Die 500
Jurastudent Mike winkt ein lukrativer Job in einer Beraterfirma. Die 500 mächtigsten Männer gehören zu den Klienten. Das Ziel der Firma: jede Leiche im Keller der 500 ausgraben, um die Männer zu erpressen. Bis Mike versteht, worum es...
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Produktinformationen zu „Die 500 “
Jurastudent Mike winkt ein lukrativer Job in einer Beraterfirma. Die 500 mächtigsten Männer gehören zu den Klienten. Das Ziel der Firma: jede Leiche im Keller der 500 ausgraben, um die Männer zu erpressen. Bis Mike versteht, worum es geht, steckt er schon mitten in einem tödlichen Spiel.
Klappentext zu „Die 500 “
Wenn der Traumjob zum Albtraum wird... Mike Ford hat seine kriminelle Jugend hinter sich gelassen und es bis nach Harvard geschafft. Neben dem Jurastudium arbeitet er jede freie Minute in einer Bar, um seinen Schuldenberg abzutragen. Bis ihn sein Dozent Henry Davies mit viel Geld in seine Beraterfirma lockt: Mikes neuer Boss ist ein Haifisch im politischen Becken von Washington. Zu seinen Klienten gehören die 500 mächtigsten Männer des Landes, und sein Geschäftsmodell besteht darin, jede Leiche im Keller dieser Männer zu kennen, um sie gefügig zu machen und ihren Einfluss zu nutzen. Jede Methode ist ihm recht, und Mike ist sein Mann fürs Grobe. Als der die Machenschaften durchschaut, steckt er schon bis zum Hals im tödlichen Spiel um Macht und Geld. Sein einziger Ausweg besteht darin, Davies dunkle Geheimnisse aufzudecken und ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, und um den zu gewinnen, muss Mike lügen, stehlen, betrügen und vielleicht sogar töten.Lese-Probe zu „Die 500 “
Die 500 von Matthew QuirkAus dem Amerikanischen von Wolfgang Müller
Prolog
Der Range Rover stand auf der anderen Straßenseite. Miroslav und Aleksandar saßen vorn. Sie trugen die branchenübliche diskrete Uniform - dunklen, taillierten Brioni. Aber die beiden Serben sahen bedrohlicher aus als sonst. Aleksandar hob die rechte Hand gerade hoch genug, dass ich seine Sig Sauer sehen konnte. Ein Meister der Finesse, dieser Alex. Trotzdem bereiteten mir die beiden Schläger keine allzu großen Sorgen. Sie konnten mich umbringen, das war das Schlimmste, was sie mir antun konnten, und im Augenblick hielt ich das für eine meiner besseren Optionen. Das hintere Wagenfenster glitt nach unten, und ich sah Rado, der mich zornig anstarrte. Er bevorzugte, Drohungen mithilfe einer Serviette zu kommunizieren. Behutsam tupfte er seine Mundwinkel ab. Man nannte ihn König der Herzen, weil er, nun ja, er verspeiste die Herzen von Menschen. Soweit ich wusste, hatte er im Economist einen Artikel über einen neunzehnjährigen Warlord aus Liberia gelesen, der eine Vorliebe für Menschenfleisch hatte. Rado kam zu dem Schluss, dass diese Art von abscheulicher Bösartigkeit seiner kriminellen Marke den Wettbewerbsvorteil verschaffen würde, den er auf einem überlaufenen Weltmarkt brauchte. Also übernahm er die Angewohnheit. Nicht mal der Gedanke daran, dass er sich an meinem Herz gütlich tun könnte, bereitete mir allzu große Sorgen.
Das ist in der Regel tödlich, und wie ich schon sagte, es hätte meine Zwangslage deutlich verbessert. Das Problem war, dass er über Annie Bescheid wusste. Angesichts der Möglichkeit, dass durch meine Schuld noch ein weiterer geliebter Mensch getötet werden könnte, erschien mir Rados Kochtopf als bequemer Ausweg.
... mehr
Ich nickte Rado zu und setzte mich in Bewegung. Es war ein herrlicher Maimorgen in der Hauptstadt des Landes. Der Himmel leuchtete wie blaues Porzellan. Das Blut, das mein Hemd durchnässt hatte, begann zu trocknen. Der Stoff wurde steif und kratzig. Mein linker Fuß schleifte über den Asphalt. Mein Knie war auf die Größe eines Rugbyballes angeschwollen. Ich versuchte trotzdem mich darauf zu konzentrieren, um nicht an die Wunde in meiner Brust denken zu müssen. Hätte ich das getan - nicht so sehr wegen der Schmerzen, sondern weil sie so grausig war -, ich wäre ohnmächtig geworden. Da war ich mir sicher.
Das Bürogebäude sah so nobel aus wie immer: eine vierstöckige Villa im Federal Style, die zwischen Botschafts- und Gerichtsgebäuden verborgen in den parkähnlichen Wäldern von Kalorama lag. Es beherbergte die Davies Group, Washingtons angesehenstes Unternehmen für strategische Beratung und Regierungsangelegenheiten, bei dem ich - so meine Vermutung - eigentlich immer noch hätte angestellt sein müssen. Ich holte meine Schlüssel aus der Tasche und fuchtelte damit vor einer grauen Konsole neben dem Türschloss herum. Zutritt verweigert.
Aber Davies erwartete mich schon. Ich schaute hoch zur Überwachungskamera. Das Schloss summte.
Im Foyer begrüßte ich den Sicherheitschef. Mir fiel auf, dass er seine Baby Glock aus dem Halfter gezogen hatte und dicht neben den Oberschenkel hielt. Dann drehte ich mich zu Marcus um, meinen Boss, und sagte Hallo. Er stand auf der anderen Seite des Metalldetektors, winkte mich durch und filzte mich von Kopf bis Fuß. Er suchte nach Waffen und nach Wanzen. Mit diesen Händen, Mörderhänden, hatte Marcus sich eine ganz schön steile Karriere aufgebaut.
»Ausziehen«, sagte Marcus. Gehorsam zog ich Hemd und Hose aus. Sogar Marcus zuckte zusammen, als er auf meiner Brust die faltige Haut rund um die Heftklammern sah. Er warf noch einen kurzen Blick in meine Unterhose, dann schien er davon überzeugt zu sein, dass ich nicht verwanzt war. Ich zog mich wieder an.
»Der Umschlag«, sagte er und zeigte auf das braune Kuvert, das ich in der Hand hielt.
»Erst wenn der Deal unter Dach und Fach ist«, sagte ich. Da der Umschlag das Einzige war, was mich am Leben hielt, erschien es mir vernünftiger, ihn nicht aus der Hand zu geben. »Wenn ihr mich verschwinden lasst, macht das die Runde.«
Marcus nickte. Diese Art von Versicherung war übliche Praxis in der Branche. Das hatte er mir selbst beigebracht. Er führte mich nach oben zu Davies' Büro und bezog vor der Tür Position. Ich ging hinein.
Allein dieser Mann, der da am Fenster stand und hinunter auf Downtown Washington DC schaute, machte mir Sorgen. Er verkörperte die Option, die mir weit übler erschien, als von Rado zerstückelt zu werden - Henry Davies mit seinem Großvaterlächeln.
»Schön, Sie zu sehen, Mike. Ich bin froh, dass Sie sich entschlossen haben, zu uns zurückzukommen.«
Er wollte einen Deal. Er wollte wieder das Gefühl haben, dass er mich in der Hand hatte. Und genau das fürchtete ich mehr als alles andere - dass ich Ja sagen würde.
»Ich weiß nicht, wie die Sache so aus dem Ruder laufen konnte«, sagte er. »Das mit Ihrem Vater ... das tut mir leid.«
Tot. Seit gestern Abend. Marcus' Werk.
»Wir hatten nichts damit zu tun.«
Ich sagte nichts.
»Vielleicht fragen Sie besser bei Ihren serbischen Freunden nach. Wir können Sie schützen, Mike, und wir können die Menschen, die Sie lieben, schützen.« Er sagte, ich solle mich ans Kopfende des Konferenztisches setzen, und kam ein bisschen näher. »Nur ein Wort, und die ganze Sache ist vergessen. Kommen Sie zu uns zurück, Mike. Ein Wort reicht: Ja.«
Das war das Kranke an all seinen Spielchen, all der Quälerei. Letzten Endes war er tatsächlich der Überzeugung, dass er mir einen Gefallen tat. Er wollte mich zurückhaben, er betrachtete mich als seinen Sohn, als eine jüngere Version seiner selbst. Er musste mich korrumpieren, musste mich besitzen. Ansonsten wäre alles, woran er glaubte, seine ganze verkommene Welt, eine Lüge.
Mein Vater wählte den Tod, anstatt Davies' Spiel mitzuspielen. Lieber in Würde sterben als korrupt leben. Er hatte es geschafft. Glatt und sauber. Dieser Luxus wurde mir nicht zuteil. Meine Optionen waren nicht gut. Ich war hier, um dem Teufel die Hand zu schütteln.
Ich legte den Umschlag auf den Tisch. Darin vermutete Henry Davies das Einzige, wovor er Angst hatte: Beweise für einen fast vergessenen Mord. Sein einziger Fehler. Die einzige kleine Nachlässigkeit in seiner langen Laufbahn. Ein Stück von ihm selbst, das ihm vor über vierzig Jahren abhandengekommen war. Und das wollte er zurück.
»Das ist echtes Vertrauen, Mike. Wenn zwei Menschen die Geheimnisse des anderen kennen. Wenn sie sich gegenseitig in die Enge getrieben haben. Das Gleichgewicht des Schreckens. Alles andere ist sentimentaler Bockmist. Ich bin stolz auf Sie. Sie spielen das gleiche Spiel, das ich am Anfang auch gespielt habe.«
Henry hatte mir immer gesagt, dass jeder seinen Preis hat. Meinen hatte er herausgefunden. Wenn ich Ja sagte, dann hätte ich mein Leben wieder - das Haus, das Geld, die Freunde, die ehrbare Fassade, die ich immer hatte haben wollen. Wenn ich Nein sagte, dann wäre alles vorbei. Für mich, für Annie.
»Nennen Sie mir Ihren Preis, Mike. Ich bin einverstanden. Jeder, aus dem etwas geworden ist, hat auf seinem Weg nach oben so einen Deal gemacht. So läuft das Spiel. Also, was sagen Sie?«
Es war ein altbekanntes Geschäft. Tausche Seele gegen alle Königreiche und allen Ruhm der Welt. Sicher, man würde noch um Details feilschen. Billig würde ich mich nicht verkaufen, aber das wäre schnell geklärt.
»Ich gebe Ihnen die Beweise«, sagte ich und tippte mit dem Zeigefinger auf den Umschlag, »und garantiere, dass Sie sich darum nie wieder Sorgen zu machen brauchen. Dafür will ich, dass Rado verschwindet, dass die Polizei mich in Ruhe lässt, dass ich mein Leben zurückbekomme und dass ich gleichberechtigter Partner werde.«
»Von jetzt an gehören Sie mir«, sagte Henry. »Gleichberechtigter Partner, auch bei der Drecksarbeit. Wenn wir Rado gefunden haben, schneiden Sie ihm die Kehle durch.«
Ich nickte.
»Dann sind wir uns einig«, sagte Henry. Der Teufel streckte die Hand aus.
Ich schüttelte sie und übergab ihm, zusammen mit dem Umschlag, meine Seele.
Aber das war Bockmist, nur ein weiteres Spielchen. Mit weißer Weste sterben oder korrupt das Leben auskosten. Ich entschied mich gegen beides. Ich hatte nichts in der Hand und versuchte einen Handel mit dem Teufel. Ich hatte nur eine Chance: Ich musste ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen.
