Der Tunnel
Roman
Vom Faschismus des Herzens
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Produktinformationen zu „Der Tunnel “
Vom Faschismus des Herzens
Klappentext zu „Der Tunnel “
Es gilt, einen literarischen Schatz zu heben: William Gass' Roman Der Tunnel von 1995, ein Meisterwerk und eine "Great American Novel", ausgezeichnet mit dem National Book Award und in der Kritik heiß umstritten - die Geschichte eines Naziforschers, der in sich den Faschisten entdeckt."Gass' monumentaler Roman ist unzweifelhaft brillant: hypnotisch, poetisch, schwierig, manchmal auch rasend komisch - das letzte Meisterwerk der amerikanischen Postmoderne."
Tages-Anzeiger Zürich
"Der wichtigste Roman eines Amerikaners dieser Generation."
The New Republic
Lese-Probe zu „Der Tunnel “
Der Tunnel von William H. GassDER TUNNEL
Was ich dir zu sagen habe, ist so lang wie das Leben,
aber ich werde mich beeilen wie jenes, und eh du dich's versiehst,
sind wir beide vergangen.
LEBEN IM STUHL
... mehr
Anfangs hatte ich die Absicht, eine Einleitung zu meinem Werk über die Deutschen zu schreiben. Obwohl es in dicken Ordnern neben mir liegt, weiß ich, dass ich es nicht kann. Stattdessen beherrschen mich nun Ausgänge ... lauter Fluchtwege.
Die Verlegenheit nötigt mir ein Lächeln ab. Eigentlich wollte ich meinen Gegnern mein Mitgefühl aussprechen. Hier in meiner Einleitung, die ich wie einen Triumphbogen über mir errichten wollte, gedachte ich mir selbst einen Kranz aufzusetzen. Aber jedes Mal, wenn ich die Feder ansetzte, kehrte sie sich zur Seite und gegen mich.
Während ich mir die Seiten meines Manuskripts ansehe oder die Bücherwände meines Arbeitszimmers anstarre, wird mir klar, dass ich abermals versuchen muss, dieses Gefängnis meines Lebens in Worte zu fassen.
Es wäre eine schlichte Zeremonie geworden: ein Kranz zu Ehren des Todes und meines Erfolges - die Verteidigung meiner Hypothese über Deutschland.
Wen hatte ich denn im Sinn, als ich mein Buch schrieb, wenn nicht die Welt? ... die Welt! ... die Welt ... die Welt ist William, wie er sich vor einer Wette drückt; sie ist Olive, wie sie einer Gans den Balg zunäht; sie ist Reynolds, wie er auf der Treppe des Verbindungshauses Rosie vergewaltigt; sie ist ein leiser Hauch, ein öder Nachmittag, ein angewiderter Ausruf. Und als ich schrieb, hatte ich da im Sinn, Ansehen zu gewinnen, wie gewöhnlich behauptet wird? Oder nach langem Zuwarten und kräftigem Zügeln meines Temperaments Rache zu üben? Aufzusteigen, mich wie ein losgemachter Ballon über die anderen zu erheben? Oder geschah es aus schwach ausgeprägter Selbstachtung? Aus schierem Bammel, aus irgendeiner fernen Kindheitsangst oder unlängst empfundenen Scham heraus? ... die Welt ... die Welt, ach. Sie ist Alice, wie sie ihren Tampon in den Müll wirft.
Begonnen habe ich, das weiß ich noch, weil ich das Gefühl hatte, ich müsste. Ich hatte in meiner Laufbahn jene bescheidene Höhe, jene sanfte Erhebung erreicht, von der aus ich im Leerlauf reibungslos in den Stillstand hätte gleiten können. Jetzt frage ich mich, wieso eigentlich nicht. Wieso nicht? Doch damals trieb mich die Pflicht vorwärts wie einen Soldaten. Ich befand, es sei Zeit für «das Große Buch», das lange Zeugnis meines Geistes, das ich meinen wiederholten Träumen zufolge haben musste: eine Pyramide, eine Säule, hoch genug, um den Himmel zufriedenzustellen. Die Pflicht trieb mich an, wie sie Männer in die Ehe treibt. Man erwartet Zeugung von uns, und in jenen Tagen der kräftigen Männer mit Helmen war die Saat gewiss und brauchte nur den Wind als Schoß oder irgendeinen Schlitz; doch was entsprang diesen Schützenlöchern, die wir mit unseren Fäusten fickten, anderes als unser eigenes verängstigtes Selbst? Und das mit einem Entsetzensschrei. Auch das - auch das wurde erwartet; sogar von schlaffen, entmännlichten Männern wie mir. Und jetzt, während ich immer noch in diesem Stuhl sitze, immer noch schreibe, Lettern wie Reißzwecken in die Seite hämmere, spreche ohne ein geneigtes Ohr, wessen Auge hoffe ich da auf mich zu ziehen, zu bezaubern und mit Tränen und Verständnis zu erfüllen, wenn nicht mein eigenes, mein eigenes gewöhnliches, unversöhnliches und gefühlloses Auge? ... mein Auge. Und so umkreisen mich Sätze wie eine Spielzeugeisenbahn. Was, wenn nicht das, was ich gesagt habe, hätte ich denn über den bocke, über Bigotterie, Barbarei, Blutgier und Bach sagen können, das nicht schon ebenso oft gesagt worden ist, wie ich meinen Traum vom Ruhm träumte? Was hätte ich erklären können, wo keine Vernunft existiert und keine Ursache hinreicht; welchen knusprig verbrannten Körper zum Schinken umdeuten können, wenn ich nicht die Richtung eingeschlagen hätte, die ich eingeschlagen habe?
