Der Verräter von Westminster
Ein Thomas-Pitt-Roman. Deutsche Erstausgabe
London 1895: Vor Thomas Pitts Augen wird ein wichtiger Informant erstochen. Er verfolgt den Mörder über den Kanal bis Frankreich. Zeitgleich führen Ermittlungen seinen Vorgesetzten Narraway nach Dublin. Als die beiden merken, dass sie...
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Produktinformationen zu „Der Verräter von Westminster “
London 1895: Vor Thomas Pitts Augen wird ein wichtiger Informant erstochen. Er verfolgt den Mörder über den Kanal bis Frankreich. Zeitgleich führen Ermittlungen seinen Vorgesetzten Narraway nach Dublin. Als die beiden merken, dass sie absichtlich fortgelockt wurden, ist es schon fast zu spät: Eine Intrige ungeheuren Ausmaßes droht das Empire in den Grundfesten zu erschüttern.
Klappentext zu „Der Verräter von Westminster “
Historischer KrimiLondon 1895: Vor Thomas Pitts Augen wird ein wichtiger Informant erstochen. Er verfolgt den Mörder über den Kanal bis Frankreich. Zeitgleich führen Ermittlungen seinen Vorgesetzten Narraway nach Dublin. Als die beiden merken, dass sie absichtlich fortgelockt wurden, ist es schon fast zu spät: Eine Intrige ungeheuren Ausmaßes droht das Empire in den Grundfesten zu erschüttern.
Historischer KrimiLondon 1895: Vor Thomas Pitts Augen wird ein wichtiger Informant erstochen. Er verfolgt den Mörder über den Kanal bis Frankreich. Zeitgleich führen Ermittlungen seinen Vorgesetzten Narraway nach Dublin. Als die beiden merken, dass sie absichtlich fortgelockt wurden, ist es schon fast zu spät: Eine Intrige ungeheuren Ausmaßes droht das Empire in den Grundfesten zu erschüttern.
Lese-Probe zu „Der Verräter von Westminster “
Der Verräter von Westminster von Anne Perry»Da ist er!«, rief Gower, so laut er konnte, um den Verkehrs lärm zu übertönen. Gerade noch rechtzeitig wandte Pitt den Kopf und sah, wie ein Mann blitzschnell zwischen einer Droschke und den dicht dahinter folgenden Pferden eines Brauerei fuhrwerks verschwand. Als Gower ihm folgte, hätten ihn die schweren Tiere um ein Haar zu Fall gebracht und niedergetrampelt. Geschickt einer Kutsche ausweichend, rannte auch Pitt auf die Straße, musste aber sogleich stehen bleiben, um eine weitere Droschke vorüberzulassen. Als er endlich die andere Straßenseite erreicht hatte, war von dem Mann, den sie verfolgten, nichts zu sehen. Von Gower, der inzwischen zwanzig Schritt Vorsprung hatte, erspähte Pitt nur noch die wehende blonde Mähne. Indem er sich rasch zwischen Müßiggängern, Geschäftsleuten in Nadelstreifen und Hausfrauen, die ihre Einkäufe erledigten, seinen Weg bahnte, gelang es ihm, den Abstand zu Gower bis auf etwa zwölf Schritte zu verringern, und er erhaschte nach einer Weile auch einen flüchtigen Blick auf den Mann, dem sie auf den Fersen waren, sah dessen leuchtend roten Schopf und das grüne Jackett. Gleich darauf war der Flüchtende seinen Blicken wieder entzogen. Gower verschwand um eine Ecke, wobei er kurz die rechte Hand hob, um die Richtung anzuzeigen.
Pitt folgte dem Hinweis sogleich, brauchte aber einige Sekunden, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht in der in tiefem Schatten liegenden langen, schmalen Gasse gewöhnt hatten. Dunkle Streifen liefen über die schmutzigen, nassen Ziegelmauern links und rechts; allem Anschein nach waren Dachrinnen und Fallrohre der Häuser schadhaft. Lastträger schleppten schwere Säcke und Stoffballen. Fässer, von denen man nicht wusste, was sie enthielten, wurden über das Pflaster gerollt. Überall in den Hauseingängen
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kauerten Menschen.
Nach wie vor war es Pitt nicht gelungen, Gower einzuholen, der sich seinen Weg mühelos zwischen sämtlichen Hindernissen hindurch zu bahnen schien. Im letzten Augenblick wich Pitt einer fülligen Streichholzverkäuferin aus und bemühte sich, zu seinem Untergebenen aufzuschließen. Zwar war Gower mindestens zehn Jahre jünger als er, kaum älter als dreißig, und war solche Verfolgungsjagden eher gewohnt, doch auf die Spur gekommen waren sie West, dem Mann, den sie jetzt verfolgten, dank der Erfahrung, die Pitt in der Londoner Polizei gesammelt hatte, bevor er in den Sicherheitsdienst übergewechselt war. Weiter vorn machte die Gasse einen scharfen Knick. Rasch entschuldigte sich Pitt bei einer alten Frau, die er beim Umrunden der Ecke angestoßen hatte, und schlug dann sofort wieder das scharfe Tempo an. Jetzt konnte er Wests roten Schopf etwa vierzig Schritt vor sich sehen. Ganz offensichtlich strebte der Mann der breiten Hauptstraße entgegen. Sie mussten ihn unbedingt einholen, bevor er dort in der Menschenmenge untertauchen konnte.
Gower war jetzt dicht hinter West und streckte schon eine Hand nach ihm aus. Doch genau in dem Augenblick schlug dieser einen Haken. Gower geriet ins Straucheln, prallte gegen eine Mauer, krümmte sich vor Schmerz und blieb, um Atem ringend, stehen.
