Weise verbrachteGroßvater den Krieg in Österreich, was ihm ganz angenehm war.
Großvater Józefs Tat hattefatale Folgen. Die geschwächte russische Armee verlor eine Schlacht nach deranderen. Die Soldaten waren es leid, immer nur geschlagen zu werden, undbegannen sich aufzulehnen, und da im Krieg immer jemand geschlagen oder getötetwerden muß, beförderte man zuerst den Zaren und seineFamilie ins Jenseits und danach alle, die man erwischen konnte.
Zufällig traf zur gleichen Zeit auch den Kaiser vonÖsterreich-Ungarn der Schlag, und so begannen die Lokführer aus Wilna undLemberg, sich gegenseitig Züge entgegenzuschicken. Die Lokomotiven schnauftentapfer und pfiffen markerschütternd. Es war soviel Lärm in Wilna und Lemberg, daß all der Enthusiasmus die dunkle Ahnung überdeckte, daß die neue Epoche, so glücklich sie auch sein mochte,nicht lange dauern würde.
Das bedarf einer Erklärung. Wilna war nicht sofortpolnisch. Die internationalen Verträge sprachen es Litauen zu, dessenhistorische Hauptstadt es war, neben Trakai. Doch diepolnischsprachige Bevölkerung bildete die überwiegende Mehrheit in der Stadt,und diese Menschen hielten sich für Polen, wenn sie auch eine gewisse Sympathiefür das Großfürstentum Litauen hatten, das sie jedoch nicht mit der neuerstandenen Republik Litauen identifizierten. Diezweitgrößte Gruppe nach den Polen waren in Wilna die Juden, Litauer gab esrelativ wenige.
Es war daher nicht verwunderlich, daßzahlreiche Bürger mit weiß-roten Fahnen freudig die Armee General ˙Zeligowskis begrüßten, als diese in die Stadteinmarschierte. Nicht alle wußten jedoch den Ernstdes Augenblicks zu würdigen. Als General ˙Zeligowskiam Bahnhof von Wilna vorbeizog und der Menschenmenge zulächelte, füllten sichdie leeren Bahnsteige mit litauischem Geschrei. Vergeblich versuchte derStationsvorsteher zu intervenieren. Vergeblich plusterte sich der General. Dieweiß-roten Fahnen wurden vor Scham puterrot, als sie von den hohen Mauern ausauf ein schmales Frauchen blickten, das auf litauisch einen unbekanntenBanditen beschimpfte, der ihren Koffer gestohlen hatte. Das war meineGroßmutter Maria. Sie war in Begleitung meines zweiten Großvaters, Antoni. Sie waren soeben aus Dünaburggekommen, um in Wilna ein neues Leben zu beginnen.
Als wir neulich auf einem Familientreffen überlegten,wer in unserer Familie die schlechte, verhängnisvolle Angewohnheit des Gedichteschreibens eingeführt hatte, stellte sich heraus, daß der Schuldige Großvater Antoniwar. Als er von Dünaburg nach Wilna kam, war er eingroßer, melancholischer junger Mann. Er geriet oft ins Sinnieren, wenn erirgendwo unterwegs war, er kam vom Bürgersteig ab, lief in eine Droschke,vergaß, wo er war, irrte durch die Straßen und versuchte sich zu erinnern,warum er aus dem Haus gegangen war. Weil er außergewöhnlich zerstreut war,wurde er ständig bestohlen. Auch an dem Vorfall auf dem Bahnhof von Wilna warer schuld. Oma hatte von vornherein gewußt, daß sie bestohlen werden würde, sie wartete darauf und schrienur aufgrund der langen nervlichen Anspannung. Daraus kann man schließen, daß es an jenem Tag auf der Welt wesentlich leiserzugegangen wäre, wenn der Koffer schon in Dünaburggestohlen worden wäre.
Die Apotheose General ˙Zeligowskisund Oma Marias hysterische Anfälle. Auf dem Weg vom Bahnhofsgebäude zurDroschke wurde dem Großvater das Portemonnaie entwendet. Als er ausstieg, umnachzuschauen, ob er es vielleicht trotzdem noch hatte, wurde der Zettel mitden Adressen der Verwandten gestohlen, die sie in Wilna erwarteten. Wie sieunter diesen Umständen in die Ulica Kalwaryjska gelangten, wissen wir nicht. Jedenfallserklärten sie das Reisen für zu gefährlich und anstrengend und blieben dort bisans Ende ihrer Tage. Sie lebten still und fromm, verdienten Geld und verlorenes bei verschiedenen Überfällen wieder, bis Großvater Antoni,nachdem er erneut bestohlen worden war, der Staatlichen Polizei beitrat und aufdiese Art und Weise seinen Umgang mit der Verbrecherwelt auf eineprofessionelle Ebene verlagerte.
So lebten sie also alle in Wilna und dachten nicht imTraum daran, daß sie einmal meine Großeltern seinwürden. Mit der Zeit kamen Kinder zur Welt. Zuerst bei Maria und Antoni. Das erste war ein Sohn. Sie nannten ihn Edward. Daszweite war ebenfalls ein Sohn, den sie Mieczys≥awnannten. Das dritte war Henryk, mein Vater. Danachkamen drei Töchter: Anna, Zofia, Kazimiera. Alle dreistarben. Großvater verfluchte sein Schicksal und verwünschte den lieben Gott,dann bat er ihn wieder um Erbarmen, bis der liebe Gott von Großvater Antoni endgültig die Nase voll hatte, worauf an dernächsten Geburt Großmutter Maria starb.
© dtv
- Autor: Marek Lawrynowicz
- 2000, 207 Seiten, Maße: 13 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406465730
- ISBN-13: 9783406465734
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