Und letzte Nacht, bei fest geschlossenen Lidern, fuhr ich fort zu sehen, als wäre ich ein offenes Fenster. Voller Wind. Ich lag nicht in friedlicher Dunkelheit, jener Dunkelheit, die ich ersehnte, jenem Frieden, den ich brauchte. Mein ganzer Kopf war von Geräuschen erleuchtet, doch hätte kein sonntäglicher Park einsamer sein können: weggeworfene Gedanken, wie Abfall dem Wind überlassen und verweht. Da waren lange Straßen voller Schritte, Laubgeflatter ohne Laub oder Baum, Gebell, das ohne Widerhall blieb.
Meine Hypothese ... Mein Wort ... Meine Welt ... Mein Deutschland ...
Natürlich ist, obwohl mein Name darauf schließen lässt, dass irgendein ferner Vorfahr zweifellos aus dieser Richtung kam, nichts wirklich Deutsches an mir, denn mir gehen unbestritten mindestens drei Generationen von Amerikanern voraus. Meine Frau, eine heraldisch reich bestückte Muhlenberg, die Abstammungslinien und Blutsbanden - diesem ganzen Blendwerk - sehr viel stärker zugetan ist, als ich es je über mich bringen konnte, hat bereits fünf Schichten ihrer Ahnen durchtunnelt und zu ihrem anhaltenden Triumph und Entzücken festgestellt, dass auch die tiefste Schicht, die - freilich nur spatentief - unter der Sohle des neunzehnten Jahrhunderts liegt, noch auf amerikanischer Scholle ruht. So legen mein Name sowie der Umstand, dass ich fließend Deutsch spreche und viele Jahre in diesem beispielhaften Land verbracht habe (obwohl nichts wirklich Deutsches an mir ist), das deutsche Volk als Thema nahe. Zum ersten Mal war ich als Student Mitte der Dreißiger dort, und ich muss bekennen, dass ich mich in die Parteien-kämpfe dieser bewegten und bewegenden Zeiten hineinziehen ließ; doch mein zweiter Besuch erfolgte ironischerweise als Soldat hinter den Geschützen der First Army, und fast unmittelbar danach trat ich meinen Dienst als Sachverständiger für «dirty Fascist things» bei den Nürnberger Prozessen an. Eingangs der Fünfziger schließlich kaufte ich mich mit meinen vierzehnhundert Francs Ruhm -um das Diktum des französischen Rezensenten zu meinen Gunsten abzuwandeln - aus den Klauen des Militärs frei und durfte wieder Tourist, Lehrer und Gelehrter werden. Ja, ich hatte um diese Zeit schon einen gewissen trüben Ruf als Verfasser der Kohler-These über Naziverbrechen und deutsche Schuld, und dieser Ruf eilte mir voraus und wies mir den Weg, sodass ich auch eine bestimmte Art von Begrüßung über mich ergehen lassen musste, eine Begrüßung, die mir tiefes Unbehagen bereitete, denn man empfing und behandelte mich als Gleichen; das heißt als Deutschen, der schon immer Deutscher gewesen und daher Flüchtling war: Ich hieß schließlich William Frederick Kohler, oder etwa nicht? War ich nicht dick und blond, mit einer strahlend schönen, blonden Frau und einer Horde robuster Kinder, die furchtbar gern - Himmel hilf! - in kurzen Hosen wanderten? Warum also nicht? ... nein, da gab es kein Vertun, ich trug den Namen und konnte die Sprache, ich entsprach der Rolle, hatte mich während des Krieges klugerweise abgesetzt und natürlich auch (obwohl es niemand laut sagte, haftete mir genau dieses elende Etikett wie ein Judenstern an) dieses bemerkenswert vernünftige, auf Frieden bedachte Buch geschrieben, und das aus ganz kurzem, zeitlichem Abstand; ein Buch, das streng war - na gut, es war streng, vielleicht war es streng -, aber auch geduldig, gerecht und maßvoll, ein im Grunde christliches Buch, erklärten, während sie mir freundlich lächelnd die Hand schüttelten, sämtliche Kommentatoren, meine Gastgeberinnen, deren Gäste, alle meine neuen Freunde (als hätte die Geschichte Fieber); ja, so maßvoll und friedliebend (legte Herr Kohler kühl und lindernd die Hand auf), so geduldig und scharfsinnig (während er selbst zu bitterer Untätigkeit verdammt war) - mit einem Heinrich-Heine-Zitat unter dem Titel wie ein Grabstein mit Grab -, dass der französische Rezensent (und es gab zunächst nur den einen) aufs Papier geiferte (er hatte eine Nase wie ein Krummdolch, und eine Brille vergrößerte seine Augen): Wer vierzehnhundert Francs für pure Schändlichkeit ausgeben wolle, der komme auf seine Kosten. Mit diesem auf Frieden bedachten, friedenstiftenden, friedliebenden Buch. Ein guter Kauf.