Pitt beschleunigte das Tempo noch einmal und holte West in dem Augenblick ein, als dieser in die Hauptstraße einbog, sich dort rücksichtslos seinen Weg durch eine Menschengruppe bahnte und verschwand. Pitt folgte ihm. Schon an der nächsten Kreuzung sah er den Mann wieder vor sich. Er musste ihn um jeden Preis fassen und achtete jetzt seinerseits auch nicht mehr darauf, ob er jemanden anstieß oder beiseiteschob. West wusste Dinge, die von entscheidender Bedeutung sein konnten. Auf dem ganzen europäischen Kontinent nahm die politische Unruhe rasch zu und äußerte sich immer heftiger. Allenthalben gab es Versuche, im Namen angeblicher Reformen Regierungen zu stürzen und anarchische Zustände zu etablieren, die nach Ansicht ihrer Befürworter eine Art Gleichheit aller vor dem Gesetz gewährleisteten. Manche dieser Neuerer begnügten sich mit Brandreden, während andere zu Dynamit oder Schusswaffen griffen. Der englische Sicherheitsdienst hatte erfahren, dass ein Anschlag geplant war, doch waren ihm weder die führenden Köpfe bekannt noch - weit gravierender -, wer dabei als Opfer ausersehen war. Diese Angaben sollte West machen, um den Preis seines eigenen Lebens, falls sein Verrat bekannt wurde. Wo nur zum Teufel steckte Gower? Pitt sah sich im Gewimmel um, um festzustellen, ob er ihn in dem Meer aus Köpfen, steifen Hüten, Mützen und Hauben sah. Er konnte es sich nicht leisten, länger zu warten. Ob Gower sich noch in der Gasse befand, in der er gegen die Mauer geprallt war, womöglich verletzt? Pitt konnte sich das nicht recht vorstellen. Vor sich erkannte er jetzt erneut West, der eine Lücke im Verkehr nutzte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Drei Droschken folgten einander in so geringem Abstand, dass es aussichtslos war, sich zwischen ihnen hindurchschlängeln zu wollen. Vor Ungeduld kochend, stand Pitt am Straßenrand. Unmöglich, sich jetzt in den Verkehr zu wagen, zumal ihm auch noch ein vierspänniges Fuhrwerk entgegenkam - er würde mit Sicherheit überfahren.
Gleich darauf näherte sich ein Pferdeomnibus, unmittelbar gefolgt von zwei schwer beladenen Fuhrwerken. In der Gegenrichtung blockierten weitere Fuhrwerke und ein Bierkutscher mit seinem Gespann die Straße. In der Zwischenzeit hatte Pitt West vollständig aus den Augen verloren, während sich Gower in Luft aufgelöst zu haben schien. Kaum entstand eine winzige Lücke im Verkehr, als Pitt im Laufschritt quer über die Straße stürmte, wobei er sich geschickt zwischen den verschiedenen Fahrzeugen hindurchwand, ohne sich um den Zorn der Kutscher zu kümmern, den er damit auf sich zog. Nur um ein Haar verfehlte ihn die scharfe Schnur einer Peitsche. Jemand brüllte ihn an, doch er achtete nicht darauf. Auf der anderen Straßenseite erkannte er einen kurzen Augenblick lang den leuchtenden Schopf Wests, der gerade um eine Ecke in eine weitere schmale Gasse bog.
Pitt stürmte ihm nach, konnte aber nichts von ihm entdecken, als er die Gasse erreichte.
»Haben Sie einen Mann mit roten Haaren gesehen?«, erkundigte er sich bei einem Mann, der belegte Brote verkaufte.
»In welche Richtung ist er gegangen?«
»Woll'n Se eins?«, fragte ihn der Mann mit weit geöffneten Augen. »Die sin' sehr gut, heute Morg'n frisch gemacht. Nur zwei Pennies.«
Mit einem Griff in die Tasche förderte Pitt ein Taschenmesser, ein Taschentuch und einige Geldstücke zutage. Er gab dem Mann eine Drei-Penny-Münze und lehnte das belegte Brot höflich ab. Auch wenn es frisch sein mochte, war er jetzt nicht in der Stimmung, etwas zu essen.
»Wohin?«, fragte er grimmig.
»Da rüber!« Der Mann wies in die dunkle Gasse. Pitt begann erneut zu rennen. Dabei musste er sorgfältig darauf achten, nicht über den sich überall häufenden Unrat zu stolpern. Eine Ratte rannte zwischen seinen Füßen hindurch, und beinahe wäre er über einen Betrunkenen gestolpert, dessen Beine aus einem Hauseingang ragten. Jemand schlug mit der Faust nach ihm, er wich rasch aus, verlor einen Augenblick lang das Gleichgewicht, sah aber West immer noch vor sich. Jetzt war der Mann wieder verschwunden, ohne dass Pitt hätte sagen können, wohin. Er versuchte es mit mehreren Nebensträßchen, die Sackgassen waren, sowie mit Höfen, aus denen es ebenfalls nicht weiterging - vergebens. Nach Minuten, die ihm endlos vorkamen, sah er Gowers vertraute Gestalt aus einer Seitenstraße kommen. Mit den Worten »Hier entlang! Rasch!« fasste Gower ihn so fest am Arm, dass er unwillkürlich keuchte. Gemeinsam eilten sie weiter, Pitt an den dunklen Mauern entlang über den schadhaften Gehsteig, Gower in der Gosse, so dass seine Stiefel bei jedem Schritt das schmutzige Wasser nur so hochspritzen ließen. Als sie eine Ecke umrundeten, sahen sie, wie am Eingang zu einer Ziegelei ein Mann vor etwas, was am Boden lag, hockte und sich vorbeugte. Mit einem Wutschrei stürmte Gower voran, wobei er Pitt in die Quere kam und mit ihm zusammen zu Boden ging. Pitt war rechtzeitig wieder auf den Beinen, um zu sehen, wie sich der Hockende zu ihnen umdrehte, sich rasch aufrichtete und davonlief, als gehe es um sein Leben.
