Der Zwerg reinigt den Kittel
Sitzen vier Omas im Knast. Klingt wie ein Witz, aber Humor haben die Damen gerade keinen, dafür ein Problem. Schwere Körperverletzung, wahrscheinlich mit Todesfolge. Ursprünglich war das anders gedacht: Ferien für immer im Altenheim. Die Idee war gut, die...
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Produktinformationen zu „Der Zwerg reinigt den Kittel “
Klappentext zu „Der Zwerg reinigt den Kittel “
Sitzen vier Omas im Knast. Klingt wie ein Witz, aber Humor haben die Damen gerade keinen, dafür ein Problem. Schwere Körperverletzung, wahrscheinlich mit Todesfolge. Ursprünglich war das anders gedacht: Ferien für immer im Altenheim. Die Idee war gut, die Wirklichkeit nicht so. Club Tropicana hat zwar keine erwartet, aber diese Endlagerstätte für senile Altlasten auch nicht: talentfreie Zivis, verrückte Mitinsassen, sadistische Oberschwestern - irgendwann reicht's. Die vier Alten schlagen zurück, und das klingt schon wieder wie ein Witz, ist aber keiner. Ein böser Spaß für alle, denen Einer flog übers Kuckucksnest eine Spur zu sozialromantisch war.
Lese-Probe zu „Der Zwerg reinigt den Kittel “
Der Zwerg reinigt den Kittel von Anita Augustin0
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Sie nehmen dir alles, wenn es so weit ist. Alles, was du noch hast. Den Wohnungsschlüssel, die Möbel, die Gummipalme. Sie nehmen dir das Recht, aufzuwachen, wann du willst, und einzuschlafen, wann du willst. Das Recht, keine Schonkost zu essen, keine Vitamintabletten zu schlucken und so viele Schlaftabletten, wie du willst.
Das Recht, einsam zu sein.
Und wenn sie dir alles genommen haben, dann geben sie dir einen Biographiebogen. Das ist ihr erstes Geschenk an dich, es werden noch andere kommen, zum Beispiel die Liste mit dem Freizeitangebot oder der Fragebogen über deine Erfahrungen beim letzten Gedächtnistraining, aber der Biographiebogen ist das erste.
Er ist ein Geschenk, also sei nicht undankbar, bleib locker und hör vor allem auf, so zu tun, als sei die Gummipalme echt gewesen und die Einsamkeit gewollt. Als sei dein altes Leben in Ordnung gewesen, bevor sie es dir genommen haben.
Hör auf damit.
Schöne Sache, so ein Biographiebogen. Da steht alles drin, was du früher einmal warst. Berufstätig, aktiv, erfolgreich. Deine Hobbys stehen drin, also die, die du früher einmal hattest. Radfahren, Glasmalerei, Modelleisenbahn. Sie fragen dich, ob du früher eher glücklich warst oder eher unglücklich, ob du chronische Krankheiten hattest, ob du depressiv warst. Sogar nach deiner Lieblingsfarbe fragen sie dich und schreiben Schwarz in die Rubrik und machen einen Verweispfeil zur Rubrik Depression, wo ein fettes X steht.
Wenn du sagst, dass deine Lieblingsfarbe neuerdings Gelb ist, so ein warmes, nahrhaftes Dottergelb, dann interessiert sie das einen Scheißdreck.
Du sagst: Ich habe die Glasmalerei aufgegeben und würde jetzt lieber Kampfsport betreiben.
Keine Reaktion.
Du sagst: Ich war früher immer eher unglücklich und würde jetzt lieber glücklich sein, wenn sich das machen lässt.
Keine Reaktion.
Dann fragen sie dich, ob du noch alleine aufs Klo gehen kannst, wie dein Waschwasser temperiert sein soll und ob du für deine Bestattung vorgesorgt hast.
So viel zum Thema Zukunft.
Kapitel Eins
Irgendwer muss ja schuld sein, die Frage ist nur: Wer.
Es gibt drei Möglichkeiten:
Erstens Karlotta, weil es ihre Idee war.
Zweitens Marlen, weil sie mitgemacht hat.
Drittens Suzanna, weil ihr nichts Besseres eingefallen ist, als die ganze Zeit kichernd danebenzustehen und alle paar Sekunden in die Hände zu klatschen von wegen Weitermachen! Weitermachen!.
Am Ende haben die drei beschlossen, dass ich schuld bin.
Nun gut.
Was soll's.
Einer muss es ja sein, und zuerst habe ich mich natürlich gewehrt und gesagt, dass es viele Dinge im Leben gibt, die ziemlich erstrebenswert sind, zum Beispiel reich sein oder schön sein, um nur die Klassiker zu nennen, und glücklich sein natürlich, aber schuld sein, das will doch keiner.
Und die Wahrheit ist: Wir sind alle schuld, alle vier, weil wir es gemeinsam getan haben. Wir haben die arme Frau gemeinsam niedergeschlagen und in den Keller geschleppt, und dort haben wir sie gemeinsam stundenlang misshandelt.
Gequält.
Gefoltert.
Schwere Körperverletzung, so nennt man das, und wenn jemand bei einer schweren Körperverletzung nur danebensteht und kichert und klatscht, statt Hilfehilfe! zu schreien oder Polizeipolizei!, dann nennt man das unterlassene Hilfeleistung, und deswegen ist Suzanna auch schuld, obwohl sie nicht geschlagen hat und nicht getreten, nicht gebissen und gekratzt.
Wir waren echt gut in Schwung, aber hallo.
Jetzt sind wir wahrscheinlich schon seit Tagen in den Schlagzeilen, im Fernsehen zeigen sie Bilder von uns, und wer weiß, vielleicht ist die arme Frau ja tot mittlerweile. Ihren schweren Verletzungen erlegen, wie man so sagt, und so steht es wahrscheinlich in der Zeitung, so sagt es wahrscheinlich der Fernsehsprecher, wir wissen es nicht.
Wir lesen gerade keine Zeitung.
Wir haben gerade keinen Fernseher.
Wir haben Probleme.