1
Ich war zu spät dran. Ich warf noch einen Blick in einen der riesigen vergoldeten Spiegel, die überall hingen. Unter den Augen hatte ich dunkle Ringe vom Schlafmangel und auf der Stirn eine frische Abschürfung. Ansonsten sah ich aus wie alle anderen aufstrebenden Ehrgeizlinge, die durch Langdell Hall hasteten. Das Seminar hieß Politische Strategie. Ich schlüpfte in den Raum. Sechzehn Plätze, Zulassung nur nach Anmeldung. Das Seminar stand im Ruf, ein Sprungbrett für zukünftige Führungspositionen in Finanzwirtschaft, Diplomatie, Militär und Regierung zu sein. Jedes Jahr bat Harvard ein paar Schwergewichte aus DC und New York, die bereits Karriere gemacht hatten, das Seminar abzuhalten. Der Kurs lockte im Wesentlichen diejenigen, die renommierten staatlichen Abschlüssen hinterherhechelten und an denen auf dem Campus kein Mangel herrschte. Sie waren darauf aus, mit ihrer kognitiven Kompetenz auf den Putz zu hauen, in der Hoffnung, dass ein hohes Tier aus einer Vorstandsetage sie herauspicken und ihnen die Türen zu einer schillernden Karriere öffnen würde. Ich schaute in die Runde: Überflieger aus den juristischen, wirtschaftswissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten, sogar ein paar auf Forschung spezialisierte Mediziner waren dabei. Ego strömte durch den Raum wie frisch gekühlte Luft.
Ich war im dritten Jahr an der juristischen Fakultät - ich absolvierte ein Doppelstudium in Jura und Politik - und hatte keine Ahnung, wie ich mich in die Harvard Law School oder in dieses Seminar hatte einschleichen können. Ich nahm es gelassen, schließlich war das ziemlich typisch für die letzten zehn Jahre meines Lebens. Vielleicht handelte es sich ja einfach um eine lange Serie von Tippfehlern. Normalerweise hielt ich es mit der Devise: je weniger Fragen, desto besser.
Sakko, Button-down-Hemd, Khakihose: Meistens schaffte ich es, glaubwürdig zu wirken, wenn auch auf eine etwas abgetragene und ausgefranste Art. Wir steckten mitten in der Diskussion. Das Thema war der Erste Weltkrieg. Professor Davies schaute uns erwartungsvoll an. Wie ein Inquisitor quetschte er die Antworten aus uns heraus.
»Also«, sagte er. »Gavrilo Princip tritt vor und zieht einem Zuschauer mit seiner kleinen Browning 1910 eins über. Dann schießt er zweimal: Die erste Kugel trifft die Frau des Erzherzogs Franz Ferdinand in den Unterleib, die zweite den Erzherzog selbst in die Halsvene. Und löst damit zufällig den Ersten Weltkrieg aus. Die Frage ist: Warum?«
Finster schaute er uns nacheinander an. »Sie sollen nicht wieder hochwürgen, was Sie mal gelesen haben. Sie sollen denken.«
Ich sah, dass die anderen sich wanden. Davies war eindeutig ein Schwergewicht. Die anderen Studenten im Kurs hatten seine Laufbahn mit eifersüchtiger Besessenheit studiert. Ich wusste weniger, aber es reichte. Er war ein alter Profi in Washington. Seit vierzig Jahren kannte er jeden, auf den es ankam, bis zwei Ebenen unterhalb der Leute, auf die es ankam, und - was am wichtigsten war - in welchen Kellern ihre Leichen lagen. Er hatte für Lyndon Johnson gearbeitet, dann die Seiten gewechselt und bei Nixon angeheuert und danach einen Laden aufgemacht, um auf eigene Rechnung die Strippen zu ziehen. Er betrieb jetzt eine Top-Firma für »strategische Beratung« namens Davies Group, bei der ich immer an die Kinks denken musste (was Ihnen einen kleinen Eindruck darüber vermittelt, wie gut ich für das mörderische Karrierekarussell in DC gerüstet war). Davies hatte Einfluss, und mit dem Profit, den er daraus schlug, konnte er sich alles leisten, was er wollte, einschließlich, wie mir einer der anderen Kursteilnehmer steckte, einer Villa in McLean, eines Landsitzes in der Toskana und einer Viertausend-Hektar-Ranch an der Central Coast von Kalifornien. Er leitete das Seminar jetzt seit ein paar Wochen. Meine Mitstudenten vibrierten förmlich vor Aufregung. Nie hatte ich erlebt, dass sie dermaßen scharf darauf waren, Eindruck zu machen. Was mich davon überzeugte, dass Davies in den verschiedenen Umlaufbahnen des offiziellen Washington eine sonnengleiche Anziehungskraft besaß.
Davies' übliche Lehrmethode war die, gelassen dazusitzen und gute Miene zu seiner Langeweile zu machen - als hörte er einer Horde Zweitklässler dabei zu, wie sie Belanglosigkeiten über Dinosaurier daherplapperte. Er war nicht sonderlich groß, vielleicht eins achtzig, aber irgendwie ... überragte er alles. Seine Anziehungskraft, nun ja, man konnte fast sehen, wie sie jeden Raum ausfüllte. Die Leute hörten auf zu reden, alle Blicke richteten sich auf ihn, und es dauerte nicht lange, da umgaben ihn alle wie Metallspäne einen Magneten.
Seine Stimme, die war ungewöhnlich. Man hätte ein Dröhnen erwartet, aber seine Stimme war immer weich. Unter dem rechten Ohr, am Ende des Kieferknochens, hatte er eine Narbe am Hals. Es wurde spekuliert, ob eine alte Verletzung etwas mit seiner leisen Stimme zu tun haben könnte, aber niemand wusste Genaueres. Was aber keine große Rolle spielte, denn in fast allen Räumen, in denen er den Mund aufmachte, wurde es sofort still. Seine Studenten bemühten sich allerdings verzweifelt, gehört und vom Meister wahrgenommen zu werden. Jeder hatte sich eine Antwort auf Davies' Frage zurechtgelegt. Das richtige Timing in einem Seminar ist eine Kunst: Wann lässt man die anderen plappern, wann schaltet man sich ein? Es ist wie beim Boxen oder ... vielleicht wie beim Fechten, Squash oder bei einer der anderen Freizeitvergnügungen dieser Ivy-League-Typen.
Der Bursche, der immer als Erster vorpreschte und nie etwas Substanzielles zu sagen hatte, ließ sich über die Mlada Bosna aus, bis ihm Davies' Blick Angst einjagte. Er fing an zu nuscheln. Die anderen rochen sofort Schwäche und fielen in beißwütigem Palaver übereinander her, wobei es um Großserbien gegen die Südslawen, Bosnisch gegen Bosniakisch, den Irredentismus der Serben und den Two-Power-Standard ging.
Ich staunte ehrfürchtig. Das lag nicht nur an den Fakten, die sie angehäuft hatten (einige von den Burschen schienen buchstäblich alles zu wissen; nie hatte ich es geschafft, einen auf dem falschen Fuß zu erwischen). Es lag an ihrem Auftreten. In jeder Bewegung konnte man ihren Status erkennen: als wären sie als Babys in den Arbeitszimmern ihrer Väter herumgekrabbelt, während die, Single Malts schwenkend, das Schicksal der Nationen debattierten; als hätten sie die letzten fünfundzwanzig Jahre ihre Zeit damit totgeschlagen, Diplomatiegeschichte zu büffeln, bis ihre Daddys genug davon haben, die Geschicke der Welt zu lenken, und sie ans Ruder lassen würden. Sie waren einfach so ... so gottverdammt ehrbar. Normalerweise beobachtete ich sie gern, liebte den kleinen Brückenkopf zu ihrer Welt, den ich mir hatte erobern können, liebte den Gedanken, dass ich es schließlich so weit bringen könnte, als einer von ihnen durchzugehen.
Aber nicht heute. Ich steckte in Schwierigkeiten. Ich konnte dem Hin und Her, den Argumenten und Gegenargumenten nicht folgen, ganz zu schweigen davon, dass ich sie ausstechen konnte. An meinen guten Tagen hatte ich eine Chance. Aber jedes Mal, wenn ich über die Mikropolitik auf dem Balkan von vor hundert Jahren nachzudenken versuchte, sah ich nur eine Zahl, die groß und rot und grell vor mir aufleuchtete. Das war das Einzige, was in meinem Notizbuch stand: $ 83 359, unterstrichen, mit einem Kreis drumherum, gefolgt von anderen Zahlen: 43 23 65.
Ich hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen. Nach der Arbeit - ich war Barkeeper in einem Schicki-Laden namens Barley - ging ich mit zu Kendra, die auch in der Bar arbeitete. Ich dachte, auf ihren Komm-fick-mich-Blick Taten folgen zu lassen würde mir besser bekommen als die neunzig Minuten, die ich vielleicht schlafen könnte, bevor ich wieder aufstehen musste, um zwölfhundert dicht bedruckte Seiten IB-Theorie zu lesen. Sie hatte schwarzes Haar, in dem man ertrinken konnte, und eine Figur, die zu lüsternen Gedanken einlud. Aber die entscheidende Verlockung war vielleicht die, dass kellnernde Mädchen, die Kendra hießen und dir im Bett nicht in die Augen schauten, das genaue Gegenteil von allem waren, was zu wollen ich mir einbildete.
Gegen sieben an jenem Morgen kam ich nach Hause. Ich wusste, dass irgendwas in der Luft lag, als ich auf dem Gehweg den vergammelten alten Fernsehsessel von meinem Vater und auf der Treppe ein paar von meinen T-Shirts liegen sah. Die Tür zu meiner Wohnung war aufgebrochen, und zwar nicht auf die saubere Art. Es sah aus, als hätte sich ein bösartiger Schwarzbär daran zu schaffen gemacht. Verluste: mein Bett und die meisten meiner Möbel, die Lampen und die kleinen Küchengeräte. Meine Sachen waren überall verstreut.
Die Leute durchforsteten meinen Krempel auf dem Gehweg, als handelte es sich um die Gratisreste am Ende eines Hofflohmarkts. Ich scheuchte sie weg und klaubte zusammen, was noch übrig war. Der Fernsehsessel war nicht in Gefahr. Er wog so viel wie ein Kombi, und es hätte ernsthafte Planung und zwei kräftige Burschen erfordert, um ihn wegzuschaffen.
Als ich die Wohnung aufräumte, fiel mir auf, dass den Jungs von Crenshaws Inkassobüro der Wert von Thukydides' Der Peloponnesische Krieg und des zehn Zentimeter dicken Lektürestapels, der in zwei Stunden Seminarthema sein würde, entgangen war. Auf dem Küchentisch hatten sie mir einen kleinen Liebesbrief hinterlassen: »Abtransportierte Möbel = Abschlagszahlung. Restbetrag: $ 83 359.« Rest? Pest! So weit kannte ich mich mit den Gesetzen schon aus, dass mir auf den ersten Blick siebzehn schwerwiegende Mängel an Crenshaws Methode der Schuldeintreibung auffielen. Aber Crenshaw war skrupellos wie eine Bettwanze, und ich hatte schon genug daran zu knabbern gehabt, meine Studiengebühren aufzutreiben, wie sollte ich da auch noch Crenshaw in die Pleite klagen. Aber der Tag würde kommen.
Mit den Eltern sterben eigentlich auch ihre Schulden, die aus dem Nachlass getilgt werden. Nicht so bei mir. Die dreiundachtzig Riesen waren der Restbetrag für die Magenkrebsbehandlung meiner Mutter. Sie war jetzt tot. Und wenn ich jemandem einen Rat geben dürfte, dann den: Wenn deine Mutter im Sterben liegt, bezahle niemals ihre Rechnungen von deinem eigenen Konto.