»Großer Gott!«, stieß Gower hervor, der inzwischen wieder auf den Beinen war. »Ihm nach! Ich kenn den Burschen.«
Pitt sah auf den Boden und erkannte das grüne Jackett und das leuchtend rote Haar Wests. Das Blut, das ihm vom Hals über die Brust lief, begann schon eine dunkle Lache auf den Steinen zu bilden. Er konnte unmöglich noch am Leben sein. Gower jagte bereits dem anderen nach. Pitt folgte ihm und holte ihn diesmal mit seinen langen Beinen ein, bevor er die Straße erreicht hatte. »Wer ist das?«, stieß er atemlos hervor.
»Wrexham!«, gab Gower zurück. »Den haben wir schon seit Wochen im Auge.«
Das war Pitt bekannt, doch er hatte den Mann nie zuvor gesehen, kannte nur den Namen. Aber jetzt war keine Zeit für nähere Erklärungen. Eine Lücke im Verkehr nutzend, eilten er und Gower über die Straße Wrexham nach. Zum Glück war der wegen seiner Größe nicht so ohne weiteres zu übersehen, zumal er trotz des warmen Wetters einen langen hellen Schal trug, der bei jeder Bewegung hinter ihm her flatterte. Flüchtig kam Pitt der Gedanke, dass er ihm womöglich als Waffe diente - es dürfte nicht schwerfallen, jemanden damit zu erwürgen. Jetzt befanden sie sich auf einem belebten Gehweg, und Wrexham verlangsamte den Schritt. Er schien beinahe gemütlich dahinzuschlendern. War er womöglich so überheblich, dass er glaubte, sie so schnell abgeschüttelt zu haben? Ihm musste bewusst sein, dass sie ihn gesehen hatten, denn bei Gowers Ausruf war er herumgefahren und dann eilig davongelaufen. Vielleicht verließ er sich nun darauf, dass ihn sein betont unauffälliges Dahinschlendern gleichsam unsichtbar machte.
Sie schritten jetzt kräftig in Richtung Stepney und Limehouse nach Osten aus. Wenn sie die Hauptstraße erst einmal hinter sich hatten, würde die Zahl der Passanten deutlich abnehmen. »Seien Sie vorsichtig, wenn er in eine Gasse einbiegt«, mahnte Pitt. Sie gingen jetzt nebeneinander her wie zwei Geschäftsleute, die sich über etwas unterhielten. »Der Kerl dürfte ein Messer haben. Sonderbar, dass er sich so selbstsicher gibt. Er muss doch wissen, dass wir ihm folgen.«
Gower warf seinem Vorgesetzten einen raschen Blick zu und fragte mit weit geöffneten Augen: »Meinen Sie, der will versuchen, uns um die Ecke zu bringen?«
»Immerhin ist ihm klar, dass wir praktisch gesehen haben, wie er West die Gurgel durchgeschnitten hat«, gab Pitt zurück, darauf bedacht, seine Schritte an Gowers anzupassen.
»Mit Sicherheit weiß er, dass der Galgen auf ihn wartet, wenn wir ihn fassen.«
»Ich vermute, dass er einfach abtauchen und sich verstecken will, sobald er den Eindruck hat, dass wir in unserer Aufmerksamkeit nachlassen«, gab Gower zurück. »Wir sollten uns besser dicht hinter ihm halten. Der verschwindet bestimmt sofort, sobald wir ihn auch nur einen Moment aus den Augen verlieren.«
Pitt nickte zustimmend, und sie verringerten den Abstand zu Wrexham, der nach wie vor scheinbar völlig unbekümmert vor ihnen dahinschlenderte, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
War es möglich, dass jemand einem anderen die Kehle durchschneiden und wenige Augenblicke darauf mit harmloser Miene inmitten einer Menschenmenge spazieren gehen konnte, ohne sich etwas anmerken zu lassen? Diese Vorstellung ließ Pitt einen Schauer über den Rücken laufen. Was mochte im Kopf eines solchen Menschen vorgehen? An der selbstverständlichen Art, mit der Wrexham dahinflanierte, wies nichts auf Furcht hin und erst recht nichts darauf, dass sich der Mann des brutalen Mordes bewusst war, von dem das Blut noch an seinen Kleidern kleben musste. Wrexham bewegte sich geschmeidig in der Menschenmenge voran, und zweimal verloren sie ihn aus den Augen.