Vielleicht haben wir ja sogar ein bisschen Glück und sie lebt noch, die arme Frau, das wäre ganz gut für uns, weil auf schwere Körperverletzung ohne Todesfolge nicht ganz so viele Jahre stehen wie auf Körperverletzung mit. Aber das ist Spekulation, zurück zu den Fakten.
Problem Nummer eins: Wir sitzen im Gefängnis.
Problem Nummer zwei: Wir sitzen zu Recht.
Problem Nummer drei: Wir haben noch eine Chance.
Das mit der Chance klingt jetzt vielleicht komisch, aber manchmal ist so eine Chance kein Anlass zur Freude und eher eine Belastung. Manchmal ist es besser, man hat keine mehr, weil sich die Lage schlagartig entspannt, wenn sie aussichtslos ist. Leider haben wir noch eine Chance, und das liegt nicht an uns, das liegt an den Zeiten, in denen wir leben.
Früher zum Beispiel, wo so ein Gefängnis noch Zuchthaus geheißen hat und nicht Justizvollzugsanstalt, da wäre alles ganz einfach gewesen und ganz entspannt. Sie hätten uns geschnappt, sie hätten uns verurteilt, und aus. Keine weitere Diskussion, keine Untersuchungshaft, zehn Jahre Zwangsarbeit. Felsen kleinklopfen im Steinbruch zum Beispiel oder Torf stechen.
Heutzutage ist das anders. Da bekommst du noch eine Chance, bevor sie dich in die Anstaltsbäckerei schicken zum Keksebacken, was übrigens auch nicht viel besser ist als Torfstechen, wenn du es zehn Jahre lang tun musst.
Norbert Klupp. So heißt unsere letzte Chance. Doktor Norbert Klupp, um genau zu sein, Gerichtspsychiater.
Heute Mittag nach einem ziemlich miserablen Essen ist die Tür zu unserer Zelle aufgegangen, und er ist hereingekommen. Die Wärterin hat ihm aufgesperrt, dann ist sie im Türrahmen stehen geblieben und hat aufgepasst, schließlich sind wir vier gefährliche Frauen.
Wir liegen in unseren Betten. Stockbetten, zwei Stück. In dem einen Suzanna und Karlotta, in dem anderen ich und Marlen, dazwischen drei Quadratmeter PVC-Boden, ganz hinten ein vergittertes Fenster, alles in allem ist das hier wie im Ferienlager, nur ohne Ferien.
»Frau Block? Almut Block?«, sagt unser Besuch.
Drei Finger zeigen aus unterschiedlichen Richtungen auf mich.
»Wie es aussieht, bin das ich«, sage ich.
Meine Stimme ist nicht besonders freundlich, und vom Bett stehe ich jetzt auch nicht auf, das ist mir zu anstrengend, obwohl ich im Erdgeschoss liege. Ziemlich unhöflich von mir, zugegeben, aber ich weiß ja noch nicht, dass dieser schmale junge Mann mit der randlosen Brille ein Gerichtspsychiater ist und unsere letzte Chance. Außerdem bin ich müde.
Ich bin übrigens immer müde, aber das nur nebenbei.
Auch nur nebenbei: Die Zigarette in meinem Mundwinkel, die ist natürlich verboten. Man darf hier nicht rauchen, man wird dafür bestraft. Aber ob ich jetzt fürs Rauchen oder für schwere Körperverletzung zehn Jahre lang Kekse backen muss, spielt auch keine Rolle mehr.
»Mein Name ist Klupp«, sagt unser Besuch und geht auf mich zu, »Doktor Norbert Klupp.«
»Schön für Sie«, sage ich. »Es gibt schlimmere Titel, zum Beispiel Diplomingenieur, und schlimmere Namen gibt es auch, zum Beispiel ...«, ich suche nach einem wirklich blöden Namen, Marlen im ersten Stock über mir sagt:
»Zum Beispiel Almut Block.«
»Sehr witzig«, sage ich und ziehe an der Zigarette, Suzanna kichert. Das macht sie immer, wenn Marlen einen schlechten Witz macht, und Marlen macht ständig schlechte Witze, deswegen kichert Suzanna auch ständig.
Doktor Klupp streckt mir die Hand entgegen, ich überlege, ob ich sie nehmen soll. Die Hand ist schön. Feine Finger, helle Haut. Keine Adern, keine Pigmentflecken, ich betrachte diese makellose weiße Hand und denke an Milch. Ich denke an Mehl und wie weich es ist, wenn man hineingreift, ich betrachte die Fingernägel.
Tautropfen.
Perlen.
»Lieber nicht«, sage ich und drücke die Zigarette am Bettpfosten aus, den Stummel stopfe ich zu den anderen Stummeln unter die Matratze. Dann hebe ich demonstrativ meine rechte Hand.
»Ich gebe Ihnen lieber nicht die Hand, Herr Doktor, ich will Sie ja nicht schmutzig machen.«
Doktor Klupp glotzt auf das runzlige Ding am Ende meines Arms. Es hängt in der Luft wie etwas, von dem man nicht so genau weiß, was es sein soll. Vielleicht ist es menschlich und eine Hand, vielleicht ist es aber auch die Pfote eines Affen oder doch nur ein schrumpliges, blaugeädertes Etwas mit nikotingelben Spitzen.
Die Hand einer alten Frau.
Er lässt sein perlenbesetztes Schmuckstück sinken.
»Frau Block, ich wollte Sie nur darauf vorbereiten, dass wir in den nächsten Tagen das eine oder andere Gespräch führen werden. Es geht um Ihre psychische Verfassung und ...«
»Um was?«, sage ich und setze mich ruckartig auf, mein Kopf schlägt gegen das Bett über mir.
»Autsch«, sage ich.
»Ätsch«, sagt Marlen.
Suzanna kichert.
»Um was?«, sage ich noch einmal und reibe mir den Kopf. »Um das, was in dir drin so los ist. Um deine psychische Verfassung.« Marlen sagt das so, wie man voller Staubsaugerbeutel sagt oder Mülleimer mit Deckel. In dem Ton.
Suzanna kichert.
