Der Weihnachtswolf
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Doch dann liegt plötzlich ein Wolf in der Küche und das ganze Haus steht Kopf.
Der Weihnachtswolfvon Helga Glaesener
LESEPROBE
Du willsteine Weihnachtsgeschichte hören? Ich könnte dir eine erzählen. Sie beginntallerdings traurig, mit dem Tod meiner Eltern, und das ist ein schlechterAnfang für jede Geschichte. Aber wenn sie nicht gestorben wären, wäre ichniemals ins Riesengebirge gezogen, ich hätte Anna und ihre Brüder nicht kennengelernt, der heilige Petrus hätte nicht versucht, mich zu verprügeln, undnatürlich wäre auch der Weihnachtswolf Aber vielleicht sollte ich mit demAnfang beginnen. Vor dem Tod meiner Eltern lebte ich in Rom. Wir besaßen dorteine Omnibuslinie und eine Villa, in deren Garten eine Schaukel und ein Brunnenmit einem gehörnten, zottelbärtigen Mann aus Marmor standen, und ich war einglückliches Kind. Ich verbrachte den Sommer mit meiner Mutter in den Bergen, wowir lange Wanderungen machten, und wenn wir zurückkamen, besuchten wir dieMuseen und den Fischmarkt.
Dann kamenmeine Eltern bei einem Schiffsunglück ums Leben, und als die Beerdigung vorüberwar, erklärte mir mein römischer Onkel, dass ich am besten bei den deutschenSchwestern meiner Mutter aufgehoben sei. Er telegrafierte, und vier Tage späterfuhr ich in einer fauchenden Lok in den Bahnhof von Hermsdorf ein. Genaugenommen war es gar kein Bahnhof. Nur ein gepflasterter Laufsteg und ein Platzvoll Stapelholz. Hinter den Holzhaufen erhoben sich verschneite Berghänge, andenen Blockhäuser mit Schindeldächern klebten. Es graupelte, und als ich ausder Bahn stieg, erschien mir der Himmel wie ein gepolsterter Sargdeckel, dersich über das Land legen wollte. Das war es, was ich dachte, als ich zum erstenMal den schweren, grauen Himmel des Riesengebirges sah. Ein Sargdeckel. DieFrau, die mich begleitet hatte, tätschelte meinen Kopf und übergab mich an zweiDamen, die auf dem Bahnsteig warteten. Eine von ihnen zog mich an ihren Mantelaus rotem Fuchsfell und vergoss Tränen in mein Haar. Aus den Augenwinkelnkonnte ich sehen, wie ein Bahnbeamter meine beiden Koffer aus dem Abteilreichte. So begann mein neues Leben.
Bevor nunMitleid aufkommt: Mich erwartete kein trauriges Waisenlos. Vor dem Bahnhofstand ein Opel 4, und ein Chauffeur, der etwas Lustiges vor sich hinpfiff, fuhr uns zu einem Haus mit Türmchen und einem roten Ziegeldach, das wie einkleines Schloss aussah. Die Tanten brachten mich in ein Zimmer. Es hatte grüneVorhänge, und an den Wänden standen ein glänzendes Messingbett, zwei weißeKommoden und ein ebenfalls weißes Tischchen, auf dem eine Armee Zinnsoldaten paradierte.»Du armes Herzchen«, sagte die Tante, die in mein Haar geweint hatte, undtupfte sich mit einem Taschentuch die Augenwinkel. »Reiß dich zusammen, Rosi«,sagte die andere Tante. »Der Junge braucht ein Bad, und dann muss er schlafen.Er hat eine lange Reise hinter sich.« »Schau«, sagte Tante Rosi und zog mich zuden Soldaten. Sie nahm einen Artilleristen, der sein Schwert erhoben hatte, undsagte: »Bumm, bumm.« Ich nickte und wunderte mich, wieso sie dachte, dass manmit einem Schwert schießen kann. »Ich bin deine Tante Rosi.« Ich nickte wieder.Tante Rosi trug einen Turban und eine Brille mit silbernen Ranken und roch wiedas Rüschenkissen meiner Mutter, auf dem ich einmal eine Flasche Parfümumgestoßen hatte. »Nimm doch, er gehört dir«, sagte sie und wollte mir denZinnsoldaten in die Hand drücken. Aber in meiner Faust lag bereits der hölzerneWolf, den meine Mutter mir im Andenkenladen am Kapitol gekauft hatte. Ich hatteihn mitgenommen, weil jedes andere Spielzeug zu sperrig gewesen wäre.Eigentlich war es gar kein Wolf, sondern eine Wölfin mit langen Zitzen, undursprünglich hatten zwei kleine Jungenpuppen dazugehört, die von ihr gesäugtworden waren. Die Jungen hatte ich in der Eile aber nicht gefunden. »Ich sagtedoch, er ist müde«, meinte die andere Tante. Sie hatte ein Doppelkinn und einendicken, schweren Busen und hieß Malwine. Das erklärte sie mir in einem Ton, alswäre sie es leid, sich ständig wiederholen zu müssen, und ich bekam ein wenigAngst vor ihr. Die Tanten führten mich in ein Badezimmer, indem ein Zuber mit dampfendem Wasser stand. Ich sollte mich waschen, auch hinterden Ohren, und als ich mit Baden fertig und in mein Nachthemd gestiegen war,brachten sie mich zu Bett. »Gut, dass bald Weihnachten ist«, sagte Tante Malwine,als sie die Bettdecke feststeckte. Sie blickte auf mich herab wie ein Arzt, demder Zustand seines Patienten missfällt. Dann gingen sie hinaus.