»Da hinten!«, stieß Gower beim ersten Mal hervor und wies mit der rechten Hand in die Richtung. »Ich gehe nach links.« Dabei sah er nicht vor sich und hätte beinahe einen Fenster putzer umgerannt, der mit seiner Leiter und einem Eimer voll Wasser unterwegs war. Pitt nahm die andere Richtung. Im Dämmerlicht der Gasse, das ihn überraschte, musste er einen Augenblick lang die Augen schließen. Dann sah er an ihrem Ende eine Bewegung und stürmte hin, doch es war nur ein Bettler, der aus einem Hauseingang geschlurft kam. Leise fluchend rannte Pitt zur Straße zurück und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Gower verzweifelt Ausschau nach ihm hielt. »Da drüben!«, rief er aus und rannte los. Pitt folgte ihm. Beim zweiten Mal war es Wrexham gelungen, die Straße unmittelbar vor einem Brauereifuhrwerk zu überqueren, und als Pitt und Gower schließlich eine Möglichkeit fanden, ihm zu folgen, war nichts mehr von ihm zu sehen. Es kostete sie über zehn Minuten, sich ihm wieder so weit zu nähern, dass sie normale Schritte machen konnten und es nicht aussah, als verfolgten sie ihn. In der Gegend waren jetzt deutlich weniger Menschen unterwegs, und zwei Männer im Laufschritt hätten sofort Aufsehen erregt, und dann wäre es Wrexham mühelos möglich gewesen, ihnen davonzulaufen, denn der Abstand zwischen ihnen belief sich sicherlich auf fünfzig Schritt.
Mittlerweile hatten sie die Commercial Road East in Stepney erreicht. Wenn Wrexham die Richtung nicht wechselte, würden sie bald in Limehouse sein, in der West India Road gleich am Ufer der Themse. In jener abgelegenen Gegend würde es ihn nicht die geringste Mühe kosten, im Gewirr von Ladekränen, Warenballen, Lagerhäusern, Hafenarbeitern und Schauerleuten unterzutauchen. Sofern er zu einem der Anleger ging, konnte er sich zwischen den vor Anker liegenden Schiffen und Kähnen aller Art unsichtbar machen, bevor Pitt und Gower ihrerseits eins der Fährboote besteigen und ihm
folgen konnten.
Als hätte er sie gesehen, beschleunigte Wrexham plötzlich den Schritt, dass sein Schal flog. Pitt empfand eine gewisse Unruhe. Seine Muskeln schmerzten, und seine Füße brannten trotz seines erstklassigen Schuhwerks. Das war der einzige Luxus an Kleidung, den er sich gönnte, ansonsten war mit ihm rein äußerlich nicht viel Staat zu machen. Nicht einmal vorzüglich geschnittene Jacketts saßen bei ihm richtig, weil er sich stets die Taschen mit allerlei Kleinigkeiten vollstopfte, von denen er annahm, dass er sie irgendwann einmal vielleicht brauchen könnte - Bindfaden, Siegelwachs und dergleichen. Seine Krawatten verrutschten ständig, vielleicht, weil er sie zu locker band. Doch bei seinen Schuhen achtete er nicht nur stets auf erste Qualität, sie waren auch jederzeit bestens gepflegt. Zwar arbeitete er hauptsächlich mit dem Kopf in dem Bemühen, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nichts sahen, doch war ihm bewusst, wie wichtig die Füße für einen Polizeibeamten waren. Manche Gewohnheiten wurde man eben nie los. Bis man ihn aus der Londoner Polizei hinausgedrängt hatte, woraufhin ihm Victor Narraway eine Anstellung beim Sicherheitsdienst angeboten hatte, war er so manche Meile zu Fuß gegangen, so dass er wusste, wie wichtig körperliche Ausdauer und erstklassiges Schuhwerk waren.
Mit einem Mal rannte Wrexham über die schmale Straße und verschwand in der Gun Lane. »Sicher will er zum Bahnhof von Limehouse!«, rief Gower und wich im letzten Augenblick einem Langholz-Fuhrwerk aus, während er ihm nachstürmte. Pitt war dicht hinter ihm. Dieser Bahnhof an der Linie nach Blackwall lag weniger als hundert Meter entfernt. Von dort aus konnte der Mann einen Zug in mindestens drei verschiedene Richtungen nehmen und damit in der Riesenstadt London untertauchen, womit er unauffindbar sein würde. Doch er lief mit laut hallenden Schritten durch die Gun Lane am Bahnhof vorüber, bog links in die Three Colts Street ein und wandte sich dann in Richtung Ropemaker's Field. Pitt war so sehr außer Atem, dass er Gower nichts hätte zurufen können. Wozu auch - ohnehin war Wrexham nur noch höchstens fünfzehn Schritt vor ihm. Da sich die drei rasch laufenden Männer näherten, stoben die wenigen Menschen auf dem Gehsteig auseinander. Ganz wie von Pitt befürchtet, strebte Wrexham der Themse zu. Am Ende von Ropemaker's Field ging es nach rechts in die Narrow Street. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Ufer. Vom Wasser wehte eine kräftige Brise herüber, die nach Salz und Schlamm roch. Es herrschte Ebbe. Ein halbes Dutzend Möwen kreisten träge über einigen Lastkähnen. Wrexham war immer noch vor ihnen. Allmählich wurden seine Bewegungen langsamer, seine Kräfte schienen nachzulassen. Er lief am Eingang zum Limehouse Cut vorüber, ganz offensichtlich waren die Kidney Stairs sein Ziel, an deren Fuß unter Umständen ein Fährboot abfahrbereit lag. Falls nicht, würde er das sehen, bevor er hinablief, und einfach zu einer der beiden nächsten steinernen Treppen rennen, die zum Fluss hinabführten, bevor sich die Straße wieder in Richtung Broad Street von ihm entfernte. Außer diesen dreien gab es noch weitere Treppen an den Shadwell Docks. An jeder von ihnen konnte er seine Verfolger ohne weiteres abschütteln, falls es ihm gelang, in ein abfahrbereites Boot zu springen. Gower wies auf den Fluss. »Zur Treppe!«, rief er und rang im nächsten Augenblick nach Luft. Er machte eine weit ausholende Armbewegung, dann lief er weiter, einige Schritte vor Pitt.