»Willkommen, Herr Doktor! Wie schön, dass Sie endlich da sind, wir haben schon auf Sie gewartet!« Karlotta klettert aus ihrem Bett, sie hat als Erste kapiert, dass dieser Klupp unsere letzte Chance ist, aber das werde ich erst später wissen. Jetzt weiß ich nur, dass mir mein Deckel weh tut, wie Marlen sagen würde, und dass es nichts Gutes bedeutet, wenn Karlotta sich einschaltet.
Es bedeutet: Auf in den Kampf!
Jetzt ist sie gelandet und marschiert forsch auf Doktor Klupp zu, die Hand zum Gruß ausgestreckt. Karlottas Hand sieht auch nicht besser aus als meine, nur kleiner. Eine kleine verschrumpelte Affenpfote, sie ragt aus dem Ärmel der Armeejacke, die Karlotta immer trägt, so ein braungrün geflecktes Ding aus den dreißiger Jahren, ein guter Punkt, würde ich sagen. Das ist jetzt ein guter Punkt, um die ganze Szene hier in der Zelle für einen Moment einzufrieren und in aller Ruhe ein paar Details zu besprechen. Meine Lieblingsfarbe zum Beispiel oder mein Lieblingsgetränk. Oder was ich früher so gemacht habe, beruflich, bevor ich ins Altenheim gegangen bin und einen Biographiebogen bekommen habe. Bevor ich kriminell geworden bin.
Sie nehmen dir alles, wenn es so weit ist. Alles, was du noch hast. Den Wohnungsschlüssel, die Möbel, die Gummipalme. Sie nehmen dir das Recht, aufzuwachen, wann du willst, und einzuschlafen, wann du willst. Das Recht, keine Schonkost zu essen, keine Vitamintabletten zu schlucken und so viele Schlaftabletten, wie du willst.
Das Recht, einsam zu sein.
Und wenn sie dir alles genommen haben, dann geben sie dir einen Biographiebogen. Das ist ihr erstes Geschenk an dich, es werden noch andere kommen, zum Beispiel die Liste mit dem Freizeitangebot oder der Fragebogen über deine Erfahrungen beim letzten Gedächtnistraining, aber der Biographiebogen ist das erste.
Er ist ein Geschenk, also sei nicht undankbar, bleib locker und hör vor allem auf, so zu tun, als sei die Gummipalme echt gewesen und die Einsamkeit gewollt. Als sei dein altes Leben in Ordnung gewesen, bevor sie es dir genommen haben.
Hör auf damit.
Schöne Sache, so ein Biographiebogen. Da steht alles drin, was du früher einmal warst. Berufstätig, aktiv, erfolgreich. Deine Hobbys stehen drin, also die, die du früher einmal hattest. Radfahren, Glasmalerei, Modelleisenbahn. Sie fragen dich, ob du früher eher glücklich warst oder eher unglücklich, ob du chronische Krankheiten hattest, ob du depressiv warst. Sogar nach deiner Lieblingsfarbe fragen sie dich und schreiben Schwarz in die Rubrik und machen einen Verweispfeil zur Rubrik Depression, wo ein fettes X steht.
Wenn du sagst, dass deine Lieblingsfarbe neuerdings Gelb ist, so ein warmes, nahrhaftes Dottergelb, dann interessiert sie das einen Scheißdreck.
Du sagst: Ich habe die Glasmalerei aufgegeben und würde jetzt lieber Kampfsport betreiben.
Keine Reaktion.
Du sagst: Ich war früher immer eher unglücklich und würde jetzt lieber glücklich sein, wenn sich das machen lässt.
Keine Reaktion.
Dann fragen sie dich, ob du noch alleine aufs Klo gehen kannst, wie dein Waschwasser temperiert sein soll und ob du für deine Bestattung vorgesorgt hast.
So viel zum Thema Zukunft.
Kapitel Eins
Irgendwer muss ja schuld sein, die Frage ist nur: Wer.
Es gibt drei Möglichkeiten:
Erstens Karlotta, weil es ihre Idee war.
Zweitens Marlen, weil sie mitgemacht hat.
Drittens Suzanna, weil ihr nichts Besseres eingefallen ist, als die ganze Zeit kichernd danebenzustehen und alle paar Sekunden in die Hände zu klatschen von wegen Weitermachen! Weitermachen!.
Am Ende haben die drei beschlossen, dass ich schuld bin.
Nun gut.
Was soll's.
Einer muss es ja sein, und zuerst habe ich mich natürlich gewehrt und gesagt, dass es viele Dinge im Leben gibt, die ziemlich erstrebenswert sind, zum Beispiel reich sein oder schön sein, um nur die Klassiker zu nennen, und glücklich sein natürlich, aber schuld sein, das will doch keiner.
Und die Wahrheit ist: Wir sind alle schuld, alle vier, weil wir es gemeinsam getan haben. Wir haben die arme Frau gemeinsam niedergeschlagen und in den Keller geschleppt, und dort haben wir sie gemeinsam stundenlang misshandelt.
Gequält.
Gefoltert.
Schwere Körperverletzung, so nennt man das, und wenn jemand bei einer schweren Körperverletzung nur danebensteht und kichert und klatscht, statt Hilfehilfe! zu schreien oder Polizeipolizei!, dann nennt man das unterlassene Hilfeleistung, und deswegen ist Suzanna auch schuld, obwohl sie nicht geschlagen hat und nicht getreten, nicht gebissen und gekratzt.
Wir waren echt gut in Schwung, aber hallo.
Jetzt sind wir wahrscheinlich schon seit Tagen in den Schlagzeilen, im Fernsehen zeigen sie Bilder von uns, und wer weiß, vielleicht ist die arme Frau ja tot mittlerweile. Ihren schweren Verletzungen erlegen, wie man so sagt, und so steht es wahrscheinlich in der Zeitung, so sagt es wahrscheinlich der Fernsehsprecher, wir wissen es nicht.
Wir lesen gerade keine Zeitung.
Wir haben gerade keinen Fernseher.
Wir haben Probleme.
Vielleicht haben wir ja sogar ein bisschen Glück und sie lebt noch, die arme Frau, das wäre ganz gut für uns, weil auf schwere Körperverletzung ohne Todesfolge nicht ganz so viele Jahre stehen wie auf Körperverletzung mit. Aber das ist Spekulation, zurück zu den Fakten.
