Der verlorene Troll
Das atemberaubende Fantasyabenteuer eines Jungen, der unter Trollen aufwächst.
In einer Welt der Trolle, Dämonen und Dolchzahnlöwen macht sich der Findeljunge Claye auf die Suche nach seinem Schicksal. Er erlebt Krieg und Verrat, aber auch Freundschaft...
In einer Welt der Trolle, Dämonen und Dolchzahnlöwen macht sich der Findeljunge Claye auf die Suche nach seinem Schicksal. Er erlebt Krieg und Verrat, aber auch Freundschaft...
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Buch (Kartoniert)
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der verlorene Troll “
Das atemberaubende Fantasyabenteuer eines Jungen, der unter Trollen aufwächst.
In einer Welt der Trolle, Dämonen und Dolchzahnlöwen macht sich der Findeljunge Claye auf die Suche nach seinem Schicksal. Er erlebt Krieg und Verrat, aber auch Freundschaft und Liebe und erkennt, dass er der Umgebung, in der er aufgewachsen ist, entfliehen muss, um sich selbst zu finden.
In einer Welt der Trolle, Dämonen und Dolchzahnlöwen macht sich der Findeljunge Claye auf die Suche nach seinem Schicksal. Er erlebt Krieg und Verrat, aber auch Freundschaft und Liebe und erkennt, dass er der Umgebung, in der er aufgewachsen ist, entfliehen muss, um sich selbst zu finden.
Klappentext zu „Der verlorene Troll “
Lord Gruethrists Burg wird von feindlichen Eindringlingen belagert. Aus dem Getümmel entkommen ein loyaler Ritter und eine hübsche Amme mit dem ihr anvertrauten Säugling Claye. Sie haben den Auftrag, den kleinen Erben des Lords in Sicherheit zu bringen - aber ihre verzweifelte Flucht durch ein vom Krieg heimgesuchtes Land, das von wilden und fantastischen Kreaturen bevölkert ist, endet tragisch. Sie verlieren den Säugling an eine Trollmutter, die um ihr eigenes totes Kind trauert.Der Junge, der den Namen"Made"erhält, wächst unter riesenhaften Bergtrollen auf, die immer wieder drohen, ihn wegen seiner menschlichen Herkunft zu töten oder auszustoßen. Als er fast erwachsen ist, macht er sich auf, zu seinem Volk zurückzukehren mit der Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Auf seiner Suche wird er in einen furchtbaren Krieg verwickelt. Er muss nun herausfinden, wem er ähnlicher ist: den Trollen, die ihn aufzogen, oder den Menschen, von denen er abstammt.
Charles Coleman Finlay entwirft in seinem Romandebüt eine gefahrvolle Welt mit farbig geschilderten Protagonisten. Ein Fantasyroman, den man nicht so schnell vergisst! Ein Erlebnis nicht nur für jugendliche Leser.
Lese-Probe zu „Der verlorene Troll “
Kapitel 1Drei Menschen drängten sich in einem engen Gang. In der Dunkelheit konnten sie den Weg vor sich kaum erkennen. Während Yvon noch einmal den Knoten prüfte, wiegte die Amme den betäubten Säugling in den Armen und murmelte: "Oh, Claye. Mein armer Schatz, mein armer, armer Schatz."
Yvon zog am Seil und überzeugte sich davon, dass es sicher am Pfosten befestigt war. Dann nahm er das zusammengerollte Ende und trat vorsichtig um die Frau und das Kind herum. "Bitte entschuldigt, Lady Xaragitte."
Sie sprach liebevoll mit dem Kind, ohne auf ihn zu achten. Als er die Kammer betrat, wehte eine Brise den Gestank von Unrat durch das Sitzloch hinein. Er ließ das Seil fallen, tastete nach der Steinplatte und versuchte vergeblich, sie zur Seite zu wuchten. Das wochenlange Fasten während der Belagerung hatte ihn geschwächt.
"Braucht Ihr Hilfe ?", fragte eine atemlose, hohe Stimme. Yvon drehte den Kopf zur Tür. Dort stand Kepit, der Eunuch, Lord Gruethrists Verwalter, mit einer Kerze in der Hand, die sein rundes Gesicht erhellte.
"Nein, Mylady", erwiderte Yvon höflich. "Ich schaffe das."
Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich erneut gegen die Platte. Stein schabte auf Stein, als sie endlich beiseiteglitt. Yvon warf das Seil durch das Loch und verfolgte seinen Fall. Aus der Dunkelheit in die Dunkelheit - genau wie das Leben, dachte er.
Er schaute auf und sah gerade noch, wie der Eunuch mit drei Fingern Stirn, Kinn und Brust berührte und dabei die Namen zweier Götter murmelte. "Solltet Ihr eines Tages doch beschließen, das Kleid zu wählen", sagte Kepit, "wird unsere Herrin dafür sorgen, dass Ihr meinen Besitz erhaltet."
Yvon wusste die Ehre zu schätzen, aber aus anderen Gründen als den Vorzügen, die Rang oder Besitz boten. Einen Lidschlag lang ruhte sein Blick auf Xaragittes Umriss hinter dem Eunuchen.
"Wenn ich an dem Seil zupfe, ist es sicher. Verstanden ?"
Der Eunuch nickte.
Yvon packte den Strick und ließ sich durch das Loch hinab.
... mehr
Trotz seiner hageren Gestalt hatte er Mühe, sich durch den Hohlraum zu zwängen. Als er unter der Kammer wieder zum Vorschein kam, stemmte er die Füße gegen den Fels. Er schaute sich um, entdeckte aber keine Anzeichen von den Belagerern. Um herauszufinden, wo sie steckten, reckte er den Kopf in die andere Richtung.
Der vordere Teil der Burg brannte, Flammen leckten wie Löwenzungen am Himmel. Die Eichenbalken am Dach der großen Halle verwandelten sich in Blätter aus schwarzer Asche, ein wogender Wald aus Rauch, der die Sterne verdeckte. Die Belagerer hatten ihre Posten verlassen, sie drängten sich um das Haupttor und starrten auf die Feuersbrunst wie Motten, die von einer Kerze angelockt werden - so wie Lord Gruethrist es vorhergesagt hatte, ehe er mehrere mit Öl gefüllte Häute nahm, zu den Dachsparren emporkletterte und die Burg in Brand setzte, die er einst mit eigenen Händen erbaut hatte.