Ein Freund von mir besorgte die französische Übersetzung, aber ich war es, der ohne jeden Komplizen mein Englisch an das Deutsche verriet. Zu zwölf Mark verkauft es sich nach wie vor gut. Ein kürzlich eingegangener Scheck ermöglichte mir die Renovierung meines Arbeitszimmers.
Absicht dieser Einleitung war
Die folgende Einleitung gilt einem Werk über den Tod von jemandem, der sein Leben in einem Stuhl verbracht hat.
Für meinen Vater konnte ich nicht viel Liebe aufbringen, und für meine Mutter ebenso wenig. Lieben lernte ich, wie sich herausstellte, erst lange, nachdem sie Zeit dafür hatten. So gingen sie ohne dahin. Niemand von uns trauert Seither habe ich dem Wahnsinn ein paar Schnippchen geschlagen, und jetzt hält mich das Leben fest, wie es einst auch sie festgehalten hat - mit trockener Faust. Herzen, die man so festhält, gehen irgendwann ein ... man kennt das von Bäumen. Einmal - nur ein einziges Mal - zersprang mir in diesem Griff blutig das Herz. Aber was hat das jetzt noch mit mir oder mit Deutschland zu tun?
Leben im Stuhl
Ja, ich habe zulange darin gesessen, kein Wunder, dass es schmerzt, obwohl er dem großen Tabor höchstpersönlich gehörte, der Stuhl, den ich mir aus Deutschland habe kommen lassen. Er dreht sich reibungslos, neigt sich ohne Geräusch. Morgens hielt Tabor Vorlesungen. Seine Nachmittage gehörten Gelehrten, Staatsmännern, Schriftstellern. Mein Tag beginnt, sagte er einmal zu mir, während seine Finger auf einem Papierhang grasten, wenn ich abends hier zur Ruhe komme und aus deutschen Worten, französischem Esprit und englischem Scharfblick griechische und römische Geschichte fabriziere. Dann krakelte er sich sein berühmtes Lächeln ins Gesicht, hastig, wie ein Autogramm; aber er war alt und bereits krank, und seine Hand zitterte. Aus deutschen Worten, sagte er, nicht aber aus deutscher Befindlichkeit. Das meinte er natürlich ironisch, aber es stimmte gleichwohl: Er wachte, weil seine Nachbarn schlummerten; er spionierte ihre Träume aus; irgendwann drang er sogar in sie ein und schwang drohend ein Messer in den Albträumen Europas. Magus Tabor. Mad Meg, wie man ihn nannte. Eines Tages sollte man von ihm sagen, er habe das Jahrzehnt getragen wie ein Diadem. Sein kahler Schädel schimmerte wie ein Waldteich. Es hat Zeiten gegeben, da war dieser Stuhl meine einzige Zuflucht, sagte er, und seine Lider schlossen sich über den hervortretenden Augen. Hinter ihnen - in Mad Megs Kopf - war die Nacht hereingebrochen. Sehen Sie, wie gehorsam sie ist; wie rasch sie, geschichtlicher Fortune nicht unähnlich, vergeht? Die Augen noch immer hinter den Lidern verborgen, drehte er sich schwungvoll mit seinem Stuhl. So fällt es auch mir leicht, die Position zu wechseln. Er lachte mit dem Stakkato eines wütenden Vogels, und ich brachte ein leises, verbindliches Schmunzeln zustande. Für ihn war es wirklich ein Traum, das alles: unser Gespräch, die Vorlesung am Vormittag, der Beifall, der sie unterbrach, und der lautstarke Tumult am Ende, die Berühmten und Mächtigen, die auf ihn warteten, während er mit einem unbedeutenden, jungen und wie geblendeten Amerikaner sprach. Diese tief verhangenen Augen erinnerten mich daran, dass wir mitten durch seinen Schlaf schwebten und ich bloß eine Geistererscheinung war, die sich verflüchtigen würde, kaum dass er in seinen kreisenden Stuhl sank - in die Vergangenheit sank - in den Tod - in die Geschichte. Das Studium der Geschichte, meine Herren
Das Studium der Geschichte
Der Saal war voll. Hunderte waren gekommen - Gedränge in den Türen, alle still. Die Köpfe der Großen entsprossen wie Blüten den Säulen an den Wänden: in aufsteigender Reihe auf einer Seite - Lessing, Herder, Hegel, Fichte, Schelling; in absteigender auf der anderen - Möser, Dilthey, Ranke, Troeltsch, Treitschke. Bei meinem ersten Mal in diesem Raum hatte ich neben der Büste von Treitschke gesessen und die Inschrift auf der darunter angebrachten Tafel gelesen:
NUR EIN STARKES HERZ, DAS DIE FREUDEN UND LEIDEN DES VATERLANDES WIE SEINE EIGENEN EMPFINDET, VERMAG EINER HISTORISCHEN DARSTELLUNG WAHRHAFTIGKEIT ZU VERLEIHEN.