Esdämmerte. Ich lag in plustrigen, weißen Kissen. Draußen schneite es, und derKastanienbaum vor dem Fenster reckte die Äste, als wolle er die Flocken damit fangen.Es roch nach Mottenpulver. Und in meiner Faust lag der Wolf. Am nächsten Tagwurde ich durch das Rascheln der Vorhänge und den Duft heißer Schokolade geweckt.Ich hielt die Augen geschlossen, weil ich mich nicht erinnern konnte, wo ichwar. Mir fehlte das Schütteln der Eisenbahn, und dann fiel mir ein, dasserstens meine Eltern tot waren, dass ich zweitens deshalb ins Riesengebirgeumgezogen war und dass ich drittens zwei Tanten hatte, von denen einein mein Haar weinte und die andere mich nicht leiden konnte. Unter diesenUmständen sah ich keinen Grund, die Augen zu öffnen. Aber der Wolf war untermeinen Rücken gerutscht und drückte, und ihn mit geschlossenen Augen hervorzukramenkam mir albern vor.
Nicht dieTanten - ein Mädchen stand vor dem Tisch mit den Zinnsoldaten. Es hatte zweiflammend rote Zöpfe, die so stramm gebunden waren, dass sie wie Drähteabstanden, und eine riesige weiße Schürzenschleife auf dem Rücken. Was sie amTischchen tat, konnte ich nicht erkennen, bis auf einmal die halbe Armee, wievon einer Sturmbö erfasst, über die Tischkante gefegt wurde. »So«, sagte dasMädchen. Es drehte sich um und verschränkte die Arme über der beschürzten Brust.Als sie sich bewegte, konnte ich sehen, dass sie ein Tablett mit einerdampfenden Tasse auf dem Tischchen abgestellt hatte. »Trinken kannste ja wohlselbst.« Ich nickte.
Sie hattefroschgrüne Augen, eine spitze, dünne Nase, ein draufgängerisches Kinn und soviele Sommersprossen, als wären sie ihr bei einem Sturm aufs Gesicht geblasenworden. »Essen gibt s in einer Stunde im Salon. Alles klar?«Sie konnte nicht viel älter sein als ich, höchstens zwölf oder dreizehn. Ichstarrte sie an oder vielmehr, ich starrte ihre flammenden Zöpfe an und warverzaubert von der Entschlossenheit, mit der sie die Soldaten vom Tischgewischt hatte.
Sie wandtesich zum Gehen, aber bevor sie endgültig verschwinden konnte, rief ich schnell:»Danke für die Schokolade.« Die Tür fiel ins Schloss, und ich sank in dieKissen zurück. Besonders nett war das Mädchen nicht gewesen. Trotzdem fand ich,dass mir zum ersten Mal, seit ich Rom verlassen hatte, etwas Gutes passiert war.
© List
Autoren-Porträtvon HelgaGlaesener
Helga Glaesener, 1955 geboren, hat Mathematik studiert,ist Mutter von fünf Kindern und lebt heute in Aurich, Ostfriesland. Bei Listerschienen ihre Erfolgsromane "Die Safranhändlerin" (1997) "DieRechenkünstlerin" (1998) und zuletzt "Du süße sanfte Mörderin"(2000), die ein begeistertes Lesepublikum fanden.