Yvon hangelte sich hastig in die Tiefe und landete auf einem kleinen Wall inmitten des schmutzigen Wassers. Er zog am Seil, und sogleich verschwand es in der Dunkelheit über ihm. Der stechende Dunst ließ seine Augen blinzeln, und er hielt die Luft an, um den fauligen Gestank der Abwässer nicht einzuatmen.
Ein Mann, allein, in der Dunkelheit, auf einer Insel aus Scheiße - das war an sich schon eine angemessene Beschreibung sämtlicher schlechter Momente in Yvons Leben, doch zum ersten Mal entsprach es voll und ganz der Wahrheit. Der kleine Hügel aus alten Exkrementen und Unrat unter seinen Füßen wurde von üppig wuchernden Rebengewächsen zusammengehalten, tiefer verwurzelt und noch widerspenstiger als die Bergbauern in ihren Tälern. Zwischen dem Unkraut wuchsen sogar ein paar Büsche, darunter ein früh blühender Knisterbeerenstrauch, voll mit winzigen Früchten.
Yvons Magen knurrte laut nach der langen Belagerung.
Immer noch war unter den Schatten jenseits des Wassergrabens keine Bewegung zu erkennen. Um zu prüfen, ob seine Ausrüstung vollständig war, tastete er rasch nach dem Messer in seinem Stiefel, dem Dolch an seinem Gürtel und dem kurzen Schwert unter seinem Mantel. Dann strichen seine Finger über seinen Nacken, wo vor kurzem noch sein Zopf gebaumelt hatte. Ohne ihn hatte er keinen Beweis dafür, dass er ein Ritter war, und damit nicht länger das Recht, Stahlklingen bei sich zu tragen.
Ein gedämpftes Stöhnen erklang über ihm. Große Füße strampelten in dem engen, eckigen Loch. Xaragitte hatte als Einzige während der Belagerung volle Rationen erhalten; nun war sie steckengeblieben.
Mit jedem Herzschlag alterte Yvon um ein weiteres Jahr. Wenn es so weiterging, würde er zusammenschrumpeln wie ein alter Mann, sterben und die Maden nähren, würden seine Knochen in alle Winde zerstreut werden, ehe die Amme den Boden erreichte. Zittrig vor Hunger pflückte er eine Handvoll der grünen Knisterbeeren und schob sie sich in den Mund. Sie waren so unreif, dass ihm der bittere Geschmack durch und durch ging. Sein Magen krampfte sich zusammen, halb zufriedengestellt, halb protestierend. Er sammelte eine weitere Handvoll und schluckte sie ohne zu kauen hinunter.
Xaragittes Füße verschwanden und tauchten eine Sekunde später wieder im Loch auf. Ihre bleichen, hübschen Beine zappelten und strampelten, bis ihr rundes Hinterteil durch das Loch glitt und sie wie ein Stein nach unten fiel. Yvon wappnete sich, sie aufzufangen, doch kurz über dem Boden wurde ihr Fall mit einem Ruck gebremst. Sie versuchte, ihren Rock über die Knie zu ziehen, und geriet ins Trudeln. "Vorsicht, berührt nicht den Fels, er ist ganz schmutzig", flüsterte er.
Trotz seiner Warnung streifte sie das Gestein. Das Seil setzte sich in Bewegung, und wieder sackte sie unvermittelt nach unten. Yvon schlang die Arme um ihren Leib und fing sie auf. Ihr weiches Fleisch presste sich gegen ihn und hinterließ einen brennenden Schmerz, wie eine unerwartete Wunde. Hastig setzte er sie ab und tastete nach dem Knoten an ihrer Taille. "Gebt acht, wo Ihr hintretet, Mylady."
"Tut doch nicht so, als wäre ich von edler Herkunft, zu fein, um mir die Hände schmutzig zu machen." Sie wischte die Handflächen an ihrem Rock ab. "Ich habe schon Schlimmeres von Kinderpopos gewischt."
Wo ... ? "Wo ist der Junge ?"
Sie schaute nach oben. "Wir haben nicht zusammen durch das Loch gepasst."
Noch eine Verzögerung ! Stimmen drangen vom anderen Ende des Schlosses herüber, vermischt mit dem Knistern des Feuers. Sobald der Knoten gelöst war, riss er am Seil. Wie ein Dämon, der unter Wasser dahinglitt, verschwand es durch das Loch.
Xaragitte starrte nach oben, und Yvon beobachtete sie. Sie hatte die seltenen roten Haare der Göttin Bwnte. Ihr Liebhaber war ein gewöhnlicher Soldat gewesen, Kady, und noch vor der Belagerung im Kampf gegen die Männer des Barons gestorben, kurz nachdem ihre kleine Tochter der Hustenkrankheit erlegen war. Yvon konnte sein Interesse an ihr nicht offen kundtun, wenn er die Formen des Anstands wahren wollte. Aber wenn er nur etwas Zeit mit ihr verbrachte, würde er ihr seine Gefühle offenbaren können. Sicher, er war zwei Jahrzehnte älter als sie, aber Lord Gruethrist war um genausoviel älter als die neue Herrin, und sie verstanden sich bestens.
Das würde Yvon ihr sagen. Es könnte funktionieren. Hoffentlich! Für diese Möglichkeit riskierte er nicht nur sein Leben, sondern alles, was er in seinem Leben je erreicht hatte. Über ihnen erschien das Seil, diesmal an einen Korb geknotet. Eine Glocke läutete.
Xaragitte grub ihre Finger in das harte Fleisch von Yvons Arm. "Sie haben uns entdeckt!"
"Nein", sagte er, froh, dass sie nicht gemerkt hatte, wie er zusammengezuckt war. "Das ist nur wegen des Feuers. Das ist gut - sollten einige der Soldaten des Barons die riesige Flammensäule aus Blindheit nicht bemerkt haben, werden sie die Glocke hören und nachschauen."
Und falls sie aus irgendeinem Grund blind und taub sein sollten, würde er sie eben umbringen müssen, obwohl er sich nach der langen Hungerzeit ganz schwach fühlte. Er streckte die Hände weit über den Kopf, um den Korb mit dem Kind aufzufangen.
"Seid vorsichtig", warnte Xaragitte.
"Das bin ich, keine Angst." Er packte den Korb, zog ihn nach unten und spähte hinein. "Was für ein gefährlicher kleiner Winzling!"