Ich gebe es nur ungern zu, aber es dauerte eine ganze Weile, bis mir aufging, dass auch für Mad Meg die Wahrheit das Geschenk des Historikers an die Geschichte ist.
Nein
Das ist nicht annähernd stark genug. Und meine - ja was? - meine Naivität? Meine Eitelkeit? - irgendetwas - hinderte mich daran zu begreifen, was er so oft in so deutlichen Worten schrieb - ja predigte.
Die Seitenscheibe des Wagens ließ sich nicht hochkurbeln, und Lous Gesicht sah warm aus vom kalten Wind, wie frisch geohrfeigt, von Scham gerötet oder von Liebe erhitzt. Wie ein abgelegter Handschuh fiel meine Hand in ihre, sodass bald Kaltes in Kaltem lag, dachte ich, wie eine Flasche Champagner. Kalte Hand, feuchte Scham, sagte ich. Ihre Hand glitt davon.
Zugluft kitzelte meinen Hals. Ich schustere Geschichte zusammen, rief Tabor, als er mich wiedersah, und knuffte mich mit seinen riesigen, knotigen Fäusten in die Brust. Wir begegneten uns auf einer großen Veranstaltung, einem Empfang des Kanzlers der Universität, und ich hatte mich endlich bis auf die Treppe durchgewühlt, um die Menge zu überblicken und vielleicht ein, zwei Freunde zu finden, als ich ihn mitten im Saal entdeckte, wie er unter lauter Frisuren und Schultern still vor sich hin glühte, das einzig Lebendige zwischen den Topfpflanzen und Ritterrüstungen. Auf dem eisigen Marmorboden verteilten sich Orientteppiche und ständig größer werdende Menschengruppen. Er war allein, krank. Ihn an einem solchen Ort anzutreffen erstaunte mich. Ich schustere Geschichte zusammen, wie ein Schuster Schuhe zusammenschustert, sagte er. Elender Kerl, dachte ich: Mitten in einem solchen Rummel arbeitest du an einer Vorlesung. Wenn ich nicht wäre, würde das Römische Reich - hier ballte er die Hände zu einer festen weißen Kugel - nicht einen Augenblick - ich hörte sein heiseres Lachen aus der Menge aufperlen - zusammenhalten - und seine Hände flogen, die Finger gespreizt, mit verblüffender Heftigkeit auseinander. In dieser Geste lag eine schreckliche Energie, obwohl er damals schon ein kranker alter Mann war und schwach auf den Beinen. Seine Ohren schienen auf unnatürliche Weise an seinem Kopf befestigt zu sein, und seine Arme ragten aus den Löchern der Ärmel, als wäre das Fleisch wie Futter darin hängen geblieben. Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper und hätte meinen Kragen hochgeschlagen, wenn ich mich getraut hätte. Die Kronleuchter spien Licht. Das Klacken unzähliger auf Hochglanz gewienerter Schuhe hallte von den Marmorfliesen wider. Dann schob sich eine aufgebrachte Frau mit gepudertem Dekolleté zwischen uns, und ich war froh, mich davontragen lassen zu können. Armer Tabor. Seine Lippen bewegten sich immer noch, als er hinter einer ordensgeschmückten preußischen Brust verschwand. Verstohlen glitten kluge Blicke die Treppe hinunter. Stimmen waren makellos frisiert. Ein feuchter Mund befreite eine Wurst von ihrem Spießchen. Lange Kleider tuschelten wie leise Lüftchen miteinander, und ich sah mehrere Rücken, die geradezu darum baten, zärtlich gebissen zu werden. Bäuche steckten unter Schärpen. Infolgedessen waren nur tadellose Haltungen zu beobachten. Seit ich Anfang der Dreißiger nach Deutschland gekommen und zum Mann geworden war, hatte ich nur wenige solcher opulenten Anlässe erlebt. Man sah so viel blitzendes Metall, so viel Schmuck, so viele Kummerbunde und Bänder, ein sanft wogendes Meer aus von Seide bewegtem Licht, dass die vergoldete Decke wie warme Luft zurückwich und zum Himmel zu werden schien. So erblickte ich ihn zum ersten Mal (oder sah ihn jedenfalls fortgehen); und ich spürte, wie das Lächeln, das ich mir über dem Kinn ins Gesicht gezogen hatte, wie ein Strich unter dem letzten Rubbeln des Radiergummis verschwand. Egal. Damals war keine Treue gefragt, sondern Unterhaltung. Schmücke aus und lüge. Schildere die Szene deinen Quam-diu-Freunden: Link, Hintze und Krauske - Freunde, deren Bild verblasst ist, von keiner Wärme auch nur als fahler Schemen mehr sichtbar zu machen wie Zitronensaft auf Papier. Schildere - und gestalte lebendig und komisch, voller Sprachgewalt und Abwechslung - Mad Meg im Mahlstrom.
Ich blickte in die Runde, umfasste mein Glas wie eine Brust, begann mit der Verfertigung meiner Anekdote und ließ den Wein sterben.
...
Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Anfangs hatte ich die Absicht, eine Einleitung zu meinem Werk über die Deutschen zu schreiben. Obwohl es in dicken Ordnern neben mir liegt, weiß ich, dass ich es nicht kann. Stattdessen beherrschen mich nun Ausgänge ... lauter Fluchtwege.