Problem Nummer eins: Wir sitzen im Gefängnis.
Problem Nummer zwei: Wir sitzen zu Recht.
Problem Nummer drei: Wir haben noch eine Chance.
Das mit der Chance klingt jetzt vielleicht komisch, aber manchmal ist so eine Chance kein Anlass zur Freude und eher eine Belastung. Manchmal ist es besser, man hat keine mehr, weil sich die Lage schlagartig entspannt, wenn sie aussichtslos ist. Leider haben wir noch eine Chance, und das liegt nicht an uns, das liegt an den Zeiten, in denen wir leben.
Früher zum Beispiel, wo so ein Gefängnis noch Zuchthaus geheißen hat und nicht Justizvollzugsanstalt, da wäre alles ganz einfach gewesen und ganz entspannt. Sie hätten uns geschnappt, sie hätten uns verurteilt, und aus. Keine weitere Diskussion, keine Untersuchungshaft, zehn Jahre Zwangsarbeit. Felsen kleinklopfen im Steinbruch zum Beispiel oder Torf stechen.
Heutzutage ist das anders. Da bekommst du noch eine Chance, bevor sie dich in die Anstaltsbäckerei schicken zum Keksebacken, was übrigens auch nicht viel besser ist als Torfstechen, wenn du es zehn Jahre lang tun musst.
Norbert Klupp. So heißt unsere letzte Chance. Doktor Norbert Klupp, um genau zu sein, Gerichtspsychiater.
Heute Mittag nach einem ziemlich miserablen Essen ist die Tür zu unserer Zelle aufgegangen, und er ist hereingekommen. Die Wärterin hat ihm aufgesperrt, dann ist sie im Türrahmen stehen geblieben und hat aufgepasst, schließlich sind wir vier gefährliche Frauen.
Wir liegen in unseren Betten. Stockbetten, zwei Stück. In dem einen Suzanna und Karlotta, in dem anderen ich und Marlen, dazwischen drei Quadratmeter PVC-Boden, ganz hinten ein vergittertes Fenster, alles in allem ist das hier wie im Ferienlager, nur ohne Ferien.
»Frau Block? Almut Block?«, sagt unser Besuch.
Drei Finger zeigen aus unterschiedlichen Richtungen auf mich.
»Wie es aussieht, bin das ich«, sage ich.
Meine Stimme ist nicht besonders freundlich, und vom Bett stehe ich jetzt auch nicht auf, das ist mir zu anstrengend, obwohl ich im Erdgeschoss liege. Ziemlich unhöflich von mir, zugegeben, aber ich weiß ja noch nicht, dass dieser schmale junge Mann mit der randlosen Brille ein Gerichtspsychiater ist und unsere letzte Chance. Außerdem bin ich müde.
Ich bin übrigens immer müde, aber das nur nebenbei.
Auch nur nebenbei: Die Zigarette in meinem Mundwinkel, die ist natürlich verboten. Man darf hier nicht rauchen, man wird dafür bestraft. Aber ob ich jetzt fürs Rauchen oder für schwere Körperverletzung zehn Jahre lang Kekse backen muss, spielt auch keine Rolle mehr.
»Mein Name ist Klupp«, sagt unser Besuch und geht auf mich zu, »Doktor Norbert Klupp.«
»Schön für Sie«, sage ich. »Es gibt schlimmere Titel, zum Beispiel Diplomingenieur, und schlimmere Namen gibt es auch, zum Beispiel ...«, ich suche nach einem wirklich blöden Namen, Marlen im ersten Stock über mir sagt:
»Zum Beispiel Almut Block.«
»Sehr witzig«, sage ich und ziehe an der Zigarette, Suzanna kichert. Das macht sie immer, wenn Marlen einen schlechten Witz macht, und Marlen macht ständig schlechte Witze, deswegen kichert Suzanna auch ständig.
Doktor Klupp streckt mir die Hand entgegen, ich überlege, ob ich sie nehmen soll. Die Hand ist schön. Feine Finger, helle Haut. Keine Adern, keine Pigmentflecken, ich betrachte diese makellose weiße Hand und denke an Milch. Ich denke an Mehl und wie weich es ist, wenn man hineingreift, ich betrachte die Fingernägel.
Tautropfen.
Perlen.
»Lieber nicht«, sage ich und drücke die Zigarette am Bettpfosten aus, den Stummel stopfe ich zu den anderen Stummeln unter die Matratze. Dann hebe ich demonstrativ meine rechte Hand.
»Ich gebe Ihnen lieber nicht die Hand, Herr Doktor, ich will Sie ja nicht schmutzig machen.«
Doktor Klupp glotzt auf das runzlige Ding am Ende meines Arms. Es hängt in der Luft wie etwas, von dem man nicht so genau weiß, was es sein soll. Vielleicht ist es menschlich und eine Hand, vielleicht ist es aber auch die Pfote eines Affen oder doch nur ein schrumpliges, blaugeädertes Etwas mit nikotingelben Spitzen.
Die Hand einer alten Frau.
Er lässt sein perlenbesetztes Schmuckstück sinken.
»Frau Block, ich wollte Sie nur darauf vorbereiten, dass wir in den nächsten Tagen das eine oder andere Gespräch führen werden. Es geht um Ihre psychische Verfassung und ...«
»Um was?«, sage ich und setze mich ruckartig auf, mein Kopf schlägt gegen das Bett über mir.
»Autsch«, sage ich.
»Ätsch«, sagt Marlen.
Suzanna kichert.
»Um was?«, sage ich noch einmal und reibe mir den Kopf. »Um das, was in dir drin so los ist. Um deine psychische Verfassung.« Marlen sagt das so, wie man voller Staubsaugerbeutel sagt oder Mülleimer mit Deckel. In dem Ton.
Suzanna kichert.