Weil nämlich irgendwelche widerwärtigen Gläubiger, Leute wie Crenshaw, das als Vorwand nehmen, dir nach ihrem Tod auf die Pelle zu rücken. Du hast die Schulden stillschweiged übernommen, werden sie sagen. Genau genommen ist das nicht legal. Aber das ist eben keine Sache, um die du dich groß kümmerst, wenn du sechzehn bist, die Rechnungen des Radiologen ins Haus flattern und du deine Mutter mit Überstunden bei Milwaukee Frozen Custard am Leben erhalten willst, während dein Vater vierundzwanzig Jahre im Allenwood Federal Correctional Complex absitzt.
Ich hatte zu oft solche Scheiße am Hals gehabt, als dass ich meine Zeit damit verschwendet hätte, mich darüber zu ärgern. Ich tat das, was ich immer tat. Je mehr Ärger aus der Vergangenheit mich nach unten ziehen wollte, desto mehr schuftete ich mir den Arsch ab, um den Kopf oben zu behalten. Das hieß, eine Mauer um das kleine Desaster hochzuziehen, das hieß, mich vor Kursbeginn durch so viel Arbeit wie möglich durchzuackern, damit ich in Davies' Seminar nicht dastand wie ein Volltrottel. Ich trug den Stapel Lektüre hinaus auf den Gehweg, stellte den Fernsehsessel auf, machte es mir bequem und vertiefte mich, während der Verkehr an mir vorbeirauschte, in irgendeinen Essay von Churchill.
Aber als ich schließlich in Harvard ankam, klappte ich zusammen. Die Post-Fick-Energie, die einen nach durchgemachter Nacht bis in den Morgen rettete, war genauso verpufft wie der Enthusiasmus-Kick, den mir der Gedanke verschafft hatte, Crenshaw mit einer Sammelklage an die Wand zu nageln. Um zum Seminarraum zu gelangen, musste ich meinen Studentenausweis am Eingang zur Langdell Hall durch einen Schlitz ziehen. Ich stellte mich hinter den anderen Studenten an, die ihre Karte durchzogen, die Drehsperre passierten und weiterhasteten. Aber bei mir leuchtete die LED- Anzeige rot auf, nicht grün. Die regungslose Metallschranke drückte mir gegen die Knie, während mein Oberkörper in einer dieser qualvoll langsamen Bewegungen weiter vornüberkippte. Man ist sich dessen vollkommen bewusst und kann doch nichts dagegen machen, bis Sekunden später, die einem wie zehn Minuten vorkommen, der Kopf auf die dünne Schicht Teppichboden über dem Zement knallt.
Die schnuckelige Studentin am Informationsschalter war so freundlich, mir mitzuteilen, dass ich doch mal in der Universitätsverwaltung nachfragen sollte, ob ich alle meine Gebühren bezahlt hätte. Dann sprühte sie sich ein Wölkchen Desinfektionsmittel in die Hände. Crenshaw musste sich hinter mein Bankkonto geklemmt und irgendetwas an der Überweisung meiner Studiengebühren gedreht haben. Harvard achtete genauso penibel auf Bezahlung wie Crenshaw. Ich ging zur Rückseite des Gebäudes und schlüpfte, als ein Angestellter der Poststelle auf eine Zigarette nach draußen ging, durch die Hintertür hinein.
Im Seminarraum war meine derangierte Verfassung offenbar nicht zu übersehen. Ich hatte den Eindruck, als schaute Davies mir mitten ins Gesicht. Dann spürte ich es kommen. Ich kämpfte mit jedem Muskel meines Körpers dagegen an, aber manchmal ist man einfach machtlos. Ich musste gähnen. Und wie. Ein Löwengähnen. Keine Chance, das hinter meiner Hand zu verbergen.
Davies fixierte mich mit einem in weiß Gott wie vielen Duellen geschärften Dolchblick - mit dem er früher Gewerkschaftsbosse und KGB-Agenten in die Knie gezwungen hatte.
»Langweilen wir Sie, Mister Ford?«, fragte er.
»Nein, Sir.« Ein grässlich schwereloses Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. »Entschuldigung.«
»Dann lassen Sie uns doch an Ihren Gedanken über das Attentat teilhaben.«
Die anderen versuchten ihr Entzücken zu verbergen: ein Ehrgeizling weniger, den sie hinter sich lassen mussten. Insbesondere folgende Gedanken lenkten mich ab: Crenshaw kann ich nicht abschütteln, bevor ich einen Abschluss und einen anständigen Job habe, und beides schaffe ich erst, wenn ich Crenshaw abgeschüttelt habe, was heißt, ich stehe mit dreiundachtzig Riesen bei Crenshaw und hundertsechzig Riesen bei Harvard in der Kreide, ohne jede Chance, jemals so viel zu verdienen. Alles, wofür ich mir in den letzten zehn Jahren den Arsch abgeschuftet habe, all die in diesem Raum versammelte Ehrbarkeit, war drauf und dran, mir endgültig zu entgleiten. Und die Wurzel all dessen? Mein Vater, der Knastbruder, der sich als Erster mit Crenshaw in die Haare gekriegt, der mich im Alter von zwölf Jahren als Herr des Hauses zurückgelassen hatte und der der Welt einen Dienst erweisen und statt meiner Mom den Löffel hätte abgeben sollen. Ich sah ihn vor mir, sah sein Feixen, und sosehr ich mich auch dagegen sträubte, ich konnte an nichts anderes denken als an ...
»Rache«, sagte ich.
Davies berührte mit dem Bügel seiner Brille die Lippen. Er wartete darauf, dass ich fortfuhr.
»Ich meine, Princip ist bettelarm, richtig? Sechs von seinen Geschwistern sind gestorben, und seine Eltern müssen ihn weggeben, weil sie nicht genug zu essen für ihn haben. Und er glaubt, der einzige Grund, warum er im Leben nicht vorwärtskommt, sind die Österreicher, die seine Familie drangsalieren, solange er denken kann. Er ist ein schmächtiges Bürschchen, und die Guerillas lachen ihn aus, als er bei ihnen mitmachen will. Er ist ein Niemand, der auf die Kacke hauen will. Die anderen Attentäter verlieren die Nerven, aber er ... er ist so angepisst wie keiner von den anderen. Er hat etwas zu beweisen. Dreiundzwanzig Jahre Verbitterung. Also tut er, was er tun muss, damit man ihn wahrnimmt, auch wenn er dafür jemanden töten muss. Besonders wenn er dafür jemanden töten muss. Je gefährlicher der Job, desto besser.«
Meine Kommilitonen schauten angewidert zur Seite. Ich machte im Seminar nicht oft den Mund auf, und wenn, dann bemühte ich mich, wie alle anderen ein geschliffenes, erlesenes Harvard-Englisch zu sprechen - nicht das des normalen Mike, das mir gerade herausgerutscht war. Ich wartete auf meine Hinrichtung. Ich hatte mich wie ein Straßenlümmel angehört, nicht wie ein junges vielversprechendes Mitglied des Establishments.
»Nicht übel«, sagte er. Er dachte kurz nach, dann schaute er sich im Raum um.
»Fabelhafte Strategie, Weltkrieg. Sie verstricken sich alle zu sehr in Abstraktionen. Sie dürfen nie die Tatsache aus den Augen verlieren, dass es am Ende immer um Menschen geht. Irgendwer muss abdrücken. Wenn man Nationen führen will, dann muss man zuerst den einzelnen Menschen verstehen, seine Wünsche und Ängste, die Geheimnisse, die er sich selbst nicht eingesteht, deren er sich vielleicht nicht einmal bewusst ist. Das sind die Hebel, die die Welt bewegen. Jeder Mensch hat einen Preis. Und wenn Sie den herausgefunden haben, dann haben Sie ihn in der Hand, mit Haut und Haaren.«
Nach der Stunde hatte ich es eilig. Ich wollte mich waschen und wieder um das Desaster in meiner Wohnung kümmern. Eine Hand auf der Schulter hielt mich zurück. Halb rechnete ich damit, dass Crenshaw hinter mir stehen und mich vor all den guten Menschen aus Harvard demütigen würde.
Vielleicht wäre das die wünschenswertere Alternative gewesen. Es war Davies mit seinem Dolchblick und seiner Flüsterstimme. »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte er. »Viertel vor elf, in meinem Büro?«
»Fantastisch«, erwiderte ich. Mehr brachte ich nicht zustande, um meine Gelassenheit zu demonstrieren.
Vielleicht hatte er sich den Anschiss für eine private Unterredung aufgehoben. Klasse.
Ich musste etwas essen und brauchte Schlaf, aber Kaffee würde es fürs Erste auch tun. Um in meine Wohnung zu gehen, reichte die Zeit nicht, also ging ich ohne groß nachzudenken rüber ins Barley, die Bar, wo ich arbeitete. Das Einzige, was mir im Kopf herumschwirrte, war diese eine Zahl: $ 83 359. Und die endlose, jämmerliche Rechnung, die ergab, dass ich die Summe nie würde abbezahlen können.
Die Bar war ein pompöser Kasten mit zu vielen Fenstern. Die einzig anwesende Person war Oz, der Manager, der für ein paar Schichten in der Woche den Barkeeper machte. Erst als ich an der Eichentheke lehnte und den ersten Schluck bitteren Kaffee trank, wurde es mir klar. Ich war gar nicht wegen des Koffeins gekommen. In meinem Kopf drehen sich die Zahlen: 46 79 35, 43 23 65 usw. Das waren Kombinationen für einen Sentry-Safe.
Oz, der Schwiegersohn des Besitzers, zweigte Kohle ab. Nicht nur hier und da, den üblichen »Schwund«, mit dem jeder Laden leben musste. Nein, er raubte den Laden aus. Ich hatte das Spiel schon eine Zeit lang beobachtet: Er schenkte Drinks aus, ohne zu bonieren. Er erließ seinen Stammgästen die Hälfte der Rechnung, tippte nichts in die Kasse ein und zweigte das Geld für sich ab. Jeden Abend so große Beträge aus der Kasse zu nehmen muss mit der Zeit ein bisschen schwierig geworden sein, weil er das ja tun musste, während wir darauf warteten, ausgezahlt zu werden. Ich war mir deshalb ziemlich sicher, todsicher, dass das Arschloch das Geld im Safe aufbewahrte. Ich wusste es einfach. Wahrscheinlich weil seine Tour im Grunde eine plumpe Version dessen war, was ich an seiner Stelle auch getan hätte, hätte ich meinen krummen Geschäften nicht schon vor langer Zeit abgeschworen gehabt. Der akademische Ausdruck dafür ist »wachsamer Opportunismus«. Er bedeutet, dass man die Welt mit den Augen eines Kriminellen anders sieht: nämlich lediglich als eine Ansammlung von unbeaufsichtigten Bonbongläsern. Ich fing an, mir Sorgen um mich zu machen, weil mir jetzt, da ich Geld brauchte, dringend Geld brauchte, all diese Dinge wieder ins Auge sprangen: nicht abgeschlossene Autos, angelehnte Türen, offene Geldbörsen, billige Schlösser, dunkle Hauseingänge.
Sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte meine Ausbildung, meine kriminellen Kenntnisse einfach nicht vergessen. Ich konnte all diese Einladungen auf Abwege einfach nicht ignorieren. Die Menschen scheinen zu glauben, dass Einbrecher Schlösser aufbrechen, durch Abflussrohre robben und Witwen bezirzen. Dabei müssen sie in der Regel nur die Augen offen halten. Das Geld liegt mehr oder weniger auf der Straße, weil ehrliche Menschen einfach nicht glauben können, dass Leute wie ich durch die Gegend laufen. Der versteckte Schlüssel, die unverschlossene Garage, der Hochzeitstag als PIN-Nummer. Man braucht nur zuzugreifen. Und das Lustige ist: Je rechtschaffener ich wurde, desto leichter war es, ein Gauner zu sein. Als würden meine Mitmenschen die Versuchungen ständig potenzieren, nur um immer wieder zu überprüfen, ob ich nach all den Jahren noch sauber war. Als harmlos aussehender Student in meinem Button-down- Hemd hätte ich wahrscheinlich mit einem Müllbeutel voller Hunderter und einem Revolver im Gürtel aus der Cambridge Savings and Trust marschieren können, und der Wachmann hätte mir die Tür aufgehalten und obendrein ein schönes Wochenende gewünscht.