Sie lachte nicht über seinen Witz; vielleicht bohrte der Stachel zu dicht am Knochen der Wahrheit. Lord Gruethrists plötzliche Heirat mit Lady Ambit, die Geburt Clayes und seine sofortige Verlobung mit der kleinen Tochter von Lady Eleuate - all das vereinigte mit einem Schlag alle drei Herrscherfamilien dieser Grenzprovinz. Die Familien hatten darauf vertraut, dass der betagte, nachlässige Baron Culufre weiterhin in Untätigkeit verharrte und sie mit ihrem vereinten Griff nach der Macht davonkämen. Aber der Alte war gestorben und durch einen jungen Mann ersetzt worden, der ein Günstling der Kaiserin war. Seine Armee war auf Burg Gruethrist zu marschiert und hatte sie belagert. Das Kind trug also in gewisser Weise die Verantwortung dafür.
Der Säugling drehte sich und verzog das Gesicht. Er war neun Monate alt, rundlich trotz seiner langen Glieder, und hatte dickes, blauschwarzes Haar. Xaragitte nahm ihn aus dem Korb und legte ihn in das Tuch, das sie um die Schulter gebunden hatte. "Ruhig, mein Kleiner, du bist in Sicherheit." Das nun nicht gerade, dachte Yvon und zog seinen Dolch. Der harte Stahl in seiner Hand beruhigte ihn. Er sägte das Seil durch und zog daran, aber nichts geschah. Als er nach oben schaute, fiel ein dunkler, massiger Umriss durch die Öffnung im Boden der Kammer.
"Verflixt!"
Das Bündel mit den Vorräten für ihre Reise. Yvon konnte gerade noch verhindern, dass die Amme von dem Sack getroffen wurde. Er fluchte.
"Das Gift begann schon zu wirken, als Kepit mich am Seil hinabließ", flüsterte Xaragitte. Über ihnen glitt die Steinplatte mit einem lauten Knirschen zurück an ihren Platz.
Yvon nahm den Sack und schluckte eine weitere scharfe Bemerkung hinunter. Wenn sie entkamen, würde außer ihnen nur Lord Gruethrist wissen, was wirklich passiert war. Selbst Lady Gruethrist würde nur erzählt bekommen, dass das Kind mit seiner Amme im Feuer umgekommen wäre. Das Gift, das Kepit genommen hatte, schützte dieses Geheimnis. Es verhinderte auch, dass man dem Eunuchen das Kleid vom Leibe riss, und ersparte ihm die schmerzhafte Hinrichtung durch die Hand des Barons, die er zu erwarten hatte, wenn die Burg sich ergab - Eunuchen wurden von der Kaiserin ernannt und hatten Ihr zuerst zu dienen.
Yvon watete ins Wasser und schleuderte die Tasche auf die andere Seite des Burggrabens. "Es ist zu tief für Euch, Mylady.
Ich werde Euch tragen."
"Das schaffe ich schon", sagte sie entschieden. Er schaufelte einige Handvoll stinkende Erde in den Korb und versenkte ihn im Wasser. "Euer Rock wird mächtig schwer sein, wenn er nass wird, und wir haben noch viele Wegstunden vor uns."
Sie ging einen Schritt auf das Ufer zu.
"Haltet Euch gut fest", sagte er und hob sie hoch, ehe sie protestieren konnte. Er trat in das kalte Wasser, dessen Oberfläche schwarz war wie der Himmel und übersät von Wolken aus Schleim. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Armee des Barons hatte den Burggraben im Lauf der Belagerung langsam mit Abfällen und Unrat gefüllt. Das kam Yvon nun zugute. Am tiefsten Punkt reichte ihm das Wasser nur bis zur Taille, und mit einiger Anstrengung gelang es ihm, Frau und Kind aus der stinkenden Brühe herauszuhalten. Xaragitte schlang einen Arm um seinen Hals, klammerte sich an ihn und drückte ihren Busen gegen seine Wange. Er konzentrierte sich auf jeden Schritt, damit er auf dem glitschigen Untergrund nicht ausrutschte. "Ich wurde als Bürgerlicher geboren, so wie Ihr", sagte er unvermittelt.
"Das hat Seine Lordschaft mir gesagt", erwiderte sie ebenso hastig.
"Ah." Sie hatte sich also beim Lord über ihn erkundigt. Frauen taten das häufig, ehe sie sich um eine offizielle Beziehung bemühten.
"Ich hatte nicht erwartet ...", fing sie an.
"Was ?"
"Mylady Gruethrist sagte, Ihr wärt sehr gefährlich." "Das bin ich auch", sagte er. "Für ihre Feinde und für Eure."
Er wankte das Ufer hinauf und setzte die Amme ab. Dann schaute er in den umliegenden Schatten nach den Soldaten des Barons. Das anhaltende Geläut der Tempelglocke erfüllte die Luft mit einem Lärm so dicht wie Qualm.
"Er wacht auf", sagte sie. Der kleine Junge saugte an seinem Daumen. "Wir hätten ihm einen stärkeren Schlaftrank geben sollen."
Wenn er nun weinte und ihnen die Männer des Barons auf den Hals hetzte ... ? "Sorgt dafür, dass er noch etwas länger Ruhe gibt. Wir gehen an den Häusern vorbei und schleichen uns über die Felder davon."
Kapitel 7
Lass es los."
Windy befreite ihre Schulter mit einem Ruck aus Ambrosius' Griff und barg den Säugling schützend zwischen ihren milchschweren Brüsten und der Höhlenwand. "Nein !" "Wir haben abgestimmt und entschieden, dass du das Kind hergeben sollst."
"Die Abstimmung war unentschieden, also kann ich tun, was ich will."
Ambrosius knirschte mit den Zähne, bis sie quietschten. "Aber das Kind ist tot - deshalb sollst du es loslassen." "Lass uns noch einmal abstimmen."
Ambrosius lächelte breit und zeigte seine grauen, schartigen Zähne. "Eine gute Idee. Wer ist dafür, dass du das tote Kind loslässt ?" Er hob die Hand. "Und wer ist dagegen ?" Windy hob die ihre. "Unentschieden. Also kann ich tun, was ich will."
"He ! Warte mal ..."