Pitt sah einen Fährmann, der sein Boot dem Ufer entgegenruderte. Er würde die Treppe kurz nach Wrexhams Eintreffen dort erreichen. Damit wäre es Pitt und Gower möglich, ihn in die Enge zu treiben. Vielleicht konnten sie den Fährmann dazu bringen, dass er sie zum Pool of London ruderte. Pitt sehnte sich nach einer Gelegenheit, sich wenigstens einige Minuten hinzusetzen und auszuruhen. Wrexham erreichte die Treppe und eilte sie hinab, wobei er verschwand, als sei er in ein Loch gefallen. Siegesgewissheit erfüllte Pitt. Das Fährboot war noch knapp zwanzig Meter von der Treppe entfernt. Gower stieß einen Triumphschrei aus und riss jubelnd eine Hand hoch.
Als sie das obere Ende der Treppe erreichten, sahen sie, wie sich ein Fährboot aus dem Schatten der Ufermauer löste. Wrexham saß im Heck. Sie waren einander so nahe, dass sie das höhnische Lächeln auf seinen Zügen sehen konnten, als er sich halb zu ihnen umwandte. Dann drehte er sich wieder dem Fährmann zu und wies ans andere Ufer. Pitt stürmte die Treppe so eilig hinab, dass er auf den nassen Steinen ausglitt und das Gleichgewicht nur mit Mühe halten konnte. Er winkte dem anderen Fährboot zu, das sie hatten näher kommen sehen. »Hierher! Schnell!«, rief er. Auch Gower rief. Seine Stimme klang verzweifelt. Der Fährmann beschleunigte das Tempo und legte sich mit voller Kraft in die Riemen, so dass er schon nach wenigen Sekunden anlegen konnte.
Aus dem Englischen von K. Schatzhauser
Originalausgabe: BETRAYAL AT LISSON GROVE, 2010 bei Headline Publishing Group, London
Copyright © 2010 by Anne Perry
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Nach wie vor war es Pitt nicht gelungen, Gower einzuholen, der sich seinen Weg mühelos zwischen sämtlichen Hindernissen hindurch zu bahnen schien. Im letzten Augenblick wich Pitt einer fülligen Streichholzverkäuferin aus und bemühte sich, zu seinem Untergebenen aufzuschließen. Zwar war Gower mindestens zehn Jahre jünger als er, kaum älter als dreißig, und war solche Verfolgungsjagden eher gewohnt, doch auf die Spur gekommen waren sie West, dem Mann, den sie jetzt verfolgten, dank der Erfahrung, die Pitt in der Londoner Polizei gesammelt hatte, bevor er in den Sicherheitsdienst übergewechselt war. Weiter vorn machte die Gasse einen scharfen Knick. Rasch entschuldigte sich Pitt bei einer alten Frau, die er beim Umrunden der Ecke angestoßen hatte, und schlug dann sofort wieder das scharfe Tempo an. Jetzt konnte er Wests roten Schopf etwa vierzig Schritt vor sich sehen. Ganz offensichtlich strebte der Mann der breiten Hauptstraße entgegen. Sie mussten ihn unbedingt einholen, bevor er dort in der Menschenmenge untertauchen konnte.
Gower war jetzt dicht hinter West und streckte schon eine Hand nach ihm aus. Doch genau in dem Augenblick schlug dieser einen Haken. Gower geriet ins Straucheln, prallte gegen eine Mauer, krümmte sich vor Schmerz und blieb, um Atem ringend, stehen.
Pitt beschleunigte das Tempo noch einmal und holte West in dem Augenblick ein, als dieser in die Hauptstraße einbog, sich dort rücksichtslos seinen Weg durch eine Menschengruppe bahnte und verschwand. Pitt folgte ihm. Schon an der nächsten Kreuzung sah er den Mann wieder vor sich. Er musste ihn um jeden Preis fassen und achtete jetzt seinerseits auch nicht mehr darauf, ob er jemanden anstieß oder beiseiteschob. West wusste Dinge, die von entscheidender Bedeutung sein konnten. Auf dem ganzen europäischen Kontinent nahm die politische Unruhe rasch zu und äußerte sich immer heftiger. Allenthalben gab es Versuche, im Namen angeblicher Reformen Regierungen zu stürzen und anarchische Zustände zu etablieren, die nach Ansicht ihrer Befürworter eine Art Gleichheit aller vor dem Gesetz gewährleisteten. Manche dieser Neuerer begnügten sich mit Brandreden, während andere zu Dynamit oder Schusswaffen griffen. Der englische Sicherheitsdienst hatte erfahren, dass ein Anschlag geplant war, doch waren ihm weder die führenden Köpfe bekannt noch - weit gravierender -, wer dabei als Opfer ausersehen war. Diese Angaben sollte West machen, um den Preis seines eigenen Lebens, falls sein Verrat bekannt wurde. Wo nur zum Teufel steckte Gower? Pitt sah sich im Gewimmel um, um festzustellen, ob er ihn in dem Meer aus Köpfen, steifen Hüten, Mützen und Hauben sah. Er konnte es sich nicht leisten, länger zu warten. Ob Gower sich noch in der Gasse befand, in der er gegen die Mauer geprallt war, womöglich verletzt? Pitt konnte sich das nicht recht vorstellen. Vor sich erkannte er jetzt erneut West, der eine Lücke im Verkehr nutzte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Drei Droschken folgten einander in so geringem Abstand, dass es aussichtslos war, sich zwischen ihnen hindurchschlängeln zu wollen. Vor Ungeduld kochend, stand Pitt am Straßenrand. Unmöglich, sich jetzt in den Verkehr zu wagen, zumal ihm auch noch ein vierspänniges Fuhrwerk entgegenkam - er würde mit Sicherheit überfahren.