Wachsamer Opportunismus. Deshalb bekam ich mit, dass Oz den Safe tagsüber auf »Stand-by« stehen hatte und nur die letzte Zahl eingeben musste, um ihn zu öffnen. Deshalb wusste ich, dass diese letzte Zahl fünfundsechzig war. Deshalb konnte ich mich daran erinnern, dass, selbst wenn Oz die Kombination geändert hatte, Sentry-Safes nur mit einer Handvoll voreingestellter Kombinationen ausgeliefert wurden, sogenannter Test-Codes, und wenn seiner auf fünfundsechzig endete, mit fast hundertprozentiger Sicherheit irgendjemand irgendwann einfach zu faul gewesen war, die ursprünglich vom Hersteller eingestellte Kombination 43-23-65 zu ändern. Deshalb war mir aufgefallen, dass Oz kaum in der Lage war, eine Summe im Kopf zusammenzuzählen, ganz zu schweigen davon, den Überblick über sein abgezocktes Geld zu behalten, und dass seine Sauferei immer schlimmer wurde: schon morgens um halb elf hatte er eine halbe Tasse mit einem doppelten Jameson und einem Schuss Kaffee intus. Und selbst wenn ihm auffallen würde, dass etwas fehlte, wem sollte er es erzählen? Es gibt keine Ganovenehre, richtig?
Oz zog die Geldschublade aus der Kasse an der Bar. Er trug sie in sein Büro. Ich hörte, wie der Safe geöffnet und geschlossen wurde. Er kam zurück und sagte: »Ich gehe eben Zigaretten holen. Pass mal kurz auf den Laden auf, okay?«
Die Gelegenheit klopfte an. Ich nickte.
Ich ging ins Büro und probierte den Griff am Safe. Er war offen. Jesus. Oz bettelte praktisch darum. Ich ging den Inhalt durch. Ich zählte etwa achtundvierzigtausend Dollar in gebündelten und vielleicht noch mal zehn Riesen in lose gestapelten Scheinen. Oz war mächtig im Rückstand mit seinen Bankeinzahlungen.
Es gab zwei Möglichkeiten: Ich konnte die goldene Gans Knochen für Knochen abknabbern und mir so Crenshaw lange genug vom Leib halten, bis ich meinen Abschluss hatte. Oder ich konnte vor Morgengrauen kommen, den Safe ganz ausräumen und auf einen Schlag klar Schiff machen. Der Hintereingang war gesichert wie Fort Knox, aber die Vordertür konnte man mit einem Stemmeisen in eineinhalb Minuten aufbrechen - typisch. Bei Spuren von gewaltsamem Eindringen zahlte die Versicherung. Niemand käme zu Schaden. Ich schaute in die obersten Schubladen des Schreibtischs, warf einen Blick auf die Pinnwand, und da stand sie auf einem Zettel, in Oz' Drittklässlerschrift: 43 23 65 - die Kombination. Er hatte darum gebettelt.
Ich musste diese Woche zumindest die Gebühren für Harvard zahlen. Sonst konnte ich meinen Abschluss vergessen. Die ganze Arbeit für die Katz. Das Blut pumpte durch meine Adern. Ich spürte das Prickeln im ganzen Körper. Es fühlte sich gut an. Wirklich gut. Es hatte mir gefehlt. Zehn Jahre war ich sauber gewesen, aufrecht, ehrgeizig, tatkräftig. Ich war nicht vom Weg abgekommen, hatte höchstens mal ein paar Schokokugeln aus dem Süßigkeitenregal mitgehen lassen.
Es fühlte sich gut an, vor dem offenen Safe zu stehen. Viel zu gut. Es lag mir im Blut. Ich wusste, wenn ich diesem Scheiß auch nur die kleinste Chance gab, dann würde er mich ruinieren - wie er meinen Vater, meine ganze Familie ruiniert hatte. Ich schaute an mir herunter. Ich sah das akkurat gebügelte Hemd, die Slipper und Thukydides, der vom Umschlag meines Buches zu mir hochschaute.
»Was soll das, du Penner?«, murmelte ich. Wen verarschte ich hier? Für einen Gauner war ich zu verdammt ehrbar. Und irgendwie doch zu sehr Gauner, um ehrbar zu sein. Ich trank den Kaffee aus und schaute in die leere Tasse. Um zu überleben, hatte ich mich vor langer Zeit für Ehrlichkeit entschieden, und das würde ich durchziehen, und wenn ich dabei draufginge.
Ich machte die Safetür zu.
Davies' Büro hatte ich mir wie aus einem Film über den Zweiten Weltkrieg vorgestellt: ein Kartenraum mit mannshohen Weltkugeln und er mittendrin, wie er mit einem Croupier- rechen Armeen herumschiebt. Stattdessen hatte Harvard ihn in ein fensterloses Büro in der Littauer Hall gesteckt, das mit billigen Möbeln in Kirschbaumfurnier ausgestattet war.
Als ich ihm gegenübersaß, überkam mich ein gruseliges Déjà-vu-Gefühl. Er schien zu wachsen, während er mich von oben bis unten musterte, und mir fiel wieder ein, wie ich mich gefühlt hatte, als ich vor langer Zeit in der Mitte eines Gerichtssaals gestanden und der Richter von oben auf mich herabgeschaut hatte.
»Ich muss in ein paar Minuten los, wenn ich den Shuttleflug nach DC noch erwischen will«, sagte Davies. »Aber ich wollte vorher noch mit Ihnen sprechen. Sie haben im Sommer ein Praktikum bei Damrosch und Cox gemacht, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Fangen Sie nach Ihrem Abschluss bei denen an?«
»Nein«, sagte ich.
Das ist ziemlich ungewöhnlich. Die wirklich harte Arbeit im Jurastudium fällt in den ersten eineinhalb Jahren an, in denen man nur ein Ziel hat: ein Sommerpraktikum in einer Kanzlei. Da wird man dann für null Arbeit fürstlich ausgeführt und königlich überbezahlt als Vorschuss für die sieben Jahre, in denen sie dir dann als Associate in den Arsch treten. Hat man erst mal das Sommerpraktikum ergattert, hat man den Job nach Abschluss des Studiums praktisch in der Tasche - außer, man hat sich wie ein Volltrottel angestellt. Damrosch und Cox hatten sich nicht mehr gemeldet.
»Warum nicht?«, fragte Davies.
»Schwierige Wirtschaftslage«, sagte ich. »Außerdem bin ich nicht der typische Bewerber.«
Davies nahm ein paar Blatt Papier in die Hand und überflog sie. Mein Lebenslauf. Hatte er sich wahrscheinlich im Studentenbüro besorgt.
»Ihr Chef bei Damrosch und Cox stellt Ihnen ein exzellentes Zeugnis aus. Sie seien eine Naturgewalt.«
»Das ist sehr nett von ihm.«
Davies faltete die Blätter zusammen und legte sie auf den Schreibtisch.
»Damrosch und Cox sind zwei scheißelitäre Nadelstreifen- Snobs«, sagte er.
Das war auch meine Theorie, warum sie mich nicht genommen hatten, aber ich brauchte eine Sekunde, bis ich verdaut hatte, das gleiche Urteil aus Davies' Mund zu hören. Seiner Firma eilte ein Ruf voraus, gegen den sich jeder scheißelitäre Nadelstreifen-Snob wie ein Hinterhofpenner ausnahm.
»Sie sind mit neunzehn zur Navy gegangen. Da haben sich die meisten Ihrer Seminarkumpel wahrscheinlich eine Auszeit nach der Schule gegönnt und auf einem Europatrip ihren Verstand versoffen. Höchster Unteroffiziersrang. Ein Jahr am Pensacola Junior College, dann zwei Jahre an der Florida State University. Zweimal Jahrgangsbester. Fast perfekter Zulassungstest fürs Jurastudium. Und jetzt Doppelstudium an der Harvard Kennedy School und Harvard Law School. Und ...« Er schaute auf ein anderes Blatt. »... Sie machen das Studium in drei statt in vier Jahren. Wie bezahlen Sie das?«
»Darlehen.«
»Etwa hundertfünfzigtausend Dollar?«
»Mehr oder weniger. Außerdem arbeite ich als Barkeeper.«
Davies schien die Ringe unter meinen Augen zu taxieren. »Wie viele Stunden pro Woche?«
»Vierzig, fünfzig.«
»Neben der Uni.« Er schüttelte den Kopf. »Bei der Frage vorhin, was Princip angetrieben hat, haben Sie ziemlich richtig gelegen. Deshalb meine Frage an Sie: Was hat Sie getrieben?«
Offenbar war das jetzt ein Bewerbungsgespräch. Ich dachte an die üblichen Plattitüden über mein Arbeitsethos, versuchte meinen inneren Ehrgeizling hervorzukramen, aber eigentlich wusste ich nicht recht, wie ich reagieren sollte. Davies machte es mir leicht.
»Und verschonen Sie mich mit dem üblichen Bockmist«, sagte er. »Nach dem, was Sie eben im Seminar gesagt haben, scheinen Sie tatsächlich was über das wirkliche Leben zu wissen, darüber, was die Menschen antreibt. Deshalb wollte ich Sie sprechen. Was treibt Sie an?«
Er würde es früher oder später sowieso herausfinden, also dachte ich mir, dass ich es auch gleich hinter mich bringen könnte. Aus meinen Akten war es gestrichen worden, aber ich wurde es doch nie ganz los. Irgendwie fanden es die Leute immer heraus, zum Beispiel die Partner von Damrosch und Cox. Sie hatten es wahrscheinlich gerochen.
»Als junger Bursche hatte ich ein paar Scherereien«, sagte ich. »Der Richter hat mir eine einfache Wahl gelassen: Knast oder Armee. Die Navy hat mich zurechtgestutzt, die Disziplin hat gewirkt. Ich mochte die Routine, den Antrieb. Das habe ich mit aufs College genommen.«
Er nahm die Papiere vom Schreibtisch, ließ sie in seine Aktentasche fallen und stand auf. »Gut«, sagte er. »Mir ist es lieber, wenn ich weiß, mit wem ich zusammenarbeite.«
Ich schaute ihn erstaunt an. Mit wem ich zusammenarbeite. Beim ersten Hinweis darauf, wer ich wirklich war, setzten mich die Leute normalerweise vor die Tür (»Schwierige Wirtschaftslage « oder »Leider nicht das, was wir gesucht haben«). Davies nicht.
»Sie werden für mich arbeiten«, sagte er. »Sie fangen mit zweihundert im Jahr an. Dreißig Prozent Leistungsprämie.«
»Ja.« Ich hörte meine Stimme, noch bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte.
In jener Nacht schlief ich in meiner leeren Wohnung auf einer pfeifenden Luftmatratze. Alle zwei Stunden musste ich aufstehen und sie wieder aufpumpen. Das Morgengrauen ließ auf sich warten, und ich weiß noch, was mir irgendwann aufging: Als Davies gesagt hatte, dass ich in DC arbeiten würde, war das eine Feststellung gewesen, keine Frage.