Ehe er protestieren konnte, stand sie auf und stützte sich auf die knotige Hand am Ende ihres langen Arms. Endlich war die Sonne tief genug gesunken, um die Höhle zu verlassen. Sie trat unter dem überhängenden Felsvorsprung hervor und zwängte sich an einem Baum vorbei durch die wild wuchernden Sträucher. Blätter, noch nass von einer Nacht und einem Tag ununterbrochenen Regens, streiften sie. Wasser rann in kleinen Rinnsalen über ihren Rücken und sickerte durch die Risse ihrer Haut. Sie steckte den Kopf zwischen die Zweige und saugte den scharfen, sauberen Geruch der Kiefernadeln in sich auf. Weinen wollte sie auf keinen Fall, und so perlten Wassertropfen anstelle von Tränen über die harten Linien ihrer Wangen.
Windy ging zu ihrem Lieblingsplatz am Hang, der sich im langen Schatten einer schützenden Felsnase befand. Von dort aus spähte sie über die Kiefern hinweg auf die Wiesen, die weiter unter lagen, und beobachtete, von Schatten umgeben, wie das letzte Licht aus dem Tal wich. Traurig trotz der verlöschenden Sonne wiegte sie das Trollkind in ihrer breiten Armbeuge.
Sie schaute zur Höhlenöffnung hinauf. Ambrosius grub mit seinen großen, knorrigen Fingern im Dreck und schob seine Hände in den Mund. Dort, wo sich Blätter und Nadeln hoch genug auftürmten, um zu verrotten, war die Erde äußerst fruchtbar, und der Regen hatte Würmer an die Oberfläche geschwemmt. Er aß vermutlich gerade welche. Windy wühlte mit ihren fingerähnlichen Zehen im Kompost; ein fetter, roter Wurm kroch hervor. Sie hatte keinen Appetit und ließ ihn liegen.
Ambrosius drehte den Kopf zu ihr, rümpfte die Nase und schnaubte: "Es fängt schon an zu stinken."
Sie roch es ebenfalls. Ihre Nase war äußerst empfindlich für den Geruch toter Dinge, ihre wichtigste Nahrungsquelle. Sie wusste, dass das Kind zu faulen begann, obwohl es noch keinen Tag tot war. "Ich mag den Geruch. Und ich lege sie nicht weg !"
Ambrosius zuckte mit den Schultern und grub weiter. Windy schaute auf das kleine Wesen in ihren Armen. Sie war ein so lebhaftes Kind gewesen, so abenteuerlustig, so furchtlos.
Nicht einmal vor dem Tageslicht hatte sie Angst gehabt. Beim ersten Anzeichen der Dunkelheit krabbelte sie bereits davon, so auch in der letzten Nacht, als der Regen herabströmte und sie aus der engen Felsspalte gekrochen war. Windy hatte ihrem Lachen gelauscht und die Gelegenheit genutzt, ihren Hintern an Ambrosius' Hinterteil zu reiben. Gerade als sie ebenfalls Erregung überkam, hörte sie das Brüllen des Großzahnlöwens und rannte hinaus, um ihre Tochter zu retten.
Sie hatte den Großzahn verjagt - ein feiges, altes Biest, das hinkte. Doch als sie ihr kleines Mädchen erreicht hatte, war es bereits zu spät. Der Schädel ihrer Tochter war zerschmettert, völlig weich, matschig und verformt. Wie ein vermodernder Kürbis. Windy hatte schon Kürbis gegessen, einmal, in der Nähe eines Dorfes der schwarzhaarigen Menschen. Von nun an würde sie der Anblick immer an ihr Kind erinnern. Nie wieder würde sie einen Kürbis anrühren, egal, wie schmackhaft er war.
Überhaupt war ihr zumute, als würde sie nie wieder etwas tun können.
Der letzte Lichtfinger schwebte über dem grünen Antlitz der Wiesen. Ambrosius schlenderte herbei und setzte sich neben sie. Er entdeckte den Wurm, der sich zwischen den Blättern krümmte, hob ihn auf und bot ihn ihr an. Sie streckte die Zunge heraus, um ihm zu zeigen, dass sie keinen Hunger hatte. Er schnippte den Wurm in seinen Mund, kaute einmal und schluckte.
"Es ist fast dunkel", sagte er. "Wir sollten noch einmal runter zu der Schildkrötenschale gehen."
So nannte er die falschen Höhlen, die die Menschen bauten.
Vorsichtig drückte Windy das saugende Kind an sich. Sie trat einen Schritt vor und erstarrte fast zu Stein. Die bernsteinfarbenen Amulette um den Hals des Toten - sie waren magisch, wie Sonnenlicht in warmem Eis gefangen. Zerbräche eines der beiden versehentlich, könnten sie beide getötet werden. Das erzählten zumindest die Überlieferungen über ähnliche Schmuckstücke, die die Trolle in der Vergangenheit von den Menschen gestohlen hatten. Sie sprang so schnell zurück, dass dem Säugling ihre Brustwarze aus dem Mund rutschte. Seine Augenlider flogen auf.
"Du wirst es also teilen müssen", stellte Ambrosius fest. Mit einem Auge behielt Windy den toten Mann im Blick, als könne er plötzlich aufspringen und sie angreifen. Der Säugling reckte den Hals und versuchte, den Mund wieder an ihre Brustwarze zu bekommen. "Was teilen ?"
"Das lebende Fleisch."
"Nein !" Sie wich seinem plötzlichen Zugriff aus und rannte durch die Tür ins Freie. Er stürmte hinter ihr her.
"Fleisch wird immer geteilt", sagte er.
"Das ist kein Fleisch - das ist ein Kind !"
Er ließ sich in die Hocke sinken und lachte. "Sei nicht verrückt ! Du bist doch nur traurig, weil du dein Mädchen verloren hast. Du kannst dieses Ding doch nicht wirklich behalten."
Ihr war nicht klar gewesen, dass sie genau das vorhatte, ehe sie es ihn sagen hörte. "Ich kann. Und ich werde es tun." Er trommelte mit den Knöcheln auf seine Brust, um ihr Angst zu machen. Sie war nicht beeindruckt und schaute ihn nur missbilligend an, bis er es aufgab. "Wenn du das tatsächlich vorhast", sagte er und stolzierte im Kreis um sie herum, "dann müssen wir eben abstimmen. Diejenigen, die dafür sind, das lebende Fleisch sofort zu essen, sollen die Hände heben."
Er schwang seine Hand nach oben und sah sich um, so wie er es bei den Trollversammlungen immer tat, um zu sehen, wer mit ihm stimmte. Sie beachtete ihn nicht und legte das Kind vorsichtig an die andere Seite, damit es aus ihrer zweiten wunden und geschwollenen Brust trinken konnte.