Gleich darauf näherte sich ein Pferdeomnibus, unmittelbar gefolgt von zwei schwer beladenen Fuhrwerken. In der Gegenrichtung blockierten weitere Fuhrwerke und ein Bierkutscher mit seinem Gespann die Straße. In der Zwischenzeit hatte Pitt West vollständig aus den Augen verloren, während sich Gower in Luft aufgelöst zu haben schien. Kaum entstand eine winzige Lücke im Verkehr, als Pitt im Laufschritt quer über die Straße stürmte, wobei er sich geschickt zwischen den verschiedenen Fahrzeugen hindurchwand, ohne sich um den Zorn der Kutscher zu kümmern, den er damit auf sich zog. Nur um ein Haar verfehlte ihn die scharfe Schnur einer Peitsche. Jemand brüllte ihn an, doch er achtete nicht darauf. Auf der anderen Straßenseite erkannte er einen kurzen Augenblick lang den leuchtenden Schopf Wests, der gerade um eine Ecke in eine weitere schmale Gasse bog.
Pitt stürmte ihm nach, konnte aber nichts von ihm entdecken, als er die Gasse erreichte.
»Haben Sie einen Mann mit roten Haaren gesehen?«, erkundigte er sich bei einem Mann, der belegte Brote verkaufte.
»In welche Richtung ist er gegangen?«
»Woll'n Se eins?«, fragte ihn der Mann mit weit geöffneten Augen. »Die sin' sehr gut, heute Morg'n frisch gemacht. Nur zwei Pennies.«
Mit einem Griff in die Tasche förderte Pitt ein Taschenmesser, ein Taschentuch und einige Geldstücke zutage. Er gab dem Mann eine Drei-Penny-Münze und lehnte das belegte Brot höflich ab. Auch wenn es frisch sein mochte, war er jetzt nicht in der Stimmung, etwas zu essen.
»Wohin?«, fragte er grimmig.
»Da rüber!« Der Mann wies in die dunkle Gasse. Pitt begann erneut zu rennen. Dabei musste er sorgfältig darauf achten, nicht über den sich überall häufenden Unrat zu stolpern. Eine Ratte rannte zwischen seinen Füßen hindurch, und beinahe wäre er über einen Betrunkenen gestolpert, dessen Beine aus einem Hauseingang ragten. Jemand schlug mit der Faust nach ihm, er wich rasch aus, verlor einen Augenblick lang das Gleichgewicht, sah aber West immer noch vor sich. Jetzt war der Mann wieder verschwunden, ohne dass Pitt hätte sagen können, wohin. Er versuchte es mit mehreren Nebensträßchen, die Sackgassen waren, sowie mit Höfen, aus denen es ebenfalls nicht weiterging - vergebens. Nach Minuten, die ihm endlos vorkamen, sah er Gowers vertraute Gestalt aus einer Seitenstraße kommen. Mit den Worten »Hier entlang! Rasch!« fasste Gower ihn so fest am Arm, dass er unwillkürlich keuchte. Gemeinsam eilten sie weiter, Pitt an den dunklen Mauern entlang über den schadhaften Gehsteig, Gower in der Gosse, so dass seine Stiefel bei jedem Schritt das schmutzige Wasser nur so hochspritzen ließen. Als sie eine Ecke umrundeten, sahen sie, wie am Eingang zu einer Ziegelei ein Mann vor etwas, was am Boden lag, hockte und sich vorbeugte. Mit einem Wutschrei stürmte Gower voran, wobei er Pitt in die Quere kam und mit ihm zusammen zu Boden ging. Pitt war rechtzeitig wieder auf den Beinen, um zu sehen, wie sich der Hockende zu ihnen umdrehte, sich rasch aufrichtete und davonlief, als gehe es um sein Leben.
»Großer Gott!«, stieß Gower hervor, der inzwischen wieder auf den Beinen war. »Ihm nach! Ich kenn den Burschen.«
Pitt sah auf den Boden und erkannte das grüne Jackett und das leuchtend rote Haar Wests. Das Blut, das ihm vom Hals über die Brust lief, begann schon eine dunkle Lache auf den Steinen zu bilden. Er konnte unmöglich noch am Leben sein. Gower jagte bereits dem anderen nach. Pitt folgte ihm und holte ihn diesmal mit seinen langen Beinen ein, bevor er die Straße erreicht hatte. »Wer ist das?«, stieß er atemlos hervor.
»Wrexham!«, gab Gower zurück. »Den haben wir schon seit Wochen im Auge.«
Das war Pitt bekannt, doch er hatte den Mann nie zuvor gesehen, kannte nur den Namen. Aber jetzt war keine Zeit für nähere Erklärungen. Eine Lücke im Verkehr nutzend, eilten er und Gower über die Straße Wrexham nach. Zum Glück war der wegen seiner Größe nicht so ohne weiteres zu übersehen, zumal er trotz des warmen Wetters einen langen hellen Schal trug, der bei jeder Bewegung hinter ihm her flatterte. Flüchtig kam Pitt der Gedanke, dass er ihm womöglich als Waffe diente - es dürfte nicht schwerfallen, jemanden damit zu erwürgen. Jetzt befanden sie sich auf einem belebten Gehweg, und Wrexham verlangsamte den Schritt. Er schien beinahe gemütlich dahinzuschlendern. War er womöglich so überheblich, dass er glaubte, sie so schnell abgeschüttelt zu haben? Ihm musste bewusst sein, dass sie ihn gesehen hatten, denn bei Gowers Ausruf war er herumgefahren und dann eilig davongelaufen. Vielleicht verließ er sich nun darauf, dass ihn sein betont unauffälliges Dahinschlendern gleichsam unsichtbar machte.