Die Verlegenheit nötigt mir ein Lächeln ab. Eigentlich wollte ich meinen Gegnern mein Mitgefühl aussprechen. Hier in meiner Einleitung, die ich wie einen Triumphbogen über mir errichten wollte, gedachte ich mir selbst einen Kranz aufzusetzen. Aber jedes Mal, wenn ich die Feder ansetzte, kehrte sie sich zur Seite und gegen mich.
Während ich mir die Seiten meines Manuskripts ansehe oder die Bücherwände meines Arbeitszimmers anstarre, wird mir klar, dass ich abermals versuchen muss, dieses Gefängnis meines Lebens in Worte zu fassen.
Es wäre eine schlichte Zeremonie geworden: ein Kranz zu Ehren des Todes und meines Erfolges - die Verteidigung meiner Hypothese über Deutschland.
Wen hatte ich denn im Sinn, als ich mein Buch schrieb, wenn nicht die Welt? ... die Welt! ... die Welt ... die Welt ist William, wie er sich vor einer Wette drückt; sie ist Olive, wie sie einer Gans den Balg zunäht; sie ist Reynolds, wie er auf der Treppe des Verbindungshauses Rosie vergewaltigt; sie ist ein leiser Hauch, ein öder Nachmittag, ein angewiderter Ausruf. Und als ich schrieb, hatte ich da im Sinn, Ansehen zu gewinnen, wie gewöhnlich behauptet wird? Oder nach langem Zuwarten und kräftigem Zügeln meines Temperaments Rache zu üben? Aufzusteigen, mich wie ein losgemachter Ballon über die anderen zu erheben? Oder geschah es aus schwach ausgeprägter Selbstachtung? Aus schierem Bammel, aus irgendeiner fernen Kindheitsangst oder unlängst empfundenen Scham heraus? ... die Welt ... die Welt, ach. Sie ist Alice, wie sie ihren Tampon in den Müll wirft.
Begonnen habe ich, das weiß ich noch, weil ich das Gefühl hatte, ich müsste. Ich hatte in meiner Laufbahn jene bescheidene Höhe, jene sanfte Erhebung erreicht, von der aus ich im Leerlauf reibungslos in den Stillstand hätte gleiten können. Jetzt frage ich mich, wieso eigentlich nicht. Wieso nicht? Doch damals trieb mich die Pflicht vorwärts wie einen Soldaten. Ich befand, es sei Zeit für «das Große Buch», das lange Zeugnis meines Geistes, das ich meinen wiederholten Träumen zufolge haben musste: eine Pyramide, eine Säule, hoch genug, um den Himmel zufriedenzustellen. Die Pflicht trieb mich an, wie sie Männer in die Ehe treibt. Man erwartet Zeugung von uns, und in jenen Tagen der kräftigen Männer mit Helmen war die Saat gewiss und brauchte nur den Wind als Schoß oder irgendeinen Schlitz; doch was entsprang diesen Schützenlöchern, die wir mit unseren Fäusten fickten, anderes als unser eigenes verängstigtes Selbst? Und das mit einem Entsetzensschrei. Auch das - auch das wurde erwartet; sogar von schlaffen, entmännlichten Männern wie mir. Und jetzt, während ich immer noch in diesem Stuhl sitze, immer noch schreibe, Lettern wie Reißzwecken in die Seite hämmere, spreche ohne ein geneigtes Ohr, wessen Auge hoffe ich da auf mich zu ziehen, zu bezaubern und mit Tränen und Verständnis zu erfüllen, wenn nicht mein eigenes, mein eigenes gewöhnliches, unversöhnliches und gefühlloses Auge? ... mein Auge. Und so umkreisen mich Sätze wie eine Spielzeugeisenbahn. Was, wenn nicht das, was ich gesagt habe, hätte ich denn über den bocke, über Bigotterie, Barbarei, Blutgier und Bach sagen können, das nicht schon ebenso oft gesagt worden ist, wie ich meinen Traum vom Ruhm träumte? Was hätte ich erklären können, wo keine Vernunft existiert und keine Ursache hinreicht; welchen knusprig verbrannten Körper zum Schinken umdeuten können, wenn ich nicht die Richtung eingeschlagen hätte, die ich eingeschlagen habe?
Und letzte Nacht, bei fest geschlossenen Lidern, fuhr ich fort zu sehen, als wäre ich ein offenes Fenster. Voller Wind. Ich lag nicht in friedlicher Dunkelheit, jener Dunkelheit, die ich ersehnte, jenem Frieden, den ich brauchte. Mein ganzer Kopf war von Geräuschen erleuchtet, doch hätte kein sonntäglicher Park einsamer sein können: weggeworfene Gedanken, wie Abfall dem Wind überlassen und verweht. Da waren lange Straßen voller Schritte, Laubgeflatter ohne Laub oder Baum, Gebell, das ohne Widerhall blieb.
Meine Hypothese ... Mein Wort ... Meine Welt ... Mein Deutschland ...