"Also gut, diejenigen, die dafür sind, das Fleisch an Kindes statt zu behalten, sollen die Hand heben."
Windy hob die ihre, während sie dem Kind einen Kussmund zuwarf. Es hörte kurz auf zu trinken, lachte sie an und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus.
"Das sind zwei gegen eins", sagte sie. "Wir haben gewonnen.
" "Es darf gar nicht abstimmen."
"Tja, es hat aber die Hand gehoben." Sie wollte Ambrosius nur verwirren und ablenken, denn selbst wenn sämtliche Trolle aus ihrer Horde dagegen gestimmt hätten, würde sie dieses neue Kind nicht aufgeben. Sie kitzelte es am Bauch und stellte fest, dass es ein Junge war. "Er hat dich gehört und seine Hand gehoben. Da hast du es."
"Aber ... !", stotterte Ambrosius. Wütend schlug er die Hände auf den Boden und bespritzte alles um ihn herum mit Schlamm.
Bei dem Lärm zuckte das Kind zusammen, aber Windy warf ihm erneut einen Kussmund zu und gab knutschende Geräusche von sich, und wieder lachte es. Seine Augenlider wurden immer schwerer, während es Schluck um Schluck trank.
"Du wirst dieses Ding doch nicht etwa behalten, oder ? Es ist ein Tier."
"Ist es nicht." Der Kleine hatte die gleichen Augen wie ihre süße Tochter, fand sie. Was immer er auch war - was immer Menschen waren - sie waren jedenfalls mehr als Tiere, auch wenn sie keine Trolle waren.
Ambrosius umkreiste sie. "Eine Made, das ist es."
"Er ist ein großer, starker Junge." Um ehrlich zu sein, war er weder groß noch stark. Aber er war ein Kind, und nun war er ihr Kind.
"Es ist eine Made. Es ist klein, weiß und nicht mal eine Mundvoll zu essen, und du hast es auf einer Leiche gefunden. Made, Made, Made !"
"Er ist keine Made ! Hör auf, ihn Made zu nennen." Sie warf einen Klumpen Matsch nach Ambrosius, aber er verfehlte sein Ziel und prallte mit einem nassen Klatschen gegen den Schildkrötenpanzer.
"Naja, es ist auf jeden Fall keine Schnecke." Ambrosius bewarf sie ebenfalls mit Dreck, zielte aber besser. Sie duckte sich und wehrte den Brocken mit ihrem freien Arm ab.
"Schnecken haben Streifen", sagte er mürrisch und drehte einige Steine um. "Wenigstens ein paar. Die, die so gut schmecken."
Windy schwang ihren breiten Unterarm sachte, bis das Kind eingeschlafen war. [...]
Der vordere Teil der Burg brannte, Flammen leckten wie Löwenzungen am Himmel. Die Eichenbalken am Dach der großen Halle verwandelten sich in Blätter aus schwarzer Asche, ein wogender Wald aus Rauch, der die Sterne verdeckte. Die Belagerer hatten ihre Posten verlassen, sie drängten sich um das Haupttor und starrten auf die Feuersbrunst wie Motten, die von einer Kerze angelockt werden - so wie Lord Gruethrist es vorhergesagt hatte, ehe er mehrere mit Öl gefüllte Häute nahm, zu den Dachsparren emporkletterte und die Burg in Brand setzte, die er einst mit eigenen Händen erbaut hatte.
Yvon hangelte sich hastig in die Tiefe und landete auf einem kleinen Wall inmitten des schmutzigen Wassers. Er zog am Seil, und sogleich verschwand es in der Dunkelheit über ihm. Der stechende Dunst ließ seine Augen blinzeln, und er hielt die Luft an, um den fauligen Gestank der Abwässer nicht einzuatmen.
Ein Mann, allein, in der Dunkelheit, auf einer Insel aus Scheiße - das war an sich schon eine angemessene Beschreibung sämtlicher schlechter Momente in Yvons Leben, doch zum ersten Mal entsprach es voll und ganz der Wahrheit. Der kleine Hügel aus alten Exkrementen und Unrat unter seinen Füßen wurde von üppig wuchernden Rebengewächsen zusammengehalten, tiefer verwurzelt und noch widerspenstiger als die Bergbauern in ihren Tälern. Zwischen dem Unkraut wuchsen sogar ein paar Büsche, darunter ein früh blühender Knisterbeerenstrauch, voll mit winzigen Früchten.
Yvons Magen knurrte laut nach der langen Belagerung.
Immer noch war unter den Schatten jenseits des Wassergrabens keine Bewegung zu erkennen. Um zu prüfen, ob seine Ausrüstung vollständig war, tastete er rasch nach dem Messer in seinem Stiefel, dem Dolch an seinem Gürtel und dem kurzen Schwert unter seinem Mantel. Dann strichen seine Finger über seinen Nacken, wo vor kurzem noch sein Zopf gebaumelt hatte. Ohne ihn hatte er keinen Beweis dafür, dass er ein Ritter war, und damit nicht länger das Recht, Stahlklingen bei sich zu tragen.
Ein gedämpftes Stöhnen erklang über ihm. Große Füße strampelten in dem engen, eckigen Loch. Xaragitte hatte als Einzige während der Belagerung volle Rationen erhalten; nun war sie steckengeblieben.
Mit jedem Herzschlag alterte Yvon um ein weiteres Jahr. Wenn es so weiterging, würde er zusammenschrumpeln wie ein alter Mann, sterben und die Maden nähren, würden seine Knochen in alle Winde zerstreut werden, ehe die Amme den Boden erreichte. Zittrig vor Hunger pflückte er eine Handvoll der grünen Knisterbeeren und schob sie sich in den Mund. Sie waren so unreif, dass ihm der bittere Geschmack durch und durch ging. Sein Magen krampfte sich zusammen, halb zufriedengestellt, halb protestierend. Er sammelte eine weitere Handvoll und schluckte sie ohne zu kauen hinunter.
Xaragittes Füße verschwanden und tauchten eine Sekunde später wieder im Loch auf. Ihre bleichen, hübschen Beine zappelten und strampelten, bis ihr rundes Hinterteil durch das Loch glitt und sie wie ein Stein nach unten fiel. Yvon wappnete sich, sie aufzufangen, doch kurz über dem Boden wurde ihr Fall mit einem Ruck gebremst. Sie versuchte, ihren Rock über die Knie zu ziehen, und geriet ins Trudeln. "Vorsicht, berührt nicht den Fels, er ist ganz schmutzig", flüsterte er.