Interview mitHelga Glaesener
Worin liegt für Sie der besondere Reiz einerWeihnachtsgeschichte? Was ist anders als bei anderen Geschichten?
Weihnachten ist bekanntermaßen mit Sehnsuchtverbunden. Sehnsucht nach Glück, nach einem Gefühl des Zusammengehörens, nachSinn. Und die Enttäuschung, wenn der mit viel Aufwand vorbereitete 24. Dezemberall das nicht liefern kann (wie merkwürdig, dass wir immer noch darauf warten),liegt jedes Jahr mit dem größtem Geschenkband unterm Tannenbaum. Als ich dieseWeihnachtsgeschichte geschrieben habe, ging es mir also um das Weihnachtsglück.Wie kann man es vielleicht doch "herbeizwingen"? Ich habe fünf Kinderund vierzehn Nichten und Neffen. Weihnachten ist in einer so großen Familie wieein Naturereignis - man kann ihm nicht entrinnen. Also habe ich mich um eineAntwort bemüht. Sie ist vielleicht ein bisschen schräg ausgefallen. Aber esgeht ja auch um ein schräges Phänomen.
Woher stammt die Idee, einen Jungen aus Italien nachdem Unfalltod seiner Eltern in den ehemals deutschen Teil des Riesengebirges zuschicken? Wie vertraut sind Ihnen Land und Leute?
Hier wurde nicht viel kalkuliert. Ich liebe Italien,also kam der kleine Paolo aus Rom, aus einer Stadt also, die ich während meinerRecherchen für das Buch "Wer Asche hütet" gut kennen gelernt habe."Riesengebirge" hört sich für mich bedrohlich, aber auch aufunheimliche Weise schön an. Das richtige Ambiente also, um PaolosSchwierigkeiten einen Rahmen zu geben. Aus eigener Anschauung kenne ich dasLand nicht, so habe ich meine Informationen aus Büchern, die die Lebensumständeder Zwanziger Jahre im Riesengebirge schildern, und von Bekannten, die dortaufgewachsen sind.
Ihre Figuren, allen voran Paolo und Anna, habenSeele. Beide stehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Kommt daher dieEmpfehlung "Eine Weihnachtsgeschichte für Kinder und Erwachsene"?
Ich hatte beim Schreibendieses Buches ausnahmsweise keine Zielgruppe vor Augen. Wie unprofessionell -das geht mir erst in diesem Augenblick auf! Ich habe geschrieben, was mir aufdem Herzen lag. Und dann überrascht den Aufdruck auf dem Cover zur Kenntnisgenommen. Aber der Verlag hat Recht: Die Geschichte ist für Kinder undErwachsene.
Ihre Erzählung bietet alles, was man mit Weihnachtenverbindet: Krippenspiel, Geschenke, Armut, Tod, Kälte ... und auf demTitelblatt ein goldenes Sternchen. Hatten Sie beim Schreiben keine Angst vordem "Kitsch-Vorwurf"?
Die hatte ich. Nicht vor dem Vorwurf, aber dass ausmeiner Geschichte auf schreckliche Weise doch ein Kitschmonstrum werden könnte.Eine Zeit lang habe ich überlegt, ob ich nicht einfach etwas Lustiges schreibe.Also eine dieser Geschichten, die wie ein Pflaster auf die Weihnachtswundegeklebt werden. Aber das hat mich nicht wirklich gereizt. Also habe ich michgetraut. Und ich bin ein klein wenig stolz auf das Ergebnis.
Wie feiern oder feierten Sie mit Ihren fünf KindernWeihnachten - eher traditionell, oder kann da auch ein Weihnachtswolfvorkommen?
Wir feiern vor allemchaotisch. Alle reden durcheinander. Alle bringen die Küche in Unordnung. Undkurz bevor die Wohnung explodiert, machen wir einen Ausflug in die AuricherEierberge. Mehr als einmal im Jahr könnte ich Weihnachten nicht ertragen. Aberweniger dürfte es auch nicht sein.
Die Fragen stellte Hans Jürgensen, literaturtest.de.
- Autor: Helga Glaesener
- 2004, 120 Seiten, Maße: 12,3 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 354860482X
- ISBN-13: 9783548604824
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