Natürlich ist, obwohl mein Name darauf schließen lässt, dass irgendein ferner Vorfahr zweifellos aus dieser Richtung kam, nichts wirklich Deutsches an mir, denn mir gehen unbestritten mindestens drei Generationen von Amerikanern voraus. Meine Frau, eine heraldisch reich bestückte Muhlenberg, die Abstammungslinien und Blutsbanden - diesem ganzen Blendwerk - sehr viel stärker zugetan ist, als ich es je über mich bringen konnte, hat bereits fünf Schichten ihrer Ahnen durchtunnelt und zu ihrem anhaltenden Triumph und Entzücken festgestellt, dass auch die tiefste Schicht, die - freilich nur spatentief - unter der Sohle des neunzehnten Jahrhunderts liegt, noch auf amerikanischer Scholle ruht. So legen mein Name sowie der Umstand, dass ich fließend Deutsch spreche und viele Jahre in diesem beispielhaften Land verbracht habe (obwohl nichts wirklich Deutsches an mir ist), das deutsche Volk als Thema nahe. Zum ersten Mal war ich als Student Mitte der Dreißiger dort, und ich muss bekennen, dass ich mich in die Parteien-kämpfe dieser bewegten und bewegenden Zeiten hineinziehen ließ; doch mein zweiter Besuch erfolgte ironischerweise als Soldat hinter den Geschützen der First Army, und fast unmittelbar danach trat ich meinen Dienst als Sachverständiger für «dirty Fascist things» bei den Nürnberger Prozessen an. Eingangs der Fünfziger schließlich kaufte ich mich mit meinen vierzehnhundert Francs Ruhm -um das Diktum des französischen Rezensenten zu meinen Gunsten abzuwandeln - aus den Klauen des Militärs frei und durfte wieder Tourist, Lehrer und Gelehrter werden. Ja, ich hatte um diese Zeit schon einen gewissen trüben Ruf als Verfasser der Kohler-These über Naziverbrechen und deutsche Schuld, und dieser Ruf eilte mir voraus und wies mir den Weg, sodass ich auch eine bestimmte Art von Begrüßung über mich ergehen lassen musste, eine Begrüßung, die mir tiefes Unbehagen bereitete, denn man empfing und behandelte mich als Gleichen; das heißt als Deutschen, der schon immer Deutscher gewesen und daher Flüchtling war: Ich hieß schließlich William Frederick Kohler, oder etwa nicht? War ich nicht dick und blond, mit einer strahlend schönen, blonden Frau und einer Horde robuster Kinder, die furchtbar gern - Himmel hilf! - in kurzen Hosen wanderten? Warum also nicht? ... nein, da gab es kein Vertun, ich trug den Namen und konnte die Sprache, ich entsprach der Rolle, hatte mich während des Krieges klugerweise abgesetzt und natürlich auch (obwohl es niemand laut sagte, haftete mir genau dieses elende Etikett wie ein Judenstern an) dieses bemerkenswert vernünftige, auf Frieden bedachte Buch geschrieben, und das aus ganz kurzem, zeitlichem Abstand; ein Buch, das streng war - na gut, es war streng, vielleicht war es streng -, aber auch geduldig, gerecht und maßvoll, ein im Grunde christliches Buch, erklärten, während sie mir freundlich lächelnd die Hand schüttelten, sämtliche Kommentatoren, meine Gastgeberinnen, deren Gäste, alle meine neuen Freunde (als hätte die Geschichte Fieber); ja, so maßvoll und friedliebend (legte Herr Kohler kühl und lindernd die Hand auf), so geduldig und scharfsinnig (während er selbst zu bitterer Untätigkeit verdammt war) - mit einem Heinrich-Heine-Zitat unter dem Titel wie ein Grabstein mit Grab -, dass der französische Rezensent (und es gab zunächst nur den einen) aufs Papier geiferte (er hatte eine Nase wie ein Krummdolch, und eine Brille vergrößerte seine Augen): Wer vierzehnhundert Francs für pure Schändlichkeit ausgeben wolle, der komme auf seine Kosten. Mit diesem auf Frieden bedachten, friedenstiftenden, friedliebenden Buch. Ein guter Kauf.
Ein Freund von mir besorgte die französische Übersetzung, aber ich war es, der ohne jeden Komplizen mein Englisch an das Deutsche verriet. Zu zwölf Mark verkauft es sich nach wie vor gut. Ein kürzlich eingegangener Scheck ermöglichte mir die Renovierung meines Arbeitszimmers.
Absicht dieser Einleitung war
Die folgende Einleitung gilt einem Werk über den Tod von jemandem, der sein Leben in einem Stuhl verbracht hat.
Für meinen Vater konnte ich nicht viel Liebe aufbringen, und für meine Mutter ebenso wenig. Lieben lernte ich, wie sich herausstellte, erst lange, nachdem sie Zeit dafür hatten. So gingen sie ohne dahin. Niemand von uns trauert Seither habe ich dem Wahnsinn ein paar Schnippchen geschlagen, und jetzt hält mich das Leben fest, wie es einst auch sie festgehalten hat - mit trockener Faust. Herzen, die man so festhält, gehen irgendwann ein ... man kennt das von Bäumen. Einmal - nur ein einziges Mal - zersprang mir in diesem Griff blutig das Herz. Aber was hat das jetzt noch mit mir oder mit Deutschland zu tun?