2
Ein Mahagonispind ist kein Sarg, aber nach vier Stunden Gefangenschaft fühlte er sich allmählich eindeutig wie einer an. Trotzdem fand ich keine Ruhe. Das mag damit zu tun haben, dass die meisten Menschen in ähnlicher Situation auf dem Rücken liegen und tot sind. Irgendwann fand ich heraus, dass ich meinen Kopf nach hinten lehnen und in eine Ecke klemmen und so ein bisschen dösen konnte. Die Geschichte, wie ich in der Kiste gelandet war, ist ein bisschen kompliziert. Die Kurzfassung ist, dass ich einem Mann namens Ray Gould nachstellte, weil ich verliebt war - im Besonderen in ein Mädchen namens Annie Clark, im Allgemeinen in meinen neuen Job. Ich arbeitete seit knapp vier Monaten für die Davies Group. Die Firma war ein merkwürdiges, mit Absicht undurchsichtiges Gebilde. Wenn man nachfragte, erzählten sie einem etwas von Regierungsangelegenheiten und strategischer Beratung. Was gewöhnlich ein Euphemismus für Lobbyarbeit war. Wenn man sich einen Lobbyisten vorstellt, sieht man wahrscheinlich den zu diesem Zweck eingekauften und bezahlten, Slipper mit Quaste tragenden Dreckskerl vor sich, der Bestechungsgelder von Firmen und Interessengruppen an Politiker weiterleitet, für sich selbst einen großzügigen Batzen abzweigt und so letztendlich dafür sorgt, dass der Welt Lungenkrebs und vergiftete Flüsse erhalten bleiben. Solche Figuren gibt es jede Menge. Das Powerplay der Sechziger und Siebziger, als Geld und Nutten in Blüte standen, war allerdings lange vorbei. Heute bringen Lobbyisten ihre Tage damit zu, sich durch Powerpoint-Präsentationen über obskure Strategien zu klicken, während der gelangweilte Mitarbeiternach- wuchs der Kongressabgeordneten unter dem Tisch auf dem Blackberry surft.
Diese Typen sind der Pöbel. Sie mit den Leuten bei der Davies Group zu vergleichen hieße, Modeklunker mit Tiffany und Cartier zu vergleichen. Davies gehört zu einer Handvoll Unternehmen, die nur sehr wenig offizielle Lobbyarbeit machen. Sie werden von Schwergewichten aus Washington geleitet - ehemaligen Präsidenten des Repräsentantenhauses, ehemaligen Außenministern, ehemaligen Nationalen Sicherheitsberatern - und üben über DCs informelle Informationskanäle eine weitaus mächtigere und lukrativere Spielart von Einfluss aus. Sie sind nicht als Lobbyisten registriert. Sie setzen nicht auf Masse. Sie machen keine Werbung. Sie haben Beziehungen. Sie sind diskret. Und sie sind sehr, sehr teuer. Wenn man wirklich etwas erledigt haben will in Washington und das nötige Geld hat und die Leute kennt, die man kennen muss, um auch nur eine Empfehlung für eine dieser Topfirmen zu bekommen, dann wendet man sich an die.
Und die Davies Group bildet den Gipfel dieser intimen kleinen Welt. Versteckt zwischen Bäumen und alten europäischen Botschaften, residiert sie in einer Villa in Kalorama, weit entfernt von der K Street in der Innenstadt, wo die meisten Lobbyisten miteinander kabbeln.
Während meiner ersten Tage in DC begann ich zu begreifen, dass die Davies Group sich nicht so sehr als Unternehmen, sondern als Geheimgesellschaft oder Schattenregierung verstand. Leute, die ich früher auf der Titelseite der Washington Post oder sogar in Geschichtsbüchern gesehen hatte, schlenderten durch die Gänge oder fluchten über den Papierstau in einem Drucker.
Wie alle anderen Chefs tat Davies im Wesentlichen das, was er schon in seinen Regierungsfunktionen getan hatte. Er dirigierte das in Dekaden gereifte Expertenwissen der Bürokratie: Er wusste genau, an welcher Strippe er zu ziehen, welchen Funktionsträger er unter Druck zu setzen hatte. Wie er diesen trägen und plumpen, diesen allmächtigen und doch kaum funktionsfähigen Apparat - die Bundesregierung der Vereinigten Staaten - zum Leben erweckte und seine Marotten in Realitäten verwandelte, kam einem Wunder gleich.
Früher hatte er sich vor Wählern, Spendern und politischen Parteien rechtfertigen müssen. Heute rechtfertigte er sich nur vor sich selbst. Er erhielt mehr Anfragen, als er jemals annehmen konnte, und so leistete er sich den Luxus, nur die Klienten anzunehmen, deren Fälle mit seinen eigenen Interessen übereinstimmten.
Natürlich wurde nichts von alldem offen ausgesprochen. Man musste sich die täglichen Abläufe und die Rituale aneignen, indem man die Augen offen hielt und die richtigen Fragen stellte. Die Davies Group war alte Schule. Die meisten Firmen bewahren sich noch eine dünne Gentleman-Patina - die Anzüge, die Bibliothek, den gepflegten Parkettboden. Aber jede Noblesse ist von diesen Zahlenjongleuren schon längst ausgemerzt worden. Jeder bemisst sein Leben in den Zeilen und Spalten einer Tabellenkalkulation: in abgerechneten Stunden. Man muss seine Zahlen erreichen. Man steckt vom ersten Tag an im Hamsterrad. Bei Davies war das anders. Es gab keine Leitlinien, keine Quoten oder Vorgaben. Die Firma hatte in diesem Jahr nur etwa ein halbes Dutzend neuer Leute eingestellt. In manchen Jahren stellte sie gar keine ein.
Jeder von uns neu Aufgenommenen erhielt ein Büro, eine Sekretärin und alle zwei Wochen einen Lohnscheck über viertausendsechshundert Dollar. Alles andere war unsere Sache. Man musste die Arbeit finden. Die Chefs und Partner belegten den zweiten Stock, der mir vorkam wie ein Flügel in Versailles. Die Senior Associates saßen im ersten Stock. Wir waren die Junior Associates, die Frischlinge, die man zu der Verwaltung, der Personalabteilung und den Rechercheangestellten ins Erdgeschoss steckte. Als Junior Associate arbeitete man im Grunde auf Probe. Man hatte sechs Monate, vielleicht ein Jahr, um seinen Wert für die Firma unter Beweis zu stellen, oder man war wieder draußen. Niemand zeigte einem, wie man das anstellte. Man musste durch die Büros jedes einzelnen Senior Associate hecheln, um die Spielregeln zu lernen, durfte dabei aber nie aufdringlich wirken. Bei der Davies Group lauteten die Kardinaltugenden Takt und Diskretion.
Am Anfang bettelte man um jedes noch so kleine Projekt. Normalerweise bekam man dann den Auftrag, Nachforschungen über ein Objekt anzustellen - Entschuldigung, das ist Old-Mike-Jargon -, über einen »Entscheidungsträger«, den die Firma zu beeinflussen versuchte. Das bedeutete, alles irgend Mögliche, Öffentliches wie Privates, über das Objekt herauszufinden und die Ergebnisse ausschließlich auf das einzudampfen, was für den anhängigen Fall von Bedeutung war - und sonst nichts. Das fand Eingang in ein Memo, Maximum eine Seite. Das nannten sie »das Meer aufwühlen«. Aber was war von Bedeutung? Wir Junior Associates hatten keine Ahnung, aber wir waren verdammt gut beraten, es herauszufinden.
Das war das Schlimmste. Die Partner und Senior Associates wussten, dass wir nach einem wohlwollenden Tätscheln lechzten und nur noch härter arbeiten würden, wenn sie uns zappeln ließen. Also sagten sie uns nie genau, ob wir nun richtig- oder falschlagen. Sie berührten nur mit zusammengelegten Fingerspitzen ihre Lippen und sagten: »Wie wär's, wenn Sie es noch mal versuchen würden?« Und dann schoben sie einem das Ergebnis endloser Nächte und Wochenenden im Büro über den Schreibtisch und verlangten nach mehr. Wenn man Glück hatte, erntete man die seltenste aller Belobigungen, ein »nicht übel« - bei der Davies Group das Äquivalent eines hechelnden Orgasmus. Und wenn man die falschen Salzkörner aus dem Meer schöpfte? Dann war man draußen. Schwimmen oder absaufen.
Ich würde schwimmen. In der Navy hatten sie mich anfangs ziemlich übel schikaniert, und wenn das das Schlimmste war, was sie hier für mich in petto hatten, nämlich vor einem Computer zu sitzen, dann würde ich es schaffen. Wenn ich wach war (was ich achtzehn, neunzehn Stunden am Tag war), dann arbeitete ich.
Das Geld reichte aus, um mir Harvard und Crenshaw vom Leib zu halten, und obwohl ich zwanzig Prozent sparte (ich war immer noch davon überzeugt, dass man mir den Teppich unter den Füßen jeden Augenblick wieder wegziehen würde), hatte ich mehr übrig, als ich ausgeben konnte. Ich musste mich erst daran gewöhnen, ohne Gutscheine zum Essen zu gehen und in einer anständigen Wohnung zu leben, in die ich Leute einladen konnte, ohne rot zu werden.
Geld war nicht der einzige Vorteil. In meiner kurzen Zeit bei Davies kam ich in den Genuss von Vergünstigungen, von deren Existenz ich vorher keine Ahnung gehabt hatte, Dinge, von denen ich nicht mal gewusst hätte, dass ich sie mir wünschen könnte. Sie schickten Möbelpacker nach Cambridge, um meine alte Wohnung aufzulösen. Junge Burschen, die so höflich waren, nicht über meine heruntergekommene Bude zu lachen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie mich davon überzeugt hatten, dass sie auch ohne meine Hilfe zurechtkämen. Ich bräuchte nur eine Tasche für mich zu packen und meinen fünfzehn Jahre alten Jeep Cherokee runter nach DC zu fahren. Die Stoßdämpfer waren hinüber, sodass der Wagen jedes Mal, wenn ich schneller als neunzig fuhr, auf den Blattfedern hin und her schlingerte wie eine Schaukel. Davies hatte mich in eine Firmenwohnung an der Connecticut Avenue einquartiert: achtzig Quadratmeter, zwei Zimmer plus Arbeitszimmer und Balkon, mit Pförtner und Concierge.
»Lassen Sie sich bei der Wohnungssuche so viel Zeit, wie Sie wollen«, sagte Davies am ersten Tag. »Wir können den Kontakt zu einem Immoblienmakler herstellen, aber wenn Sie sich lieber auf Ihre Arbeit konzentrieren wollen, als Häuser zu besichtigen, so soll uns das recht sein.«
Selbst wenn ich nicht versucht hätte zu sparen, es gab gar nichts, was ich mir hätte kaufen können. Die Firma hatte einen Fahrzeugpool, und an den meisten Tagen ließen wir uns Frühstück, Lunch und Abendessen ins Büro bringen.
In der ersten Woche lernte ich meine Sekretärin Christina kennen, eine zierliche Ungarin. Sie war so winzig, akkurat und effizient, dass ich nur mäßig überrascht gewesen wäre, wenn sie sich als Roboter entpuppt hätte. Ständig ertappte sie mich: zum Beispiel wenn ich sie fragte, wo die Poststelle ist oder eine chemische Reinigung. Sie streckte dann nur die Hand aus und schaute mich etwas pikiert an, weil ich überhaupt versucht hatte, irgendetwas von diesen Dingen selbst zu tun, und übernahm dann alles, was ich erledigt haben wollte.
»Tut mir leid, Mr. Ford, aber ich muss darauf bestehen. Das hat nichts mit Luxus zu tun. Davies möchte nur sicherstellen, dass Sie Ihre Arbeit tun und Ihr Geld wert sind.«
Das machte es etwas einfacher. Die fünfzig ärgerlichen Dinge, die bei einem Umzug anfielen, das Schlangestehen bei der Zulassungsstelle oder das Warten auf die Techniker vom Kabelfernsehen, es geschah einfach. Und es blieb so, all die kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens existierten nicht mehr. Da begann ich zu begreifen. Ich hatte immer Geld zum Überleben gebraucht, für das Nötigste, das Monat für Monat bezahlt werden musste. Ich hörte eigentlich nie auf, darüber nachzudenken, was sie eigentlich bewirkten, diese zahllosen Vergünstigungen, die die Menschen mit dem Wort »angenehm « umschreiben.