Trotz seiner Warnung streifte sie das Gestein. Das Seil setzte sich in Bewegung, und wieder sackte sie unvermittelt nach unten. Yvon schlang die Arme um ihren Leib und fing sie auf. Ihr weiches Fleisch presste sich gegen ihn und hinterließ einen brennenden Schmerz, wie eine unerwartete Wunde. Hastig setzte er sie ab und tastete nach dem Knoten an ihrer Taille. "Gebt acht, wo Ihr hintretet, Mylady."
"Tut doch nicht so, als wäre ich von edler Herkunft, zu fein, um mir die Hände schmutzig zu machen." Sie wischte die Handflächen an ihrem Rock ab. "Ich habe schon Schlimmeres von Kinderpopos gewischt."
Wo ... ? "Wo ist der Junge ?"
Sie schaute nach oben. "Wir haben nicht zusammen durch das Loch gepasst."
Noch eine Verzögerung ! Stimmen drangen vom anderen Ende des Schlosses herüber, vermischt mit dem Knistern des Feuers. Sobald der Knoten gelöst war, riss er am Seil. Wie ein Dämon, der unter Wasser dahinglitt, verschwand es durch das Loch.
Xaragitte starrte nach oben, und Yvon beobachtete sie. Sie hatte die seltenen roten Haare der Göttin Bwnte. Ihr Liebhaber war ein gewöhnlicher Soldat gewesen, Kady, und noch vor der Belagerung im Kampf gegen die Männer des Barons gestorben, kurz nachdem ihre kleine Tochter der Hustenkrankheit erlegen war. Yvon konnte sein Interesse an ihr nicht offen kundtun, wenn er die Formen des Anstands wahren wollte. Aber wenn er nur etwas Zeit mit ihr verbrachte, würde er ihr seine Gefühle offenbaren können. Sicher, er war zwei Jahrzehnte älter als sie, aber Lord Gruethrist war um genausoviel älter als die neue Herrin, und sie verstanden sich bestens.
Das würde Yvon ihr sagen. Es könnte funktionieren. Hoffentlich! Für diese Möglichkeit riskierte er nicht nur sein Leben, sondern alles, was er in seinem Leben je erreicht hatte. Über ihnen erschien das Seil, diesmal an einen Korb geknotet. Eine Glocke läutete.
Xaragitte grub ihre Finger in das harte Fleisch von Yvons Arm. "Sie haben uns entdeckt!"
"Nein", sagte er, froh, dass sie nicht gemerkt hatte, wie er zusammengezuckt war. "Das ist nur wegen des Feuers. Das ist gut - sollten einige der Soldaten des Barons die riesige Flammensäule aus Blindheit nicht bemerkt haben, werden sie die Glocke hören und nachschauen."
Und falls sie aus irgendeinem Grund blind und taub sein sollten, würde er sie eben umbringen müssen, obwohl er sich nach der langen Hungerzeit ganz schwach fühlte. Er streckte die Hände weit über den Kopf, um den Korb mit dem Kind aufzufangen.
"Seid vorsichtig", warnte Xaragitte.
"Das bin ich, keine Angst." Er packte den Korb, zog ihn nach unten und spähte hinein. "Was für ein gefährlicher kleiner Winzling!"
Sie lachte nicht über seinen Witz; vielleicht bohrte der Stachel zu dicht am Knochen der Wahrheit. Lord Gruethrists plötzliche Heirat mit Lady Ambit, die Geburt Clayes und seine sofortige Verlobung mit der kleinen Tochter von Lady Eleuate - all das vereinigte mit einem Schlag alle drei Herrscherfamilien dieser Grenzprovinz. Die Familien hatten darauf vertraut, dass der betagte, nachlässige Baron Culufre weiterhin in Untätigkeit verharrte und sie mit ihrem vereinten Griff nach der Macht davonkämen. Aber der Alte war gestorben und durch einen jungen Mann ersetzt worden, der ein Günstling der Kaiserin war. Seine Armee war auf Burg Gruethrist zu marschiert und hatte sie belagert. Das Kind trug also in gewisser Weise die Verantwortung dafür.
Der Säugling drehte sich und verzog das Gesicht. Er war neun Monate alt, rundlich trotz seiner langen Glieder, und hatte dickes, blauschwarzes Haar. Xaragitte nahm ihn aus dem Korb und legte ihn in das Tuch, das sie um die Schulter gebunden hatte. "Ruhig, mein Kleiner, du bist in Sicherheit." Das nun nicht gerade, dachte Yvon und zog seinen Dolch. Der harte Stahl in seiner Hand beruhigte ihn. Er sägte das Seil durch und zog daran, aber nichts geschah. Als er nach oben schaute, fiel ein dunkler, massiger Umriss durch die Öffnung im Boden der Kammer.
"Verflixt!"
Das Bündel mit den Vorräten für ihre Reise. Yvon konnte gerade noch verhindern, dass die Amme von dem Sack getroffen wurde. Er fluchte.
"Das Gift begann schon zu wirken, als Kepit mich am Seil hinabließ", flüsterte Xaragitte. Über ihnen glitt die Steinplatte mit einem lauten Knirschen zurück an ihren Platz.
Yvon nahm den Sack und schluckte eine weitere scharfe Bemerkung hinunter. Wenn sie entkamen, würde außer ihnen nur Lord Gruethrist wissen, was wirklich passiert war. Selbst Lady Gruethrist würde nur erzählt bekommen, dass das Kind mit seiner Amme im Feuer umgekommen wäre. Das Gift, das Kepit genommen hatte, schützte dieses Geheimnis. Es verhinderte auch, dass man dem Eunuchen das Kleid vom Leibe riss, und ersparte ihm die schmerzhafte Hinrichtung durch die Hand des Barons, die er zu erwarten hatte, wenn die Burg sich ergab - Eunuchen wurden von der Kaiserin ernannt und hatten Ihr zuerst zu dienen.
Yvon watete ins Wasser und schleuderte die Tasche auf die andere Seite des Burggrabens. "Es ist zu tief für Euch, Mylady.
Ich werde Euch tragen."
"Das schaffe ich schon", sagte sie entschieden. Er schaufelte einige Handvoll stinkende Erde in den Korb und versenkte ihn im Wasser. "Euer Rock wird mächtig schwer sein, wenn er nass wird, und wir haben noch viele Wegstunden vor uns."