Leben im Stuhl
Ja, ich habe zulange darin gesessen, kein Wunder, dass es schmerzt, obwohl er dem großen Tabor höchstpersönlich gehörte, der Stuhl, den ich mir aus Deutschland habe kommen lassen. Er dreht sich reibungslos, neigt sich ohne Geräusch. Morgens hielt Tabor Vorlesungen. Seine Nachmittage gehörten Gelehrten, Staatsmännern, Schriftstellern. Mein Tag beginnt, sagte er einmal zu mir, während seine Finger auf einem Papierhang grasten, wenn ich abends hier zur Ruhe komme und aus deutschen Worten, französischem Esprit und englischem Scharfblick griechische und römische Geschichte fabriziere. Dann krakelte er sich sein berühmtes Lächeln ins Gesicht, hastig, wie ein Autogramm; aber er war alt und bereits krank, und seine Hand zitterte. Aus deutschen Worten, sagte er, nicht aber aus deutscher Befindlichkeit. Das meinte er natürlich ironisch, aber es stimmte gleichwohl: Er wachte, weil seine Nachbarn schlummerten; er spionierte ihre Träume aus; irgendwann drang er sogar in sie ein und schwang drohend ein Messer in den Albträumen Europas. Magus Tabor. Mad Meg, wie man ihn nannte. Eines Tages sollte man von ihm sagen, er habe das Jahrzehnt getragen wie ein Diadem. Sein kahler Schädel schimmerte wie ein Waldteich. Es hat Zeiten gegeben, da war dieser Stuhl meine einzige Zuflucht, sagte er, und seine Lider schlossen sich über den hervortretenden Augen. Hinter ihnen - in Mad Megs Kopf - war die Nacht hereingebrochen. Sehen Sie, wie gehorsam sie ist; wie rasch sie, geschichtlicher Fortune nicht unähnlich, vergeht? Die Augen noch immer hinter den Lidern verborgen, drehte er sich schwungvoll mit seinem Stuhl. So fällt es auch mir leicht, die Position zu wechseln. Er lachte mit dem Stakkato eines wütenden Vogels, und ich brachte ein leises, verbindliches Schmunzeln zustande. Für ihn war es wirklich ein Traum, das alles: unser Gespräch, die Vorlesung am Vormittag, der Beifall, der sie unterbrach, und der lautstarke Tumult am Ende, die Berühmten und Mächtigen, die auf ihn warteten, während er mit einem unbedeutenden, jungen und wie geblendeten Amerikaner sprach. Diese tief verhangenen Augen erinnerten mich daran, dass wir mitten durch seinen Schlaf schwebten und ich bloß eine Geistererscheinung war, die sich verflüchtigen würde, kaum dass er in seinen kreisenden Stuhl sank - in die Vergangenheit sank - in den Tod - in die Geschichte. Das Studium der Geschichte, meine Herren
Das Studium der Geschichte
Der Saal war voll. Hunderte waren gekommen - Gedränge in den Türen, alle still. Die Köpfe der Großen entsprossen wie Blüten den Säulen an den Wänden: in aufsteigender Reihe auf einer Seite - Lessing, Herder, Hegel, Fichte, Schelling; in absteigender auf der anderen - Möser, Dilthey, Ranke, Troeltsch, Treitschke. Bei meinem ersten Mal in diesem Raum hatte ich neben der Büste von Treitschke gesessen und die Inschrift auf der darunter angebrachten Tafel gelesen:
NUR EIN STARKES HERZ, DAS DIE FREUDEN UND LEIDEN DES VATERLANDES WIE SEINE EIGENEN EMPFINDET, VERMAG EINER HISTORISCHEN DARSTELLUNG WAHRHAFTIGKEIT ZU VERLEIHEN.
Ich gebe es nur ungern zu, aber es dauerte eine ganze Weile, bis mir aufging, dass auch für Mad Meg die Wahrheit das Geschenk des Historikers an die Geschichte ist.
Nein
Das ist nicht annähernd stark genug. Und meine - ja was? - meine Naivität? Meine Eitelkeit? - irgendetwas - hinderte mich daran zu begreifen, was er so oft in so deutlichen Worten schrieb - ja predigte.
Die Seitenscheibe des Wagens ließ sich nicht hochkurbeln, und Lous Gesicht sah warm aus vom kalten Wind, wie frisch geohrfeigt, von Scham gerötet oder von Liebe erhitzt. Wie ein abgelegter Handschuh fiel meine Hand in ihre, sodass bald Kaltes in Kaltem lag, dachte ich, wie eine Flasche Champagner. Kalte Hand, feuchte Scham, sagte ich. Ihre Hand glitt davon.