»Willkommen, Herr Doktor! Wie schön, dass Sie endlich da sind, wir haben schon auf Sie gewartet!« Karlotta klettert aus ihrem Bett, sie hat als Erste kapiert, dass dieser Klupp unsere letzte Chance ist, aber das werde ich erst später wissen. Jetzt weiß ich nur, dass mir mein Deckel weh tut, wie Marlen sagen würde, und dass es nichts Gutes bedeutet, wenn Karlotta sich einschaltet.
Es bedeutet: Auf in den Kampf!
Jetzt ist sie gelandet und marschiert forsch auf Doktor Klupp zu, die Hand zum Gruß ausgestreckt. Karlottas Hand sieht auch nicht besser aus als meine, nur kleiner. Eine kleine verschrumpelte Affenpfote, sie ragt aus dem Ärmel der Armeejacke, die Karlotta immer trägt, so ein braungrün geflecktes Ding aus den dreißiger Jahren, ein guter Punkt, würde ich sagen. Das ist jetzt ein guter Punkt, um die ganze Szene hier in der Zelle für einen Moment einzufrieren und in aller Ruhe ein paar Details zu besprechen. Meine Lieblingsfarbe zum Beispiel oder mein Lieblingsgetränk. Oder was ich früher so gemacht habe, beruflich, bevor ich ins Altenheim gegangen bin und einen Biographiebogen bekommen habe. Bevor ich kriminell geworden bin.
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Autoren-Porträt von Anita Augustin
Anita Augustin, geboren 1970 in Klagenfurt, hat in Wien Philosophie und Theaterwissenschaft studiert und an der Ersten Österreichischen Barkeeperschule ihr Diplom gemacht. Nach Stationen in New York und London lebt sie heute als freie Dramaturgin in Berlin.
Autoren-Interview mit Anita Augustin
Ein Gespräch mit Anita Augustin über ihren Roman „Der Zwerg reinigt den Kittel"Almut Block ist alles andere als eine sympathische Zeitgenossin: eine grantelige Kettenraucherin, die noch dazu unter Mordverdacht steht. Warum haben Sie eine Protagonistin gewählt, mit der man sich nicht identifizieren mag?
Erst einmal finde ich natürlich, dass Kettenrauchen sehr sympathisch ist (lacht). Aber es war mir in der Tat wichtig, dass das keine einfache Identifikationsfigur ist. Das war mir übrigens bei allen Figuren wichtig, weil ich dem Leser nicht die Möglichkeit geben wollte, mit irgendeiner Figur so aus- dauernd, so innig zu sympathisieren, dass er sie bemitleiden kann. Es sind keine heroischen Figuren. Es geht ihnen ja auch dreckig, und dann passiert es sehr schnell, dass man eine betuliche Nähe zu ihnen aufbaut - »Die arme Frau« oder »Das ist ja schrecklich« - und Mitleid empfindet. Ich wollte das unbedingt vermeiden, weil ich Mitleid für etwas Abscheuliches halte.
Für etwas Abscheuliches?
Ja, weil es eine entwürdigende Geste ist. Respektlos. Meine Figuren verdienen kein Mitleid, sie verdienen etwas Besseres, zum Beispiel Empathie. Oder Antipathie.
Es gibt einen Satz, in dem Text, der wirkt fast wie eine Überschrift, ein Motto: »Das Alter ist nicht unbedingt reich an neuen Erfahrungen, das Altenheim schon«. Als literarischer Schau- platz ist es gleichwohl noch wenig entdeckt. Was hat Sie daran gereizt?
Der Gettocharakter. Man kann untersuchen, wie sich Menschen in einem abgeschlossenen Bereich zueinander verhalten. Ähnlich wie in Gefängnissen, Irrenanstalten oder Internaten - das sind alles abgeschlossene Orte.
Und warum haben Sie sich ausgerechnet für ein Altenheim entschieden?
Weil alte Leute uninteressant sind. Weil sich niemand für sie interessiert, solange sie nicht unangenehm
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auffallen. Altsein ist in einer zwangsjuvenilen Gesellschaft gegen die Norm, aber im Unterschied zu vielen anderen Abweichungen von der Norm, die wir hip oder cool finden, sind alte Leute nur ein blinder Fleck. Sagt ja keiner: Wow, alt, wie cool!
Im Roman sind die Alten hauptsächlich ein Kostenfaktor, die Ethik bleibt da auf der Strecke. Ist es auch die moralische Dimension dieser demütigenden Situation, die Sie interessiert hat?
Ja. Aber ich hoffe, dass mein Buch nicht moralinsauer ist. Es gibt keine moralische oder moralisierende These, und mein Roman ist keine »moralische Anstalt«.
Spricht da die Dramaturgin?
(Lacht) Ja, ja, aber das interessiert mich auch am Theater nicht. Das Theater als »moralische Anstalt« ist ja eine Erfindung des Achtzehnten Jahrhunderts, und dort gehört es auch hin, nicht ins Einundzwanzigste.
Mein Roman beinhaltet keine These, er ist ein Kommentar zu bestimmten Zuständen, die ihrem Wesen nach würdelos sind. Es ist mir wichtig gewesen - anknüpfend an die fehlende Identifikationsfigur -, dass alle Figuren in dem Roman Demütigungen unterworfen sind, also nicht nur die Alten im Heim, sondern auch das Pflegepersonal. Es gibt keine eindeutigen bad guys und good guys, fast alle sind sehr sportlich unterwegs, wenn es darum geht, andere fertig zu machen.
Haben Sie dafür »Feldstudien« betrieben? Sprich: waren Sie selbst im Altenheim?
Romane sind Fiktionen, und für eine solide Fiktion braucht es die sogenannte Realität nicht. Wenn die Fiktion in einem bestimmten Zusammenhang mit der sogenannten Realität steht, was in meinem Roman der Fall ist, dann muss man diese Realität nicht selbst erlebt haben, um davon erzählen zu können. Das ist eine Frage der Phantasie. Schauspieler zum Beispiel - da spricht noch einmal die Dramaturgin - können Affekte zum Ausdruck bringen, die sie selbst noch nie erlebt haben. Also: Für diese Geschichte war ich genau zweimal im Alten- heim, und zwar bei sogenannten »Tagen der offenen Tür«, um einen Eindruck von der Atmosphäre zu bekommen. Alles andere war trockene Recherche - und Phantasie.
