Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Ein ehemaliger Inspektor des Pariser Innenministeriums versteckt den leicht beknackten Akkordeonspieler Clément, der des Mordes an zwei jungen Frauen schwer verdächtig ist, bei seinen drei...
Ein ehemaliger Inspektor des Pariser Innenministeriums versteckt den leicht beknackten Akkordeonspieler Clément, der des Mordes an zwei jungen Frauen schwer verdächtig ist, bei seinen drei Historikerfreunden Mathieu, Marc und Lucien. Die sind hell begeistert über den mörderischen Gast. "Eine Autorin von unverwechselbarer Tonart in der Kriminalliteratur der Gegenwart. Die Personen, die ihre Romane bevölkern, sind ebenso Anarchisten und Traumtänzer wie ernsthafte Wissenschaftler. Ob Antike-Fans oder Tiefseeforscher - ihr Blick setzt gegen Konformismus und etablierte Ordnung die Waffen der Phantasie und des Humors." Magazine littéraire
Ein ehemaliger Inspektor des Pariser Innenministeriums versteckt den leicht beknackten Akkordeonspieler Clément, der des Mordes an zwei jungen Frauen schwer verdächtig ist, bei seinen drei Historikerfreunden Mathieu, Marc und Lucien. Die sind hell begeistert über den mörderischen Gast.
"Eine Autorin von unverwechselbarer Tonart in der Kriminalliteratur der Gegenwart. Die Personen, die ihre Romane bevölkern, sind ebenso Anarchisten und Traumtänzer wie ernsthafte Wissenschaftler. Ob Antike-Fans oder Tiefseeforscher - ihr Blick setzt gegen Konformismus und etablierte Ordnung die Waffen der Phantasie und des Humors." -- Magazine littéraire
Der untröstliche Witwer von Montparnasse von Fred Vargas
LESEPROBE
1
»Ein zweites Mordopfer in Parisaufgefunden. Siehe S. 6«
Louis Kehlweiler warf die Zeitungauf den Tisch. Er hatte die Nase voll davon und nicht die Absicht, sich aufSeite sechs zu stürzen. Später, wenn die ganze Geschichte sich beruhigt hätte,würde er den Artikel vielleicht ausschneiden und abheften.
Er ging in die Küche und machte einBier auf. Es war das vorletzte aus dem Vorrat. Mit dem Kuli schrieb er sich eingroßes »B« auf den Handrücken. Diese drükkende Julihitzezwang einen, den Verbrauch gewaltig zu steigern. Heute abend würde er die neuesten Nachrichten über dieRegierungsumbildung, den Streik der Bahnarbeiter und die auf die Straßengekippten Melonen lesen. Und Seite sechs würde er friedlich überblättern.
Mit offenem Hemd und der Flasche inder Hand machte sich Louis wieder an die Arbeit. Er übersetzte eineumfangreiche Bismarck-Biographie. Das wurde gut bezahlt, und er rechnete damit,dem Kanzler des Deutschen Reichs noch einige Monate auf der Tasche zu liegen.Er übersetzte eine Seite, dann unterbrach er die Arbeit und nahm die Hände vonder Tastatur. Seine Gedanken hatten Bismarck verlassen, um sich einem Behältermit Deckel zuzuwenden, in dem er seine Schuhe aufbewahren könnte und der sichim Wandschrank sehr ordentlich machen würde.
Ziemlich unzufrieden schob er denStuhl zurück, ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und fuhr sichdurchs Haar. Der Regen fiel auf das Blechdach, mit derÜbersetzung ging es gut voran, und es gab keinen Grund, sich so anzustellen.Nachdenklich fuhr er seiner Kröte, die auf dem Schreibtisch in einerStiftablage schlief, mit einem Finger über den Rücken. Er beugte sich vor,blickte wieder auf den Bildschirm und las halblaut den Satz, den er geradeübersetzte: »Es ist wenig wahrscheinlich, daßBismarck bereits zu Beginn des Monats Mai vorgehabt hatte, ...« Dann fiel seinBlick wieder auf die zusammengelegte Zeitung auf dem Schreibtisch.