Zugluft kitzelte meinen Hals. Ich schustere Geschichte zusammen, rief Tabor, als er mich wiedersah, und knuffte mich mit seinen riesigen, knotigen Fäusten in die Brust. Wir begegneten uns auf einer großen Veranstaltung, einem Empfang des Kanzlers der Universität, und ich hatte mich endlich bis auf die Treppe durchgewühlt, um die Menge zu überblicken und vielleicht ein, zwei Freunde zu finden, als ich ihn mitten im Saal entdeckte, wie er unter lauter Frisuren und Schultern still vor sich hin glühte, das einzig Lebendige zwischen den Topfpflanzen und Ritterrüstungen. Auf dem eisigen Marmorboden verteilten sich Orientteppiche und ständig größer werdende Menschengruppen. Er war allein, krank. Ihn an einem solchen Ort anzutreffen erstaunte mich. Ich schustere Geschichte zusammen, wie ein Schuster Schuhe zusammenschustert, sagte er. Elender Kerl, dachte ich: Mitten in einem solchen Rummel arbeitest du an einer Vorlesung. Wenn ich nicht wäre, würde das Römische Reich - hier ballte er die Hände zu einer festen weißen Kugel - nicht einen Augenblick - ich hörte sein heiseres Lachen aus der Menge aufperlen - zusammenhalten - und seine Hände flogen, die Finger gespreizt, mit verblüffender Heftigkeit auseinander. In dieser Geste lag eine schreckliche Energie, obwohl er damals schon ein kranker alter Mann war und schwach auf den Beinen. Seine Ohren schienen auf unnatürliche Weise an seinem Kopf befestigt zu sein, und seine Arme ragten aus den Löchern der Ärmel, als wäre das Fleisch wie Futter darin hängen geblieben. Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper und hätte meinen Kragen hochgeschlagen, wenn ich mich getraut hätte. Die Kronleuchter spien Licht. Das Klacken unzähliger auf Hochglanz gewienerter Schuhe hallte von den Marmorfliesen wider. Dann schob sich eine aufgebrachte Frau mit gepudertem Dekolleté zwischen uns, und ich war froh, mich davontragen lassen zu können. Armer Tabor. Seine Lippen bewegten sich immer noch, als er hinter einer ordensgeschmückten preußischen Brust verschwand. Verstohlen glitten kluge Blicke die Treppe hinunter. Stimmen waren makellos frisiert. Ein feuchter Mund befreite eine Wurst von ihrem Spießchen. Lange Kleider tuschelten wie leise Lüftchen miteinander, und ich sah mehrere Rücken, die geradezu darum baten, zärtlich gebissen zu werden. Bäuche steckten unter Schärpen. Infolgedessen waren nur tadellose Haltungen zu beobachten. Seit ich Anfang der Dreißiger nach Deutschland gekommen und zum Mann geworden war, hatte ich nur wenige solcher opulenten Anlässe erlebt. Man sah so viel blitzendes Metall, so viel Schmuck, so viele Kummerbunde und Bänder, ein sanft wogendes Meer aus von Seide bewegtem Licht, dass die vergoldete Decke wie warme Luft zurückwich und zum Himmel zu werden schien. So erblickte ich ihn zum ersten Mal (oder sah ihn jedenfalls fortgehen); und ich spürte, wie das Lächeln, das ich mir über dem Kinn ins Gesicht gezogen hatte, wie ein Strich unter dem letzten Rubbeln des Radiergummis verschwand. Egal. Damals war keine Treue gefragt, sondern Unterhaltung. Schmücke aus und lüge. Schildere die Szene deinen Quam-diu-Freunden: Link, Hintze und Krauske - Freunde, deren Bild verblasst ist, von keiner Wärme auch nur als fahler Schemen mehr sichtbar zu machen wie Zitronensaft auf Papier. Schildere - und gestalte lebendig und komisch, voller Sprachgewalt und Abwechslung - Mad Meg im Mahlstrom.
Ich blickte in die Runde, umfasste mein Glas wie eine Brust, begann mit der Verfertigung meiner Anekdote und ließ den Wein sterben.
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Autoren-Porträt von William H. Gass
Gass, William H.William Howard Gass, geb. 1924 in Fargo, North Dakota, wuchs in Ohio auf. Studium der Literaturwissenschaften, 1954 Promotion an der Cornell University mit einer Arbeit über Metaphern. Gass, Rilke-Spezialist und -Übersetzer,lehrte an mehreren Hochschulen, zuletzt von 1969 bis 1999 als Professor an der Washington University in St. Louis, Missouri.Für seinen Roman Der Tunnel erhielt er 1996 den American Book Award. Auch für sein essayistisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Pushcart Prize und dem National Book Critics Circle Award.William Gass starb im Dezember 2017.
Stingl, Nikolaus
Nikolaus Stingl, geb. 1952 in B.-Baden, übersetzte unter anderem William Gaddis, William Gass, Graham Greene, Cormac McCarthy und Thomas Pynchon. Er wurde mit dem Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart, dem Paul- Celan-Preis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: William H. Gass
- 2011, 2, 1092 Seiten, Maße: 15,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Nikolaus Stingl
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498024884
- ISBN-13: 9783498024888
- Erscheinungsdatum: 16.09.2011
Rezension zu „Der Tunnel “
"Gass monumentaler Roman ist unzweifelhaft brillant: hypnotisch, poetisch, schwierig, manchmal auch rasend komisch das letzte Meisterwerk der amerikanischen Postmoderne." (Tages-Anzeiger Zürich)"Der wichtigste Roman eines Amerikaners dieser Generation." (The New Republic)
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