Sie ging einen Schritt auf das Ufer zu.
"Haltet Euch gut fest", sagte er und hob sie hoch, ehe sie protestieren konnte. Er trat in das kalte Wasser, dessen Oberfläche schwarz war wie der Himmel und übersät von Wolken aus Schleim. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Armee des Barons hatte den Burggraben im Lauf der Belagerung langsam mit Abfällen und Unrat gefüllt. Das kam Yvon nun zugute. Am tiefsten Punkt reichte ihm das Wasser nur bis zur Taille, und mit einiger Anstrengung gelang es ihm, Frau und Kind aus der stinkenden Brühe herauszuhalten. Xaragitte schlang einen Arm um seinen Hals, klammerte sich an ihn und drückte ihren Busen gegen seine Wange. Er konzentrierte sich auf jeden Schritt, damit er auf dem glitschigen Untergrund nicht ausrutschte. "Ich wurde als Bürgerlicher geboren, so wie Ihr", sagte er unvermittelt.
"Das hat Seine Lordschaft mir gesagt", erwiderte sie ebenso hastig.
"Ah." Sie hatte sich also beim Lord über ihn erkundigt. Frauen taten das häufig, ehe sie sich um eine offizielle Beziehung bemühten.
"Ich hatte nicht erwartet ...", fing sie an.
"Was ?"
"Mylady Gruethrist sagte, Ihr wärt sehr gefährlich." "Das bin ich auch", sagte er. "Für ihre Feinde und für Eure."
Er wankte das Ufer hinauf und setzte die Amme ab. Dann schaute er in den umliegenden Schatten nach den Soldaten des Barons. Das anhaltende Geläut der Tempelglocke erfüllte die Luft mit einem Lärm so dicht wie Qualm.
"Er wacht auf", sagte sie. Der kleine Junge saugte an seinem Daumen. "Wir hätten ihm einen stärkeren Schlaftrank geben sollen."
Wenn er nun weinte und ihnen die Männer des Barons auf den Hals hetzte ... ? "Sorgt dafür, dass er noch etwas länger Ruhe gibt. Wir gehen an den Häusern vorbei und schleichen uns über die Felder davon."
Kapitel 7
Lass es los."
Windy befreite ihre Schulter mit einem Ruck aus Ambrosius' Griff und barg den Säugling schützend zwischen ihren milchschweren Brüsten und der Höhlenwand. "Nein !" "Wir haben abgestimmt und entschieden, dass du das Kind hergeben sollst."
"Die Abstimmung war unentschieden, also kann ich tun, was ich will."
Ambrosius knirschte mit den Zähne, bis sie quietschten. "Aber das Kind ist tot - deshalb sollst du es loslassen." "Lass uns noch einmal abstimmen."
Ambrosius lächelte breit und zeigte seine grauen, schartigen Zähne. "Eine gute Idee. Wer ist dafür, dass du das tote Kind loslässt ?" Er hob die Hand. "Und wer ist dagegen ?" Windy hob die ihre. "Unentschieden. Also kann ich tun, was ich will."
"He ! Warte mal ..."
Ehe er protestieren konnte, stand sie auf und stützte sich auf die knotige Hand am Ende ihres langen Arms. Endlich war die Sonne tief genug gesunken, um die Höhle zu verlassen. Sie trat unter dem überhängenden Felsvorsprung hervor und zwängte sich an einem Baum vorbei durch die wild wuchernden Sträucher. Blätter, noch nass von einer Nacht und einem Tag ununterbrochenen Regens, streiften sie. Wasser rann in kleinen Rinnsalen über ihren Rücken und sickerte durch die Risse ihrer Haut. Sie steckte den Kopf zwischen die Zweige und saugte den scharfen, sauberen Geruch der Kiefernadeln in sich auf. Weinen wollte sie auf keinen Fall, und so perlten Wassertropfen anstelle von Tränen über die harten Linien ihrer Wangen.
Windy ging zu ihrem Lieblingsplatz am Hang, der sich im langen Schatten einer schützenden Felsnase befand. Von dort aus spähte sie über die Kiefern hinweg auf die Wiesen, die weiter unter lagen, und beobachtete, von Schatten umgeben, wie das letzte Licht aus dem Tal wich. Traurig trotz der verlöschenden Sonne wiegte sie das Trollkind in ihrer breiten Armbeuge.
Sie schaute zur Höhlenöffnung hinauf. Ambrosius grub mit seinen großen, knorrigen Fingern im Dreck und schob seine Hände in den Mund. Dort, wo sich Blätter und Nadeln hoch genug auftürmten, um zu verrotten, war die Erde äußerst fruchtbar, und der Regen hatte Würmer an die Oberfläche geschwemmt. Er aß vermutlich gerade welche. Windy wühlte mit ihren fingerähnlichen Zehen im Kompost; ein fetter, roter Wurm kroch hervor. Sie hatte keinen Appetit und ließ ihn liegen.
Ambrosius drehte den Kopf zu ihr, rümpfte die Nase und schnaubte: "Es fängt schon an zu stinken."
Sie roch es ebenfalls. Ihre Nase war äußerst empfindlich für den Geruch toter Dinge, ihre wichtigste Nahrungsquelle. Sie wusste, dass das Kind zu faulen begann, obwohl es noch keinen Tag tot war. "Ich mag den Geruch. Und ich lege sie nicht weg !"
Ambrosius zuckte mit den Schultern und grub weiter. Windy schaute auf das kleine Wesen in ihren Armen. Sie war ein so lebhaftes Kind gewesen, so abenteuerlustig, so furchtlos.
Nicht einmal vor dem Tageslicht hatte sie Angst gehabt. Beim ersten Anzeichen der Dunkelheit krabbelte sie bereits davon, so auch in der letzten Nacht, als der Regen herabströmte und sie aus der engen Felsspalte gekrochen war. Windy hatte ihrem Lachen gelauscht und die Gelegenheit genutzt, ihren Hintern an Ambrosius' Hinterteil zu reiben. Gerade als sie ebenfalls Erregung überkam, hörte sie das Brüllen des Großzahnlöwens und rannte hinaus, um ihre Tochter zu retten.