Ein zweites Mordopfer in Parisaufgefunden. Siehe S. 6. O. k., weiter. Das ging ihn nichts an. Erwandte sich wieder dem Bildschirm zu, wo der deutsche Reichskanzler wartete. Ermußte sich nicht um Seite sechs kümmern. Es war ganzeinfach nicht mehr sein Job. Sein Job bestand jetzt darin, Sachen aus demDeutschen ins Französische zu übersetzen und so gut wie möglich auszudrücken,warum Bismarck zu Anfang dieses Monats Mai etwas ganz Bestimmtes nicht hattevorhaben können. Das war ein ruhiger Job, er ernährte ihn, und außerdem lernteer noch was dabei.
Louis tippte zwanzig Zeilen. Er warbei »denn in der Tat deutete nichts darauf hin, daßer darüber verärgert war«, als er erneut die Arbeit unterbrach. Seine Gedankenwaren wieder bei dieser Sache mit dem Behälter angelangt, und er versuchtehartnäckig, das Problem mit dem Berg Schuhe zu klären.
Louis erhob sich, holte das letzteBier aus dem Kühlschrank, blieb dort stehen und trank in kleinen Schlucken ausder Flasche. Er durchschaute die Sache. Die Tatsache, daßseine Gedanken sich hartnäckig in häusliche Fragen verrannten, war einbedenkliches Zeichen. Louis kannte dieses Zeichen sehr gut, es deutete aufFlucht. Flucht vor Projekten, ein Rückzug von Ideen, diskretes geistiges Elend.Weniger die Tatsache, daß er an den Berg von Schuhendachte, bereitete ihm Sorgen. Jeder Mensch kann nebenbei an so etwas denken,ohne daß man daraus gleich eine große Geschichtemacht. Nein, es war die Tatsache, daß ihm dieseBeschäftigung Spaß machte.
Louis trank zwei Schlucke. Dannwaren da noch die Hemden, er hatte sogar schon daran gedacht, die Hemdenaufzuräumen, das war noch keine Woche her.
Kein Zweifel, Flucht. Nur Typen, dieüberhaupt nicht mehr wissen, was sie mit sich anstellen sollen, beschäftigtensich mangels Möglichkeit, die Welt zu verbessern, damit, ihren Kleiderschrankneu zu ordnen. Er stellte die Flasche auf die Theke und ging ins Zimmer zurück,um sich die Zeitung genauer anzusehen. Denn im Grunde war er wegen dieser Mordean den Rand des häuslichen Elends gelangt und nahe dran, seinen komplettenHaushalt umzukrempeln. Nicht wegen Bismarck. Nein. Er hatte keine großenProbleme mit diesem Typen, der ihm seinen Lebensunterhalt sicherte. Darum ginges nicht.
Es ging um die verdammten Morde.Zwei tote Frauen in zwei Wochen, von denen das ganze Land redete und über dieer so gründlich nachdachte, als hätte er ein Recht, über sie und ihren Mördernachdenken zu dürfen, wo ihn das doch überhaupt nichts mehr anging.
Nach dem Fall mit dem Hundehaufenauf dem Eisengitter hatte er beschlossen, sich nicht mehr in die Verbrechendieser Welt einzumischen, da er es lächerlich fand, eine Karriere alsunbezahlter Kriminalist anzufangen, nur weil er in fünfundzwanzig JahrenTätigkeit im Innenministerium solche schmutzigen Gewohnheiten erworben hatte.Solange er noch mit einer Mission betraut war, war ihm seine Arbeit immerstatthaft vorgekommen. Jetzt, wo er allein seiner schlechten Laune ausgesetztwar, schien ihm die Arbeit eines Ermittlers immer mehr der fragwürdigenTätigkeit eines Schnüfflers und Skalpjägers zu ähneln. Wenn man ganz alleineinem Verbrechen nachschnüffelte, obwohl niemand einen dazu aufgefordert hatte,wenn man sich auf die Zeitungen stürzte, Artikel anhäufte - was war das anderesals eine heikle Zerstreuung und ein zweifelhaftes Lebensmotiv?