Ich fühlte mich ein bisschen unwohl dabei, ich hatte sogar das Gefühl, sie würden mich verweichlichen. Ich sah mich gern als einen hungrigen, ehrgeizigen Menschen. Und wenn man jeden Tag zwölf Gesprächsprotokolle und vierzehnhundert Seiten Akten durchackern muss, pro Woche zwei alles entscheidende Berichte abzuliefern hat und jeden Augenblick einer der Partner auf eine »kleine Kontrollvisite« hereinschneien kann, die deine letzte sein konnte, dann hat man nicht wirklich Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob man verweichlicht. Man begreift, dass Christina recht hat: Mit Phat Thai, das man sich in den Konferenzraum liefern lässt, und einer Luxuslimousine, die einen nach Hause chauffiert, zahlt Davies einen niedrigen Preis dafür, dass seine Angestellten immer auf Trab sind und er für siebzig Stunden die Woche zwei- bis dreihundert Dollar pro Stunde für sie in Rechnung stellen kann.
Ich brauchte das Geld und mochte die Vergünstigungen, aber beides war nicht der Grund, warum ich mich jeden Morgen um Viertel vor sechs aus dem Bett quälte. Es waren die glänzenden Schuhe und frischen Hemden. Es war das Abhaken von acht Aufgaben noch vor neun Uhr. Es war das Klackern meiner Johnson-&-Murphy-Schuhe, das von den eichenvertäfelten Wänden widerhallte, wenn ich über den Marmorboden des Foyers der Davies Group ging. Es war der Anblick von klugen Männern, die wichtige Arbeit leisteten, der Anblick von Henry Davies und einem ehemaligen CIA- Direktor, die im Innenhof lachten wie alte Zimmergenossen, es war die Erkenntnis, dass ich, wenn ich mir weiter den Arsch aufriss, vielleicht eines Tages einer von ihnen sein könnte. Es war das Gleiche, das mich angetrieben hatte, seit mir ein Richter die Wahl gelassen hatte: das Bedürfnis etwas zu finden, was größer war als ich, etwas, von dem ich ein Teil sein konnte, eine Arbeit, in der ich mich verlieren konnte, irgendetwas, was den Kriminellen in meinem Blut auf Abstand hielt.
Ich würde alles tun, um es bei Davies zu schaffen und nicht wieder aus der ehrbaren Welt herauszufallen. Und das war der Grund, warum ich in dem verschlossenen Mahagonispind gelandet war.
Diese ersten Monate kamen mir vor, als durchliefe ich das Aufnahmeritual einer Studentenverbindung. Niemand verlor ein Wort darüber, worin es bestand, aber man war sich bewusst, dass jeder deiner Schritte genauestens beobachtet wurde. Gelegentlich verschwand jemand, und es beschlich einen das Gefühl, als sei am Abend zuvor in einem exklusiven Raum der Davies Group insgeheim abgestimmt und ein schwarzes Häkchen hinter dem Namen des Untauglichen gemacht worden.
Zumindest war das Dauerthema unter den Junior Associates. Ich hielt das für ein bisschen übertrieben. Allerdings war ich davon überzeugt, dass der erste richtige Auftrag darüber entschied, ob man blieb oder flog. Wenn man im Geschäft »Regierungsangelegenheiten« aus einem Politiker oder Beamten herauskitzeln will, was der Klient verlangt, kommt irgendwann der Augenblick, der »das Angebot« genannt wird. Der Fall mag noch so kompliziert sein, letztlich läuft es auf die eine Frage hinaus: Liefert er, was du von ihm willst? Ja oder nein.
Das tatsächliche Angebot macht ein Partner. Er ist das illustre Gesicht der Firma. Die eigentliche Arbeit jedoch erledigt ausschließlich der Associate. Wenn du deinen ersten Fall übertragen bekommst, gehört er ganz allein dir. Wenn das Objekt Ja sagt, bist du der Champ. Lautet die Antwort Nein, bist du draußen.
Meinen ersten Fall erhielt ich von William Marcus. Sein Büro befand sich im zweiten Stock neben dem von Davies. Das war der Vorstandsflur. Die eine Seite nahm ein eichengetäfelter Sitzungssaal ein. Auf der anderen Seite befanden sich sechs oder sieben Suiten, von denen jede so groß wie meine Wohnung war. Von ihren Hochsitzen in den Hügeln von Kalorama aus konnten sie alle auf DC hinunterschauen. Wenn ich durch diesen Korridor ging, stellten sich mir die Haare auf. Ich schaltete in Exerziermodus, Augen geradeaus, Körper in Habachtstellung und in Dreiviertelmeterschritten im Gleichschritt, marsch.
Die Männer in diesem Flur hatten buchstäblich die Geschicke der freien Welt bestimmt, und sie machten oder zerstörten täglich und ohne eine Sekunde darüber nachzudenken die Karrieren von Dutzenden Strebern wie mir. Die meisten Chefs der Firma hatten Lebensläufe, so lang wie mein Arm, und genau dafür wurden sie von ihren Klienten bezahlt. Marcus' Background war allerdings ein Geheimnis. Soweit ich wusste, war ich der einzige Junior Associate, den er im Auge behielt. Das war entweder sehr gut oder sehr schlecht, und angesichts der Nachwuchskaliber, gegen die ich mich durchsetzen musste, tippte ich auf Letzteres.
Marcus war Ende vierzig, vielleicht etwas älter. Schwer zu sagen. Für mich sah er aus wie ein Triathlet oder, wegen seines Körperbaus, wie einer von Bürohengsten, die vier Abende pro Woche in der Boxhalle den Sandsack bearbeiten. Er hatte rotbraunes, kurz geschorenes Haar, ein kräftiges Kinn und eingefallene Backen. Er schien immer guter Laune zu sein, was den Einschüchterungsfaktor etwas abmilderte, allerdings nur so lange, bis man in seinem Büro allein vor ihm stand. Dann verschwanden das Lächeln und die umgängliche Art.
Er setzte mich auf mein erstes Angebot an. Ein riesiger multinationaler Konzern aus Deutschland hatte für sich ein Steuer- und Zollschlupfloch organisiert, das er dazu nutzte, amerikanische Unternehmen mit Dumpingpreisen zu unterbieten und vom Markt zu drängen. Wahrscheinlich ist es schlauer, den Namen des Konzerns nicht zu nennen, ich halte mich also an die Bezeichnung, unter der er im Büro lief: der Kaiser. Es handelte sich um einen der üblicherweise komplizierten internationalen Steuerfälle, der aber im Kern auf Folgendes hinauslief: Ausländische Firmen, die Dienstleistungen an Amerikaner verkaufen, zahlen deutlich weniger Steuern und Zoll als Firmen, die tatsächlich Waren in die USA liefern. Der Kaiser behauptete, dass er nur den Kontakt zwischen den amerikanischen Kunden und den ausländischen Verkäufern und Produzenten herstelle, also eine Dienstleistung anbiete und deshalb auch nur die geringere Steuer zu zahlen habe. Wir sind nur der Zwischenhändler, argumentierte der Kaiser, und zu keinem Zeitpunkt Eigentümer der Waren. Wenn man sich allerdings die Lieferkette anschaute, wurde deutlich, dass er genau wie jeder andere Waren verkaufte und einfach die höheren Steuern umging.
Noch wach? Bravo. Die Jungs, die aus dem Markt gedrängt wurden, hatten sich an die Davies Group gewandt. Sie wollten, dass wir das Schlupfloch schlossen und wieder für Chancengleichheit mit dem Kaiser sorgten. Das bedeutete, wir mussten in den Eingeweiden Washingtons einen Beamten dazu bringen, ein Stückchen Papier zu unterzeichnen, das feststellte, dass der Kaiser Waren verkaufte und keine Dienstleistungen.
Ein einziges kleines Wort. Und dafür bekam die Davies Group mindestens fünfzehn Millionen Dollar, was - so die Gerüchteküche der Junior Associates - das Minimum war, um die Aufmerksamkeit der Firma zu erregen.
Marcus legte mir den Fall dar, mit ein paar zusätzlichen, aber nicht allzu vielen Details: mein erstes Angebot. Er sagte mir nicht einmal, was ich ihm dafür liefern sollte - das »Produkt «, wie das im Büro genannt wurde. Jetzt stand offiziell mein Arsch auf dem Spiel, und ich hatte null Anhaltspunkt, was ich überhaupt tat.
Andererseits segelte ich schon seit zehn Jahren auf Blindkurs. Was überraschend gut geklappt hatte, sodass ich mir dachte, mach einfach das, was du immer gemacht hast: Gas geben. Hundertfünfzig Stunden Arbeit und zehn Tage später, nachdem ich mit jedem Experten gesprochen hatte, der willens gewesen war, meinen Hilferuf zu erhören, nachdem ich jede Rechtsverordnung und jeden Fachartikel gelesen hatte, die das Thema auch nur entfernt streiften, goss ich den Fall gegen den Kaiser in zehn Seiten, dann fünf, dann eine. Ich wühlte das Meer auf. Acht Stichpunkte. Jeder für sich durchschlagend und ausreichend, um den Kaiser zu erledigen. Ein Memo wie unverschnittenes Heroin. Ich war so stolz und litt so unter Schlafmangel, dass ich es Marcus in dem Glauben übergab, es würde ihn umhauen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich nickte Rado zu und setzte mich in Bewegung. Es war ein herrlicher Maimorgen in der Hauptstadt des Landes. Der Himmel leuchtete wie blaues Porzellan. Das Blut, das mein Hemd durchnässt hatte, begann zu trocknen. Der Stoff wurde steif und kratzig. Mein linker Fuß schleifte über den Asphalt. Mein Knie war auf die Größe eines Rugbyballes angeschwollen. Ich versuchte trotzdem mich darauf zu konzentrieren, um nicht an die Wunde in meiner Brust denken zu müssen. Hätte ich das getan - nicht so sehr wegen der Schmerzen, sondern weil sie so grausig war -, ich wäre ohnmächtig geworden. Da war ich mir sicher.
Das Bürogebäude sah so nobel aus wie immer: eine vierstöckige Villa im Federal Style, die zwischen Botschafts- und Gerichtsgebäuden verborgen in den parkähnlichen Wäldern von Kalorama lag. Es beherbergte die Davies Group, Washingtons angesehenstes Unternehmen für strategische Beratung und Regierungsangelegenheiten, bei dem ich - so meine Vermutung - eigentlich immer noch hätte angestellt sein müssen. Ich holte meine Schlüssel aus der Tasche und fuchtelte damit vor einer grauen Konsole neben dem Türschloss herum. Zutritt verweigert.
Aber Davies erwartete mich schon. Ich schaute hoch zur Überwachungskamera. Das Schloss summte.
Im Foyer begrüßte ich den Sicherheitschef. Mir fiel auf, dass er seine Baby Glock aus dem Halfter gezogen hatte und dicht neben den Oberschenkel hielt. Dann drehte ich mich zu Marcus um, meinen Boss, und sagte Hallo. Er stand auf der anderen Seite des Metalldetektors, winkte mich durch und filzte mich von Kopf bis Fuß. Er suchte nach Waffen und nach Wanzen. Mit diesen Händen, Mörderhänden, hatte Marcus sich eine ganz schön steile Karriere aufgebaut.
»Ausziehen«, sagte Marcus. Gehorsam zog ich Hemd und Hose aus. Sogar Marcus zuckte zusammen, als er auf meiner Brust die faltige Haut rund um die Heftklammern sah. Er warf noch einen kurzen Blick in meine Unterhose, dann schien er davon überzeugt zu sein, dass ich nicht verwanzt war. Ich zog mich wieder an.