Was haben Sie da für einen Eindruck gehabt? Fanden Sie das Leben dort würdelos?
Das kann ich nicht beurteilen. Diese Tage der offenen Tür sind ja Fassadenveranstaltungen. Aber es ist klar, dass eine Umgebung, in der sich grundsätzlich nur alte Leute aufhalten, die alle pflegebedürftig sind und mehr oder weniger nah am Tod entlang schrammen - dass so eine Umgebung per se etwas Würdeloses hat. Was soll auch würdevoll sein an einem geriatrischen Getto, aus dem die Leute nie mehr rauskommen? Das ist dann auch der Unterschied zum Internat oder zum Knast: Die Insassen kommen ja wieder raus. Ein alter Mensch wird nie wieder jung und in der Regel nie wieder ganz gesund. Man könnte sagen, dass der natürlich biologische Verlauf etwas Würdeloses hat, vor allem in seinem Endstadium. Der Tod ist eine peinliche und demütigende Veranstaltung, weil man nichts dagegen unternehmen kann.
Im Roman diskutieren Sie eine makabre Alternative: Da gibt es einen desorientierten Altenheiminsassen, aber durchaus ernstzunehmenden Wissenschaftler, der über den »Gerontozid als Lösungsmodell für die ökonomischen Probleme einer radikal alternden Gesellschaft« arbeitet. Dabei geht es um Todesarten bei indigenen Völkern: das Reitervolk, das seine alten Männer schlachtet und aufisst; die Indianer, die ihre alten Angehörigen strangulieren oder die Eskimos, die ihre Senioren im Iglu einmauern. Haben Sie die recherchiert, gibt es die?
(Lacht) Ja, die Recherche war sehr unterhaltsam. Knud Rasmussen zum Beispiel, den ich wörtlich zitiere, der ist ja bekannt, ein berühmter Ethnologe. Andere Forscher habe ich namentlich erfunden, die Zitate sind aber teilweise echt. Ich habe ein paar Bücher zu dem Thema gelesen, das Wichtigste war eine ethnologische Anthologie aus dem 19. Jahrhundert zum Gerontozid bei den »Wilden«.
Im Zusammenhang mit Ihrer Geschichte wirkt das sehr aktuell. Es gibt ein Indiz, dass die Geschichte in der Zukunft spielt: Der »ZIVI Nummer 5« ist Jahrgang 2016. Wann spielt denn die Geschichte?
Wenn man genau nachrechnet im Jahr 2023, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist die Nähe zum Hier und Jetzt. Genauer gesagt: Was aus dem Hier und Jetzt in naher Zukunft werden wird. Mein Roman ist kein Science Fiction-Roman. Ich habe mich zum Beispiel nicht darum gekümmert, was es in zirka zehn Jahren an technischen Neuerungen geben könnte. Er ist eher eine Art Social Fiction. Ausgehend von der aktuellen demographischen Lage der Nation, also der sogenannten Überalterung, kann man sich ja mal Gedanken darüber machen, was der Regierung in zehn Jahren so einfallen wird, damit uns die Millionen von Rentnern und pflegebedürftigen Greisen nicht die letzten Haare vom Kopf fressen.
Was bedeutet der rätselhaft klingende Titel »Der Zwerg reinigt den Kittel«?
Er ist ein Rätsel, die Lösung steht im Buch. Übrigens ziemlich weit hinten. Das ist ein guter Trick, um die Leser bei der Stange zu halten. (Lacht) In welcher literarischen Tradition sehen Sie sich selbst?
Ich bin keine Literatin in dem Sinne, dass ich die Sprache auf innovative Weise gebrauche, mit ihr experimentiere und dadurch in den Vordergrund stelle. Ich versuche immer, die Sprache hinter die Geschichte treten zu lassen. Das ist natürlich in gewisser Weise ein Paradox, weil ja alles nur Sprache ist, aber Sprache im Auftrag der Geschichte. Zugleich ist mir der Rhythmus ganz wichtig, Schreiben hat viel mit Schlagzeug zu tun. Ich opfere die Semantik oft für einen besseren Rhythmus, das heißt, ich streiche lieber ein Adjektiv, bevor der Text rhythmisch leidet. Der richtige Rhythmus macht oft mehr Sinn als das richtige Wort.
Meine literarischen Vorbilder sehe ich am Ehesten in der US-amerikanischen Erzähltradition. Ich bin ein großer Fan von T. C. Boyle; ich mag David Foster Wallace sehr gerne, obwohl der natürlich ein extremer Literat war, auch gnadenlos in der Art und Weise, wie sperrig das manchmal daherkommt. Und ich bin ein großer Verehrer von Chuck Palahniuk, das ist einfach einer der Besten.
Warum haben Sie sich für diese schwarz-humorige, ja, beinah sarkastische Schreibweise entschieden? Man lacht ja viel bei der Lektüre, auch wenn einem das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt.
Da kann ich nur sagen: Gott helfe mir, ich kann nicht anders. Dass all diese Bitternis, dieses Elend letztendlich als Komödie daherkommt, ist mir nicht nur wichtig, ich könnte auch gar nicht anders. Ich habe da keine Alternative zu mir selbst. Aus meiner Perspektive gibt es keine humorfreien Zonen, und die humorvollsten Zonen sind zugleich die schwärzesten. Ein wirklich guter Witz geht immer auf Kosten von irgendjemandem oder irgendetwas. Ein wirklich guter Witz ist immer gemein.
Sie haben promoviert, haben bisher zwei Erzählungen veröffentlicht und schreiben auch Texte fürs Theater: Gibt es dabei ein Thema, das Sie durchgängig umtreibt oder beschäftigt?