Sie schritten jetzt kräftig in Richtung Stepney und Limehouse nach Osten aus. Wenn sie die Hauptstraße erst einmal hinter sich hatten, würde die Zahl der Passanten deutlich abnehmen. »Seien Sie vorsichtig, wenn er in eine Gasse einbiegt«, mahnte Pitt. Sie gingen jetzt nebeneinander her wie zwei Geschäftsleute, die sich über etwas unterhielten. »Der Kerl dürfte ein Messer haben. Sonderbar, dass er sich so selbstsicher gibt. Er muss doch wissen, dass wir ihm folgen.«
Gower warf seinem Vorgesetzten einen raschen Blick zu und fragte mit weit geöffneten Augen: »Meinen Sie, der will versuchen, uns um die Ecke zu bringen?«
»Immerhin ist ihm klar, dass wir praktisch gesehen haben, wie er West die Gurgel durchgeschnitten hat«, gab Pitt zurück, darauf bedacht, seine Schritte an Gowers anzupassen.
»Mit Sicherheit weiß er, dass der Galgen auf ihn wartet, wenn wir ihn fassen.«
»Ich vermute, dass er einfach abtauchen und sich verstecken will, sobald er den Eindruck hat, dass wir in unserer Aufmerksamkeit nachlassen«, gab Gower zurück. »Wir sollten uns besser dicht hinter ihm halten. Der verschwindet bestimmt sofort, sobald wir ihn auch nur einen Moment aus den Augen verlieren.«
Pitt nickte zustimmend, und sie verringerten den Abstand zu Wrexham, der nach wie vor scheinbar völlig unbekümmert vor ihnen dahinschlenderte, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
War es möglich, dass jemand einem anderen die Kehle durchschneiden und wenige Augenblicke darauf mit harmloser Miene inmitten einer Menschenmenge spazieren gehen konnte, ohne sich etwas anmerken zu lassen? Diese Vorstellung ließ Pitt einen Schauer über den Rücken laufen. Was mochte im Kopf eines solchen Menschen vorgehen? An der selbstverständlichen Art, mit der Wrexham dahinflanierte, wies nichts auf Furcht hin und erst recht nichts darauf, dass sich der Mann des brutalen Mordes bewusst war, von dem das Blut noch an seinen Kleidern kleben musste. Wrexham bewegte sich geschmeidig in der Menschenmenge voran, und zweimal verloren sie ihn aus den Augen.
»Da hinten!«, stieß Gower beim ersten Mal hervor und wies mit der rechten Hand in die Richtung. »Ich gehe nach links.« Dabei sah er nicht vor sich und hätte beinahe einen Fenster putzer umgerannt, der mit seiner Leiter und einem Eimer voll Wasser unterwegs war. Pitt nahm die andere Richtung. Im Dämmerlicht der Gasse, das ihn überraschte, musste er einen Augenblick lang die Augen schließen. Dann sah er an ihrem Ende eine Bewegung und stürmte hin, doch es war nur ein Bettler, der aus einem Hauseingang geschlurft kam. Leise fluchend rannte Pitt zur Straße zurück und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Gower verzweifelt Ausschau nach ihm hielt. »Da drüben!«, rief er aus und rannte los. Pitt folgte ihm. Beim zweiten Mal war es Wrexham gelungen, die Straße unmittelbar vor einem Brauereifuhrwerk zu überqueren, und als Pitt und Gower schließlich eine Möglichkeit fanden, ihm zu folgen, war nichts mehr von ihm zu sehen. Es kostete sie über zehn Minuten, sich ihm wieder so weit zu nähern, dass sie normale Schritte machen konnten und es nicht aussah, als verfolgten sie ihn. In der Gegend waren jetzt deutlich weniger Menschen unterwegs, und zwei Männer im Laufschritt hätten sofort Aufsehen erregt, und dann wäre es Wrexham mühelos möglich gewesen, ihnen davonzulaufen, denn der Abstand zwischen ihnen belief sich sicherlich auf fünfzig Schritt.
Mittlerweile hatten sie die Commercial Road East in Stepney erreicht. Wenn Wrexham die Richtung nicht wechselte, würden sie bald in Limehouse sein, in der West India Road gleich am Ufer der Themse. In jener abgelegenen Gegend würde es ihn nicht die geringste Mühe kosten, im Gewirr von Ladekränen, Warenballen, Lagerhäusern, Hafenarbeitern und Schauerleuten unterzutauchen. Sofern er zu einem der Anleger ging, konnte er sich zwischen den vor Anker liegenden Schiffen und Kähnen aller Art unsichtbar machen, bevor Pitt und Gower ihrerseits eins der Fährboote besteigen und ihm
folgen konnten.