So hatte Kehlweiler, ein Mann, dersich rasch selbst verdächtigte, bevor er andere verdächtigte, der freiwilligenkriminalistischen Arbeit, die ihm plötzlich zwischen Perversion und Groteske zupendeln schien, den Rücken gekehrt; und doch drängte ein dunkler Teil seinesIchs immer wieder dahin. Jetzt, wo er sich stoisch auf die alleinigeGesellschaft von Bismarck beschränkt hatte, überraschte er seine Gedankendabei, wie sie im Irrgarten überflüssiger Häuslichkeit herumtollten. MitPlastikschachteln fängt es an, und man weiß nicht, wo es enden wird.
Louis ließ die leere Flasche in denMülleimer fallen. Er warf einen Blick auf den Schreibtisch, wo drohend diezusammengefaltete Zeitung lag. Bufo, die Kröte, warvorübergehend aus dem Schlaf erwacht und hatte sich auf der Zeitungbreitgemacht. Louis hob sie vorsichtig hoch. Er fand, seine Kröte war einBetrüger. Sie tat so, als sei sie im Winterschlaf, unddas mitten im Sommer, aber das war eine Finte, sie bewegte sich, sobald man sienicht mehr ansah. Um die Wahrheit zu sagen: Bufohatte unter dem Einfluß der Häuslichkeit all ihrWissen zum Thema Winterschlaf verloren, weigerte sich aber aus Stolz, daszuzugeben.
»Du bist ein dämlicher Purist«,sagte Louis zu ihr und setzte sie wieder in die Stiftablage. »Dein albernerWinterschlaf beeindruckt niemanden, was denkst du dir? Du brauchst nur das zutun, wozu du in der Lage bist, und Schluß.«
Mit einer langsamen Bewegung zog erdie Zeitung zu sich heran.
Er zögerte eine Sekunde, dann schluger Seite sechs auf. Ein zweites Mordopfer in Paris aufgefunden.
© Aufbau Verlag
Übersetzung: Tobias Scheffel
Fred Vargas, geboren 1957 und von Haus aus Archäologin. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin und eine Schriftstellerin von Weltrang, übersetzt in 40 Sprachen. Sie erhielt für "Fliehe weit und schnell" den Deutschen Krimipreis, für ihr Gesamtwerk wurde sie mit dem Europäischen Krimipreis ausgezeichnet.
Bei Aufbau liegen in Übersetzung vor:
Die schöne Diva von Saint-Jacques, Der untröstliche Witwer von Montparnasse, Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord, Bei Einbruch der Nacht, Das Orakel von Port-Nicolas, Im Schatten des Palazzo Farnese, Fliehe weit und schnell, Der vierzehnte Stein, Vom Sinn des Lebens, der Liebe und dem Aufräumen von Schränken, Die dritte Jungfrau, Die schwarzen Wasser der Seine, Das Zeichen des Widders, Der verbotene Ort, Die Tote im Pelzmantel, Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben
Scheffel, Tobias
Tobias Scheffel, geboren 1964, studierte Romanistik, Geschichte und Geografie an den Universitäten von Tübingen, Tours (Frankreich) und Freiburg. Er hat u. a. Fred Vargas, Gustave Flaubert, Catherine Clément und Frédéric Beigbeder aus dem Französischen übersetzt.
- Autor: Fred Vargas
- 2016, 26. Aufl., 278 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Scheffel, Tobias
- Übersetzer: Tobias Scheffel
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746615119
- ISBN-13: 9783746615110
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