Ja, es gibt so etwas wie einen roten Faden. Ich hab meine Dissertation zum Thema Französische Revolution und frühe Kulturindustrie geschrieben, der Titel lautete »Gehorsam und Vergnügen«. In der Dissertation ging es im Grunde um diese Frage: Wie kommt es, dass Menschen freiwillig gehorchen; dass sie sich in einer - zum Beispiel politischen - Situation gar nicht unter Druck fügen, sondern freiwillig. Das ist ein großes Thema in den Geisteswissenschaften seit der Postmoderne: Dass sich Macht in liberalen Gesellschaften auf ganz subtile Weise äußert. Stark vereinfacht gesagt: Dass der Bürger sich selbst diszipliniert, und eine wie auch immer geartete äußere Macht nur noch darauf achten muss, dass diese internen Disziplinierungsmechanismen funktionieren. Das sogenannte autonome Subjekt ist sich selbst der beste Despot, und dieser innere Despotismus führt dazu, dass es sich Menschen noch im größten »systemischen« Elend bequem machen.
... und das bedeutet für den Roman?
Ich habe ja genau nicht geschrieben, dass vier alte Frauen gegen «das System« aufbegehren. Sondern sie sagen: Wir fügen uns dem System und ficken das System zugleich. Das hat eben nichts mit revolutionärer Romantik zu tun, im Gegenteil. Sie akzeptieren das, was sie an gesellschaftlichen Optionen für ihre Existenz vorfinden, und die kleine Sabotage, die sie unternehmen, ändert an den Verhältnissen rein gar nichts. Die Sabotage dient nur dazu, die Verhältnisse ein wenig angenehmer zu machen. Und damit auch stabiler.
Wenn es so etwas wie ein Grundthema gibt, das mich seit Jahren beschäftigt, ist es das: der Autonomieverlust, und wie Menschen es sich in ihrem Elend - denn Autonomieverlust ist Elend - bequem machen. Dieser Mechanismus, der uns Menschen ja offenbar zutiefst zu eigen ist, ich nehme mich da nicht aus, diese Bequemlichkeit, dieses stumpfe Wohlbefinden - also wenn es etwas gibt, das mich nicht loslässt, dann ist es das. Ich glaube, daraus entsteht viel Unglück: aus diesem Willen, sich in der Scheiße wohlzufühlen.
Im Roman sind die Alten hauptsächlich ein Kostenfaktor, die Ethik bleibt da auf der Strecke. Ist es auch die moralische Dimension dieser demütigenden Situation, die Sie interessiert hat?
Ja. Aber ich hoffe, dass mein Buch nicht moralinsauer ist. Es gibt keine moralische oder moralisierende These, und mein Roman ist keine »moralische Anstalt«.
Spricht da die Dramaturgin?
(Lacht) Ja, ja, aber das interessiert mich auch am Theater nicht. Das Theater als »moralische Anstalt« ist ja eine Erfindung des Achtzehnten Jahrhunderts, und dort gehört es auch hin, nicht ins Einundzwanzigste.
Mein Roman beinhaltet keine These, er ist ein Kommentar zu bestimmten Zuständen, die ihrem Wesen nach würdelos sind. Es ist mir wichtig gewesen - anknüpfend an die fehlende Identifikationsfigur -, dass alle Figuren in dem Roman Demütigungen unterworfen sind, also nicht nur die Alten im Heim, sondern auch das Pflegepersonal. Es gibt keine eindeutigen bad guys und good guys, fast alle sind sehr sportlich unterwegs, wenn es darum geht, andere fertig zu machen.
Haben Sie dafür »Feldstudien« betrieben? Sprich: waren Sie selbst im Altenheim?
Romane sind Fiktionen, und für eine solide Fiktion braucht es die sogenannte Realität nicht. Wenn die Fiktion in einem bestimmten Zusammenhang mit der sogenannten Realität steht, was in meinem Roman der Fall ist, dann muss man diese Realität nicht selbst erlebt haben, um davon erzählen zu können. Das ist eine Frage der Phantasie. Schauspieler zum Beispiel - da spricht noch einmal die Dramaturgin - können Affekte zum Ausdruck bringen, die sie selbst noch nie erlebt haben. Also: Für diese Geschichte war ich genau zweimal im Alten- heim, und zwar bei sogenannten »Tagen der offenen Tür«, um einen Eindruck von der Atmosphäre zu bekommen. Alles andere war trockene Recherche - und Phantasie.
Was haben Sie da für einen Eindruck gehabt? Fanden Sie das Leben dort würdelos?
Das kann ich nicht beurteilen. Diese Tage der offenen Tür sind ja Fassadenveranstaltungen. Aber es ist klar, dass eine Umgebung, in der sich grundsätzlich nur alte Leute aufhalten, die alle pflegebedürftig sind und mehr oder weniger nah am Tod entlang schrammen - dass so eine Umgebung per se etwas Würdeloses hat. Was soll auch würdevoll sein an einem geriatrischen Getto, aus dem die Leute nie mehr rauskommen? Das ist dann auch der Unterschied zum Internat oder zum Knast: Die Insassen kommen ja wieder raus. Ein alter Mensch wird nie wieder jung und in der Regel nie wieder ganz gesund. Man könnte sagen, dass der natürlich biologische Verlauf etwas Würdeloses hat, vor allem in seinem Endstadium. Der Tod ist eine peinliche und demütigende Veranstaltung, weil man nichts dagegen unternehmen kann.
Im Roman diskutieren Sie eine makabre Alternative: Da gibt es einen desorientierten Altenheiminsassen, aber durchaus ernstzunehmenden Wissenschaftler, der über den »Gerontozid als Lösungsmodell für die ökonomischen Probleme einer radikal alternden Gesellschaft« arbeitet. Dabei geht es um Todesarten bei indigenen Völkern: das Reitervolk, das seine alten Männer schlachtet und aufisst; die Indianer, die ihre alten Angehörigen strangulieren oder die Eskimos, die ihre Senioren im Iglu einmauern. Haben Sie die recherchiert, gibt es die?
(Lacht) Ja, die Recherche war sehr unterhaltsam. Knud Rasmussen zum Beispiel, den ich wörtlich zitiere, der ist ja bekannt, ein berühmter Ethnologe. Andere Forscher habe ich namentlich erfunden, die Zitate sind aber teilweise echt. Ich habe ein paar Bücher zu dem Thema gelesen, das Wichtigste war eine ethnologische Anthologie aus dem 19. Jahrhundert zum Gerontozid bei den »Wilden«.