Als hätte er sie gesehen, beschleunigte Wrexham plötzlich den Schritt, dass sein Schal flog. Pitt empfand eine gewisse Unruhe. Seine Muskeln schmerzten, und seine Füße brannten trotz seines erstklassigen Schuhwerks. Das war der einzige Luxus an Kleidung, den er sich gönnte, ansonsten war mit ihm rein äußerlich nicht viel Staat zu machen. Nicht einmal vorzüglich geschnittene Jacketts saßen bei ihm richtig, weil er sich stets die Taschen mit allerlei Kleinigkeiten vollstopfte, von denen er annahm, dass er sie irgendwann einmal vielleicht brauchen könnte - Bindfaden, Siegelwachs und dergleichen. Seine Krawatten verrutschten ständig, vielleicht, weil er sie zu locker band. Doch bei seinen Schuhen achtete er nicht nur stets auf erste Qualität, sie waren auch jederzeit bestens gepflegt. Zwar arbeitete er hauptsächlich mit dem Kopf in dem Bemühen, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nichts sahen, doch war ihm bewusst, wie wichtig die Füße für einen Polizeibeamten waren. Manche Gewohnheiten wurde man eben nie los. Bis man ihn aus der Londoner Polizei hinausgedrängt hatte, woraufhin ihm Victor Narraway eine Anstellung beim Sicherheitsdienst angeboten hatte, war er so manche Meile zu Fuß gegangen, so dass er wusste, wie wichtig körperliche Ausdauer und erstklassiges Schuhwerk waren.
Mit einem Mal rannte Wrexham über die schmale Straße und verschwand in der Gun Lane. »Sicher will er zum Bahnhof von Limehouse!«, rief Gower und wich im letzten Augenblick einem Langholz-Fuhrwerk aus, während er ihm nachstürmte. Pitt war dicht hinter ihm. Dieser Bahnhof an der Linie nach Blackwall lag weniger als hundert Meter entfernt. Von dort aus konnte der Mann einen Zug in mindestens drei verschiedene Richtungen nehmen und damit in der Riesenstadt London untertauchen, womit er unauffindbar sein würde. Doch er lief mit laut hallenden Schritten durch die Gun Lane am Bahnhof vorüber, bog links in die Three Colts Street ein und wandte sich dann in Richtung Ropemaker's Field. Pitt war so sehr außer Atem, dass er Gower nichts hätte zurufen können. Wozu auch - ohnehin war Wrexham nur noch höchstens fünfzehn Schritt vor ihm. Da sich die drei rasch laufenden Männer näherten, stoben die wenigen Menschen auf dem Gehsteig auseinander. Ganz wie von Pitt befürchtet, strebte Wrexham der Themse zu. Am Ende von Ropemaker's Field ging es nach rechts in die Narrow Street. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Ufer. Vom Wasser wehte eine kräftige Brise herüber, die nach Salz und Schlamm roch. Es herrschte Ebbe. Ein halbes Dutzend Möwen kreisten träge über einigen Lastkähnen. Wrexham war immer noch vor ihnen. Allmählich wurden seine Bewegungen langsamer, seine Kräfte schienen nachzulassen. Er lief am Eingang zum Limehouse Cut vorüber, ganz offensichtlich waren die Kidney Stairs sein Ziel, an deren Fuß unter Umständen ein Fährboot abfahrbereit lag. Falls nicht, würde er das sehen, bevor er hinablief, und einfach zu einer der beiden nächsten steinernen Treppen rennen, die zum Fluss hinabführten, bevor sich die Straße wieder in Richtung Broad Street von ihm entfernte. Außer diesen dreien gab es noch weitere Treppen an den Shadwell Docks. An jeder von ihnen konnte er seine Verfolger ohne weiteres abschütteln, falls es ihm gelang, in ein abfahrbereites Boot zu springen. Gower wies auf den Fluss. »Zur Treppe!«, rief er und rang im nächsten Augenblick nach Luft. Er machte eine weit ausholende Armbewegung, dann lief er weiter, einige Schritte vor Pitt.
Pitt sah einen Fährmann, der sein Boot dem Ufer entgegenruderte. Er würde die Treppe kurz nach Wrexhams Eintreffen dort erreichen. Damit wäre es Pitt und Gower möglich, ihn in die Enge zu treiben. Vielleicht konnten sie den Fährmann dazu bringen, dass er sie zum Pool of London ruderte. Pitt sehnte sich nach einer Gelegenheit, sich wenigstens einige Minuten hinzusetzen und auszuruhen. Wrexham erreichte die Treppe und eilte sie hinab, wobei er verschwand, als sei er in ein Loch gefallen. Siegesgewissheit erfüllte Pitt. Das Fährboot war noch knapp zwanzig Meter von der Treppe entfernt. Gower stieß einen Triumphschrei aus und riss jubelnd eine Hand hoch.
Als sie das obere Ende der Treppe erreichten, sahen sie, wie sich ein Fährboot aus dem Schatten der Ufermauer löste. Wrexham saß im Heck. Sie waren einander so nahe, dass sie das höhnische Lächeln auf seinen Zügen sehen konnten, als er sich halb zu ihnen umwandte. Dann drehte er sich wieder dem Fährmann zu und wies ans andere Ufer. Pitt stürmte die Treppe so eilig hinab, dass er auf den nassen Steinen ausglitt und das Gleichgewicht nur mit Mühe halten konnte. Er winkte dem anderen Fährboot zu, das sie hatten näher kommen sehen. »Hierher! Schnell!«, rief er. Auch Gower rief. Seine Stimme klang verzweifelt. Der Fährmann beschleunigte das Tempo und legte sich mit voller Kraft in die Riemen, so dass er schon nach wenigen Sekunden anlegen konnte.
Aus dem Englischen von K. Schatzhauser
Originalausgabe: BETRAYAL AT LISSON GROVE, 2010 bei Headline Publishing Group, London
Copyright © 2010 by Anne Perry
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Ihre historischen Kriminalromane begeistern ein Millionenpublikum und gelangten international auf die Bestsellerlisten. Anne Perry verstarb 2023 in Los Angeles.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2011, Deutsche Erstausgabe, 480 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: K. Schatzhauser
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435532
- ISBN-13: 9783453435537
- Erscheinungsdatum: 04.03.2011
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