»Der Umschlag«, sagte er und zeigte auf das braune Kuvert, das ich in der Hand hielt.
»Erst wenn der Deal unter Dach und Fach ist«, sagte ich. Da der Umschlag das Einzige war, was mich am Leben hielt, erschien es mir vernünftiger, ihn nicht aus der Hand zu geben. »Wenn ihr mich verschwinden lasst, macht das die Runde.«
Marcus nickte. Diese Art von Versicherung war übliche Praxis in der Branche. Das hatte er mir selbst beigebracht. Er führte mich nach oben zu Davies' Büro und bezog vor der Tür Position. Ich ging hinein.
Allein dieser Mann, der da am Fenster stand und hinunter auf Downtown Washington DC schaute, machte mir Sorgen. Er verkörperte die Option, die mir weit übler erschien, als von Rado zerstückelt zu werden - Henry Davies mit seinem Großvaterlächeln.
»Schön, Sie zu sehen, Mike. Ich bin froh, dass Sie sich entschlossen haben, zu uns zurückzukommen.«
Er wollte einen Deal. Er wollte wieder das Gefühl haben, dass er mich in der Hand hatte. Und genau das fürchtete ich mehr als alles andere - dass ich Ja sagen würde.
»Ich weiß nicht, wie die Sache so aus dem Ruder laufen konnte«, sagte er. »Das mit Ihrem Vater ... das tut mir leid.«
Tot. Seit gestern Abend. Marcus' Werk.
»Wir hatten nichts damit zu tun.«
Ich sagte nichts.
»Vielleicht fragen Sie besser bei Ihren serbischen Freunden nach. Wir können Sie schützen, Mike, und wir können die Menschen, die Sie lieben, schützen.« Er sagte, ich solle mich ans Kopfende des Konferenztisches setzen, und kam ein bisschen näher. »Nur ein Wort, und die ganze Sache ist vergessen. Kommen Sie zu uns zurück, Mike. Ein Wort reicht: Ja.«
Das war das Kranke an all seinen Spielchen, all der Quälerei. Letzten Endes war er tatsächlich der Überzeugung, dass er mir einen Gefallen tat. Er wollte mich zurückhaben, er betrachtete mich als seinen Sohn, als eine jüngere Version seiner selbst. Er musste mich korrumpieren, musste mich besitzen. Ansonsten wäre alles, woran er glaubte, seine ganze verkommene Welt, eine Lüge.
Mein Vater wählte den Tod, anstatt Davies' Spiel mitzuspielen. Lieber in Würde sterben als korrupt leben. Er hatte es geschafft. Glatt und sauber. Dieser Luxus wurde mir nicht zuteil. Meine Optionen waren nicht gut. Ich war hier, um dem Teufel die Hand zu schütteln.
Ich legte den Umschlag auf den Tisch. Darin vermutete Henry Davies das Einzige, wovor er Angst hatte: Beweise für einen fast vergessenen Mord. Sein einziger Fehler. Die einzige kleine Nachlässigkeit in seiner langen Laufbahn. Ein Stück von ihm selbst, das ihm vor über vierzig Jahren abhandengekommen war. Und das wollte er zurück.
»Das ist echtes Vertrauen, Mike. Wenn zwei Menschen die Geheimnisse des anderen kennen. Wenn sie sich gegenseitig in die Enge getrieben haben. Das Gleichgewicht des Schreckens. Alles andere ist sentimentaler Bockmist. Ich bin stolz auf Sie. Sie spielen das gleiche Spiel, das ich am Anfang auch gespielt habe.«
Henry hatte mir immer gesagt, dass jeder seinen Preis hat. Meinen hatte er herausgefunden. Wenn ich Ja sagte, dann hätte ich mein Leben wieder - das Haus, das Geld, die Freunde, die ehrbare Fassade, die ich immer hatte haben wollen. Wenn ich Nein sagte, dann wäre alles vorbei. Für mich, für Annie.
»Nennen Sie mir Ihren Preis, Mike. Ich bin einverstanden. Jeder, aus dem etwas geworden ist, hat auf seinem Weg nach oben so einen Deal gemacht. So läuft das Spiel. Also, was sagen Sie?«
Es war ein altbekanntes Geschäft. Tausche Seele gegen alle Königreiche und allen Ruhm der Welt. Sicher, man würde noch um Details feilschen. Billig würde ich mich nicht verkaufen, aber das wäre schnell geklärt.
»Ich gebe Ihnen die Beweise«, sagte ich und tippte mit dem Zeigefinger auf den Umschlag, »und garantiere, dass Sie sich darum nie wieder Sorgen zu machen brauchen. Dafür will ich, dass Rado verschwindet, dass die Polizei mich in Ruhe lässt, dass ich mein Leben zurückbekomme und dass ich gleichberechtigter Partner werde.«
»Von jetzt an gehören Sie mir«, sagte Henry. »Gleichberechtigter Partner, auch bei der Drecksarbeit. Wenn wir Rado gefunden haben, schneiden Sie ihm die Kehle durch.«
Ich nickte.
»Dann sind wir uns einig«, sagte Henry. Der Teufel streckte die Hand aus.
Ich schüttelte sie und übergab ihm, zusammen mit dem Umschlag, meine Seele.
Aber das war Bockmist, nur ein weiteres Spielchen. Mit weißer Weste sterben oder korrupt das Leben auskosten. Ich entschied mich gegen beides. Ich hatte nichts in der Hand und versuchte einen Handel mit dem Teufel. Ich hatte nur eine Chance: Ich musste ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen.
1
Ich war zu spät dran. Ich warf noch einen Blick in einen der riesigen vergoldeten Spiegel, die überall hingen. Unter den Augen hatte ich dunkle Ringe vom Schlafmangel und auf der Stirn eine frische Abschürfung. Ansonsten sah ich aus wie alle anderen aufstrebenden Ehrgeizlinge, die durch Langdell Hall hasteten. Das Seminar hieß Politische Strategie. Ich schlüpfte in den Raum. Sechzehn Plätze, Zulassung nur nach Anmeldung. Das Seminar stand im Ruf, ein Sprungbrett für zukünftige Führungspositionen in Finanzwirtschaft, Diplomatie, Militär und Regierung zu sein. Jedes Jahr bat Harvard ein paar Schwergewichte aus DC und New York, die bereits Karriere gemacht hatten, das Seminar abzuhalten. Der Kurs lockte im Wesentlichen diejenigen, die renommierten staatlichen Abschlüssen hinterherhechelten und an denen auf dem Campus kein Mangel herrschte. Sie waren darauf aus, mit ihrer kognitiven Kompetenz auf den Putz zu hauen, in der Hoffnung, dass ein hohes Tier aus einer Vorstandsetage sie herauspicken und ihnen die Türen zu einer schillernden Karriere öffnen würde. Ich schaute in die Runde: Überflieger aus den juristischen, wirtschaftswissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten, sogar ein paar auf Forschung spezialisierte Mediziner waren dabei. Ego strömte durch den Raum wie frisch gekühlte Luft.
Ich war im dritten Jahr an der juristischen Fakultät - ich absolvierte ein Doppelstudium in Jura und Politik - und hatte keine Ahnung, wie ich mich in die Harvard Law School oder in dieses Seminar hatte einschleichen können. Ich nahm es gelassen, schließlich war das ziemlich typisch für die letzten zehn Jahre meines Lebens. Vielleicht handelte es sich ja einfach um eine lange Serie von Tippfehlern. Normalerweise hielt ich es mit der Devise: je weniger Fragen, desto besser.
Sakko, Button-down-Hemd, Khakihose: Meistens schaffte ich es, glaubwürdig zu wirken, wenn auch auf eine etwas abgetragene und ausgefranste Art. Wir steckten mitten in der Diskussion. Das Thema war der Erste Weltkrieg. Professor Davies schaute uns erwartungsvoll an. Wie ein Inquisitor quetschte er die Antworten aus uns heraus.
»Also«, sagte er. »Gavrilo Princip tritt vor und zieht einem Zuschauer mit seiner kleinen Browning 1910 eins über. Dann schießt er zweimal: Die erste Kugel trifft die Frau des Erzherzogs Franz Ferdinand in den Unterleib, die zweite den Erzherzog selbst in die Halsvene. Und löst damit zufällig den Ersten Weltkrieg aus. Die Frage ist: Warum?«
Finster schaute er uns nacheinander an. »Sie sollen nicht wieder hochwürgen, was Sie mal gelesen haben. Sie sollen denken.«
Ich sah, dass die anderen sich wanden. Davies war eindeutig ein Schwergewicht. Die anderen Studenten im Kurs hatten seine Laufbahn mit eifersüchtiger Besessenheit studiert. Ich wusste weniger, aber es reichte. Er war ein alter Profi in Washington. Seit vierzig Jahren kannte er jeden, auf den es ankam, bis zwei Ebenen unterhalb der Leute, auf die es ankam, und - was am wichtigsten war - in welchen Kellern ihre Leichen lagen. Er hatte für Lyndon Johnson gearbeitet, dann die Seiten gewechselt und bei Nixon angeheuert und danach einen Laden aufgemacht, um auf eigene Rechnung die Strippen zu ziehen. Er betrieb jetzt eine Top-Firma für »strategische Beratung« namens Davies Group, bei der ich immer an die Kinks denken musste (was Ihnen einen kleinen Eindruck darüber vermittelt, wie gut ich für das mörderische Karrierekarussell in DC gerüstet war). Davies hatte Einfluss, und mit dem Profit, den er daraus schlug, konnte er sich alles leisten, was er wollte, einschließlich, wie mir einer der anderen Kursteilnehmer steckte, einer Villa in McLean, eines Landsitzes in der Toskana und einer Viertausend-Hektar-Ranch an der Central Coast von Kalifornien. Er leitete das Seminar jetzt seit ein paar Wochen. Meine Mitstudenten vibrierten förmlich vor Aufregung. Nie hatte ich erlebt, dass sie dermaßen scharf darauf waren, Eindruck zu machen. Was mich davon überzeugte, dass Davies in den verschiedenen Umlaufbahnen des offiziellen Washington eine sonnengleiche Anziehungskraft besaß.
Davies' übliche Lehrmethode war die, gelassen dazusitzen und gute Miene zu seiner Langeweile zu machen - als hörte er einer Horde Zweitklässler dabei zu, wie sie Belanglosigkeiten über Dinosaurier daherplapperte. Er war nicht sonderlich groß, vielleicht eins achtzig, aber irgendwie ... überragte er alles. Seine Anziehungskraft, nun ja, man konnte fast sehen, wie sie jeden Raum ausfüllte. Die Leute hörten auf zu reden, alle Blicke richteten sich auf ihn, und es dauerte nicht lange, da umgaben ihn alle wie Metallspäne einen Magneten.
Seine Stimme, die war ungewöhnlich. Man hätte ein Dröhnen erwartet, aber seine Stimme war immer weich. Unter dem rechten Ohr, am Ende des Kieferknochens, hatte er eine Narbe am Hals. Es wurde spekuliert, ob eine alte Verletzung etwas mit seiner leisen Stimme zu tun haben könnte, aber niemand wusste Genaueres. Was aber keine große Rolle spielte, denn in fast allen Räumen, in denen er den Mund aufmachte, wurde es sofort still. Seine Studenten bemühten sich allerdings verzweifelt, gehört und vom Meister wahrgenommen zu werden. Jeder hatte sich eine Antwort auf Davies' Frage zurechtgelegt. Das richtige Timing in einem Seminar ist eine Kunst: Wann lässt man die anderen plappern, wann schaltet man sich ein? Es ist wie beim Boxen oder ... vielleicht wie beim Fechten, Squash oder bei einer der anderen Freizeitvergnügungen dieser Ivy-League-Typen.