Im Zusammenhang mit Ihrer Geschichte wirkt das sehr aktuell. Es gibt ein Indiz, dass die Geschichte in der Zukunft spielt: Der »ZIVI Nummer 5« ist Jahrgang 2016. Wann spielt denn die Geschichte?
Wenn man genau nachrechnet im Jahr 2023, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist die Nähe zum Hier und Jetzt. Genauer gesagt: Was aus dem Hier und Jetzt in naher Zukunft werden wird. Mein Roman ist kein Science Fiction-Roman. Ich habe mich zum Beispiel nicht darum gekümmert, was es in zirka zehn Jahren an technischen Neuerungen geben könnte. Er ist eher eine Art Social Fiction. Ausgehend von der aktuellen demographischen Lage der Nation, also der sogenannten Überalterung, kann man sich ja mal Gedanken darüber machen, was der Regierung in zehn Jahren so einfallen wird, damit uns die Millionen von Rentnern und pflegebedürftigen Greisen nicht die letzten Haare vom Kopf fressen.
Was bedeutet der rätselhaft klingende Titel »Der Zwerg reinigt den Kittel«?
Er ist ein Rätsel, die Lösung steht im Buch. Übrigens ziemlich weit hinten. Das ist ein guter Trick, um die Leser bei der Stange zu halten. (Lacht) In welcher literarischen Tradition sehen Sie sich selbst?
Ich bin keine Literatin in dem Sinne, dass ich die Sprache auf innovative Weise gebrauche, mit ihr experimentiere und dadurch in den Vordergrund stelle. Ich versuche immer, die Sprache hinter die Geschichte treten zu lassen. Das ist natürlich in gewisser Weise ein Paradox, weil ja alles nur Sprache ist, aber Sprache im Auftrag der Geschichte. Zugleich ist mir der Rhythmus ganz wichtig, Schreiben hat viel mit Schlagzeug zu tun. Ich opfere die Semantik oft für einen besseren Rhythmus, das heißt, ich streiche lieber ein Adjektiv, bevor der Text rhythmisch leidet. Der richtige Rhythmus macht oft mehr Sinn als das richtige Wort.
Meine literarischen Vorbilder sehe ich am Ehesten in der US-amerikanischen Erzähltradition. Ich bin ein großer Fan von T. C. Boyle; ich mag David Foster Wallace sehr gerne, obwohl der natürlich ein extremer Literat war, auch gnadenlos in der Art und Weise, wie sperrig das manchmal daherkommt. Und ich bin ein großer Verehrer von Chuck Palahniuk, das ist einfach einer der Besten.
Warum haben Sie sich für diese schwarz-humorige, ja, beinah sarkastische Schreibweise entschieden? Man lacht ja viel bei der Lektüre, auch wenn einem das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt.
Da kann ich nur sagen: Gott helfe mir, ich kann nicht anders. Dass all diese Bitternis, dieses Elend letztendlich als Komödie daherkommt, ist mir nicht nur wichtig, ich könnte auch gar nicht anders. Ich habe da keine Alternative zu mir selbst. Aus meiner Perspektive gibt es keine humorfreien Zonen, und die humorvollsten Zonen sind zugleich die schwärzesten. Ein wirklich guter Witz geht immer auf Kosten von irgendjemandem oder irgendetwas. Ein wirklich guter Witz ist immer gemein.
Sie haben promoviert, haben bisher zwei Erzählungen veröffentlicht und schreiben auch Texte fürs Theater: Gibt es dabei ein Thema, das Sie durchgängig umtreibt oder beschäftigt?
Ja, es gibt so etwas wie einen roten Faden. Ich hab meine Dissertation zum Thema Französische Revolution und frühe Kulturindustrie geschrieben, der Titel lautete »Gehorsam und Vergnügen«. In der Dissertation ging es im Grunde um diese Frage: Wie kommt es, dass Menschen freiwillig gehorchen; dass sie sich in einer - zum Beispiel politischen - Situation gar nicht unter Druck fügen, sondern freiwillig. Das ist ein großes Thema in den Geisteswissenschaften seit der Postmoderne: Dass sich Macht in liberalen Gesellschaften auf ganz subtile Weise äußert. Stark vereinfacht gesagt: Dass der Bürger sich selbst diszipliniert, und eine wie auch immer geartete äußere Macht nur noch darauf achten muss, dass diese internen Disziplinierungsmechanismen funktionieren. Das sogenannte autonome Subjekt ist sich selbst der beste Despot, und dieser innere Despotismus führt dazu, dass es sich Menschen noch im größten »systemischen« Elend bequem machen.
... und das bedeutet für den Roman?
Ich habe ja genau nicht geschrieben, dass vier alte Frauen gegen «das System« aufbegehren. Sondern sie sagen: Wir fügen uns dem System und ficken das System zugleich. Das hat eben nichts mit revolutionärer Romantik zu tun, im Gegenteil. Sie akzeptieren das, was sie an gesellschaftlichen Optionen für ihre Existenz vorfinden, und die kleine Sabotage, die sie unternehmen, ändert an den Verhältnissen rein gar nichts. Die Sabotage dient nur dazu, die Verhältnisse ein wenig angenehmer zu machen. Und damit auch stabiler.
Wenn es so etwas wie ein Grundthema gibt, das mich seit Jahren beschäftigt, ist es das: der Autonomieverlust, und wie Menschen es sich in ihrem Elend - denn Autonomieverlust ist Elend - bequem machen. Dieser Mechanismus, der uns Menschen ja offenbar zutiefst zu eigen ist, ich nehme mich da nicht aus, diese Bequemlichkeit, dieses stumpfe Wohlbefinden - also wenn es etwas gibt, das mich nicht loslässt, dann ist es das. Ich glaube, daraus entsteht viel Unglück: aus diesem Willen, sich in der Scheiße wohlzufühlen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Anita Augustin
- 2012, 2. Aufl., 336 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550080050
- ISBN-13: 9783550080050
Rezension zu „Der Zwerg reinigt den Kittel “
"Was als Schenkelklopfer beginnt, endet in einer bitterbösen Persiflage auf das Altwerden.", Main-Echo, Yvonne Pollnick, 25.08.2012
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