Sie hatte den Großzahn verjagt - ein feiges, altes Biest, das hinkte. Doch als sie ihr kleines Mädchen erreicht hatte, war es bereits zu spät. Der Schädel ihrer Tochter war zerschmettert, völlig weich, matschig und verformt. Wie ein vermodernder Kürbis. Windy hatte schon Kürbis gegessen, einmal, in der Nähe eines Dorfes der schwarzhaarigen Menschen. Von nun an würde sie der Anblick immer an ihr Kind erinnern. Nie wieder würde sie einen Kürbis anrühren, egal, wie schmackhaft er war.
Überhaupt war ihr zumute, als würde sie nie wieder etwas tun können.
Der letzte Lichtfinger schwebte über dem grünen Antlitz der Wiesen. Ambrosius schlenderte herbei und setzte sich neben sie. Er entdeckte den Wurm, der sich zwischen den Blättern krümmte, hob ihn auf und bot ihn ihr an. Sie streckte die Zunge heraus, um ihm zu zeigen, dass sie keinen Hunger hatte. Er schnippte den Wurm in seinen Mund, kaute einmal und schluckte.
"Es ist fast dunkel", sagte er. "Wir sollten noch einmal runter zu der Schildkrötenschale gehen."
So nannte er die falschen Höhlen, die die Menschen bauten.
Vorsichtig drückte Windy das saugende Kind an sich. Sie trat einen Schritt vor und erstarrte fast zu Stein. Die bernsteinfarbenen Amulette um den Hals des Toten - sie waren magisch, wie Sonnenlicht in warmem Eis gefangen. Zerbräche eines der beiden versehentlich, könnten sie beide getötet werden. Das erzählten zumindest die Überlieferungen über ähnliche Schmuckstücke, die die Trolle in der Vergangenheit von den Menschen gestohlen hatten. Sie sprang so schnell zurück, dass dem Säugling ihre Brustwarze aus dem Mund rutschte. Seine Augenlider flogen auf.
"Du wirst es also teilen müssen", stellte Ambrosius fest. Mit einem Auge behielt Windy den toten Mann im Blick, als könne er plötzlich aufspringen und sie angreifen. Der Säugling reckte den Hals und versuchte, den Mund wieder an ihre Brustwarze zu bekommen. "Was teilen ?"
"Das lebende Fleisch."
"Nein !" Sie wich seinem plötzlichen Zugriff aus und rannte durch die Tür ins Freie. Er stürmte hinter ihr her.
"Fleisch wird immer geteilt", sagte er.
"Das ist kein Fleisch - das ist ein Kind !"
Er ließ sich in die Hocke sinken und lachte. "Sei nicht verrückt ! Du bist doch nur traurig, weil du dein Mädchen verloren hast. Du kannst dieses Ding doch nicht wirklich behalten."
Ihr war nicht klar gewesen, dass sie genau das vorhatte, ehe sie es ihn sagen hörte. "Ich kann. Und ich werde es tun." Er trommelte mit den Knöcheln auf seine Brust, um ihr Angst zu machen. Sie war nicht beeindruckt und schaute ihn nur missbilligend an, bis er es aufgab. "Wenn du das tatsächlich vorhast", sagte er und stolzierte im Kreis um sie herum, "dann müssen wir eben abstimmen. Diejenigen, die dafür sind, das lebende Fleisch sofort zu essen, sollen die Hände heben."
Er schwang seine Hand nach oben und sah sich um, so wie er es bei den Trollversammlungen immer tat, um zu sehen, wer mit ihm stimmte. Sie beachtete ihn nicht und legte das Kind vorsichtig an die andere Seite, damit es aus ihrer zweiten wunden und geschwollenen Brust trinken konnte.
"Also gut, diejenigen, die dafür sind, das Fleisch an Kindes statt zu behalten, sollen die Hand heben."
Windy hob die ihre, während sie dem Kind einen Kussmund zuwarf. Es hörte kurz auf zu trinken, lachte sie an und streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus.
"Das sind zwei gegen eins", sagte sie. "Wir haben gewonnen.
" "Es darf gar nicht abstimmen."
"Tja, es hat aber die Hand gehoben." Sie wollte Ambrosius nur verwirren und ablenken, denn selbst wenn sämtliche Trolle aus ihrer Horde dagegen gestimmt hätten, würde sie dieses neue Kind nicht aufgeben. Sie kitzelte es am Bauch und stellte fest, dass es ein Junge war. "Er hat dich gehört und seine Hand gehoben. Da hast du es."
"Aber ... !", stotterte Ambrosius. Wütend schlug er die Hände auf den Boden und bespritzte alles um ihn herum mit Schlamm.
Bei dem Lärm zuckte das Kind zusammen, aber Windy warf ihm erneut einen Kussmund zu und gab knutschende Geräusche von sich, und wieder lachte es. Seine Augenlider wurden immer schwerer, während es Schluck um Schluck trank.
"Du wirst dieses Ding doch nicht etwa behalten, oder ? Es ist ein Tier."
"Ist es nicht." Der Kleine hatte die gleichen Augen wie ihre süße Tochter, fand sie. Was immer er auch war - was immer Menschen waren - sie waren jedenfalls mehr als Tiere, auch wenn sie keine Trolle waren.
Ambrosius umkreiste sie. "Eine Made, das ist es."
"Er ist ein großer, starker Junge." Um ehrlich zu sein, war er weder groß noch stark. Aber er war ein Kind, und nun war er ihr Kind.
"Es ist eine Made. Es ist klein, weiß und nicht mal eine Mundvoll zu essen, und du hast es auf einer Leiche gefunden. Made, Made, Made !"
"Er ist keine Made ! Hör auf, ihn Made zu nennen." Sie warf einen Klumpen Matsch nach Ambrosius, aber er verfehlte sein Ziel und prallte mit einem nassen Klatschen gegen den Schildkrötenpanzer.
"Naja, es ist auf jeden Fall keine Schnecke." Ambrosius bewarf sie ebenfalls mit Dreck, zielte aber besser. Sie duckte sich und wehrte den Brocken mit ihrem freien Arm ab.
"Schnecken haben Streifen", sagte er mürrisch und drehte einige Steine um. "Wenigstens ein paar. Die, die so gut schmecken."
Windy schwang ihren breiten Unterarm sachte, bis das Kind eingeschlafen war. [...]
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Charles Coleman Finlay
- 2007, 442 Seiten, Maße: 12,8 x 20,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Engl. übers. v. Anja Hansen-Schmidt
- Übersetzer: Anja Hansen-Schmidt
- Verlag: Klett-Cotta
- ISBN-10: 3608937862
- ISBN-13: 9783608937862
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