Der Bursche, der immer als Erster vorpreschte und nie etwas Substanzielles zu sagen hatte, ließ sich über die Mlada Bosna aus, bis ihm Davies' Blick Angst einjagte. Er fing an zu nuscheln. Die anderen rochen sofort Schwäche und fielen in beißwütigem Palaver übereinander her, wobei es um Großserbien gegen die Südslawen, Bosnisch gegen Bosniakisch, den Irredentismus der Serben und den Two-Power-Standard ging.
Ich staunte ehrfürchtig. Das lag nicht nur an den Fakten, die sie angehäuft hatten (einige von den Burschen schienen buchstäblich alles zu wissen; nie hatte ich es geschafft, einen auf dem falschen Fuß zu erwischen). Es lag an ihrem Auftreten. In jeder Bewegung konnte man ihren Status erkennen: als wären sie als Babys in den Arbeitszimmern ihrer Väter herumgekrabbelt, während die, Single Malts schwenkend, das Schicksal der Nationen debattierten; als hätten sie die letzten fünfundzwanzig Jahre ihre Zeit damit totgeschlagen, Diplomatiegeschichte zu büffeln, bis ihre Daddys genug davon haben, die Geschicke der Welt zu lenken, und sie ans Ruder lassen würden. Sie waren einfach so ... so gottverdammt ehrbar. Normalerweise beobachtete ich sie gern, liebte den kleinen Brückenkopf zu ihrer Welt, den ich mir hatte erobern können, liebte den Gedanken, dass ich es schließlich so weit bringen könnte, als einer von ihnen durchzugehen.
Aber nicht heute. Ich steckte in Schwierigkeiten. Ich konnte dem Hin und Her, den Argumenten und Gegenargumenten nicht folgen, ganz zu schweigen davon, dass ich sie ausstechen konnte. An meinen guten Tagen hatte ich eine Chance. Aber jedes Mal, wenn ich über die Mikropolitik auf dem Balkan von vor hundert Jahren nachzudenken versuchte, sah ich nur eine Zahl, die groß und rot und grell vor mir aufleuchtete. Das war das Einzige, was in meinem Notizbuch stand: $ 83 359, unterstrichen, mit einem Kreis drumherum, gefolgt von anderen Zahlen: 43 23 65.
Ich hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen. Nach der Arbeit - ich war Barkeeper in einem Schicki-Laden namens Barley - ging ich mit zu Kendra, die auch in der Bar arbeitete. Ich dachte, auf ihren Komm-fick-mich-Blick Taten folgen zu lassen würde mir besser bekommen als die neunzig Minuten, die ich vielleicht schlafen könnte, bevor ich wieder aufstehen musste, um zwölfhundert dicht bedruckte Seiten IB-Theorie zu lesen. Sie hatte schwarzes Haar, in dem man ertrinken konnte, und eine Figur, die zu lüsternen Gedanken einlud. Aber die entscheidende Verlockung war vielleicht die, dass kellnernde Mädchen, die Kendra hießen und dir im Bett nicht in die Augen schauten, das genaue Gegenteil von allem waren, was zu wollen ich mir einbildete.
Gegen sieben an jenem Morgen kam ich nach Hause. Ich wusste, dass irgendwas in der Luft lag, als ich auf dem Gehweg den vergammelten alten Fernsehsessel von meinem Vater und auf der Treppe ein paar von meinen T-Shirts liegen sah. Die Tür zu meiner Wohnung war aufgebrochen, und zwar nicht auf die saubere Art. Es sah aus, als hätte sich ein bösartiger Schwarzbär daran zu schaffen gemacht. Verluste: mein Bett und die meisten meiner Möbel, die Lampen und die kleinen Küchengeräte. Meine Sachen waren überall verstreut.
Die Leute durchforsteten meinen Krempel auf dem Gehweg, als handelte es sich um die Gratisreste am Ende eines Hofflohmarkts. Ich scheuchte sie weg und klaubte zusammen, was noch übrig war. Der Fernsehsessel war nicht in Gefahr. Er wog so viel wie ein Kombi, und es hätte ernsthafte Planung und zwei kräftige Burschen erfordert, um ihn wegzuschaffen.
Als ich die Wohnung aufräumte, fiel mir auf, dass den Jungs von Crenshaws Inkassobüro der Wert von Thukydides' Der Peloponnesische Krieg und des zehn Zentimeter dicken Lektürestapels, der in zwei Stunden Seminarthema sein würde, entgangen war. Auf dem Küchentisch hatten sie mir einen kleinen Liebesbrief hinterlassen: »Abtransportierte Möbel = Abschlagszahlung. Restbetrag: $ 83 359.« Rest? Pest! So weit kannte ich mich mit den Gesetzen schon aus, dass mir auf den ersten Blick siebzehn schwerwiegende Mängel an Crenshaws Methode der Schuldeintreibung auffielen. Aber Crenshaw war skrupellos wie eine Bettwanze, und ich hatte schon genug daran zu knabbern gehabt, meine Studiengebühren aufzutreiben, wie sollte ich da auch noch Crenshaw in die Pleite klagen. Aber der Tag würde kommen.
Mit den Eltern sterben eigentlich auch ihre Schulden, die aus dem Nachlass getilgt werden. Nicht so bei mir. Die dreiundachtzig Riesen waren der Restbetrag für die Magenkrebsbehandlung meiner Mutter. Sie war jetzt tot. Und wenn ich jemandem einen Rat geben dürfte, dann den: Wenn deine Mutter im Sterben liegt, bezahle niemals ihre Rechnungen von deinem eigenen Konto.
Weil nämlich irgendwelche widerwärtigen Gläubiger, Leute wie Crenshaw, das als Vorwand nehmen, dir nach ihrem Tod auf die Pelle zu rücken. Du hast die Schulden stillschweiged übernommen, werden sie sagen. Genau genommen ist das nicht legal. Aber das ist eben keine Sache, um die du dich groß kümmerst, wenn du sechzehn bist, die Rechnungen des Radiologen ins Haus flattern und du deine Mutter mit Überstunden bei Milwaukee Frozen Custard am Leben erhalten willst, während dein Vater vierundzwanzig Jahre im Allenwood Federal Correctional Complex absitzt.
Ich hatte zu oft solche Scheiße am Hals gehabt, als dass ich meine Zeit damit verschwendet hätte, mich darüber zu ärgern. Ich tat das, was ich immer tat. Je mehr Ärger aus der Vergangenheit mich nach unten ziehen wollte, desto mehr schuftete ich mir den Arsch ab, um den Kopf oben zu behalten. Das hieß, eine Mauer um das kleine Desaster hochzuziehen, das hieß, mich vor Kursbeginn durch so viel Arbeit wie möglich durchzuackern, damit ich in Davies' Seminar nicht dastand wie ein Volltrottel. Ich trug den Stapel Lektüre hinaus auf den Gehweg, stellte den Fernsehsessel auf, machte es mir bequem und vertiefte mich, während der Verkehr an mir vorbeirauschte, in irgendeinen Essay von Churchill.
Aber als ich schließlich in Harvard ankam, klappte ich zusammen. Die Post-Fick-Energie, die einen nach durchgemachter Nacht bis in den Morgen rettete, war genauso verpufft wie der Enthusiasmus-Kick, den mir der Gedanke verschafft hatte, Crenshaw mit einer Sammelklage an die Wand zu nageln. Um zum Seminarraum zu gelangen, musste ich meinen Studentenausweis am Eingang zur Langdell Hall durch einen Schlitz ziehen. Ich stellte mich hinter den anderen Studenten an, die ihre Karte durchzogen, die Drehsperre passierten und weiterhasteten. Aber bei mir leuchtete die LED- Anzeige rot auf, nicht grün. Die regungslose Metallschranke drückte mir gegen die Knie, während mein Oberkörper in einer dieser qualvoll langsamen Bewegungen weiter vornüberkippte. Man ist sich dessen vollkommen bewusst und kann doch nichts dagegen machen, bis Sekunden später, die einem wie zehn Minuten vorkommen, der Kopf auf die dünne Schicht Teppichboden über dem Zement knallt.
Die schnuckelige Studentin am Informationsschalter war so freundlich, mir mitzuteilen, dass ich doch mal in der Universitätsverwaltung nachfragen sollte, ob ich alle meine Gebühren bezahlt hätte. Dann sprühte sie sich ein Wölkchen Desinfektionsmittel in die Hände. Crenshaw musste sich hinter mein Bankkonto geklemmt und irgendetwas an der Überweisung meiner Studiengebühren gedreht haben. Harvard achtete genauso penibel auf Bezahlung wie Crenshaw. Ich ging zur Rückseite des Gebäudes und schlüpfte, als ein Angestellter der Poststelle auf eine Zigarette nach draußen ging, durch die Hintertür hinein.
Im Seminarraum war meine derangierte Verfassung offenbar nicht zu übersehen. Ich hatte den Eindruck, als schaute Davies mir mitten ins Gesicht. Dann spürte ich es kommen. Ich kämpfte mit jedem Muskel meines Körpers dagegen an, aber manchmal ist man einfach machtlos. Ich musste gähnen. Und wie. Ein Löwengähnen. Keine Chance, das hinter meiner Hand zu verbergen.
Davies fixierte mich mit einem in weiß Gott wie vielen Duellen geschärften Dolchblick - mit dem er früher Gewerkschaftsbosse und KGB-Agenten in die Knie gezwungen hatte.
»Langweilen wir Sie, Mister Ford?«, fragte er.
»Nein, Sir.« Ein grässlich schwereloses Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. »Entschuldigung.«
»Dann lassen Sie uns doch an Ihren Gedanken über das Attentat teilhaben.«
Die anderen versuchten ihr Entzücken zu verbergen: ein Ehrgeizling weniger, den sie hinter sich lassen mussten. Insbesondere folgende Gedanken lenkten mich ab: Crenshaw kann ich nicht abschütteln, bevor ich einen Abschluss und einen anständigen Job habe, und beides schaffe ich erst, wenn ich Crenshaw abgeschüttelt habe, was heißt, ich stehe mit dreiundachtzig Riesen bei Crenshaw und hundertsechzig Riesen bei Harvard in der Kreide, ohne jede Chance, jemals so viel zu verdienen. Alles, wofür ich mir in den letzten zehn Jahren den Arsch abgeschuftet habe, all die in diesem Raum versammelte Ehrbarkeit, war drauf und dran, mir endgültig zu entgleiten. Und die Wurzel all dessen? Mein Vater, der Knastbruder, der sich als Erster mit Crenshaw in die Haare gekriegt, der mich im Alter von zwölf Jahren als Herr des Hauses zurückgelassen hatte und der der Welt einen Dienst erweisen und statt meiner Mom den Löffel hätte abgeben sollen. Ich sah ihn vor mir, sah sein Feixen, und sosehr ich mich auch dagegen sträubte, ich konnte an nichts anderes denken als an ...
»Rache«, sagte ich.
Davies berührte mit dem Bügel seiner Brille die Lippen. Er wartete darauf, dass ich fortfuhr.
»Ich meine, Princip ist bettelarm, richtig? Sechs von seinen Geschwistern sind gestorben, und seine Eltern müssen ihn weggeben, weil sie nicht genug zu essen für ihn haben. Und er glaubt, der einzige Grund, warum er im Leben nicht vorwärtskommt, sind die Österreicher, die seine Familie drangsalieren, solange er denken kann. Er ist ein schmächtiges Bürschchen, und die Guerillas lachen ihn aus, als er bei ihnen mitmachen will. Er ist ein Niemand, der auf die Kacke hauen will. Die anderen Attentäter verlieren die Nerven, aber er ... er ist so angepisst wie keiner von den anderen. Er hat etwas zu beweisen. Dreiundzwanzig Jahre Verbitterung. Also tut er, was er tun muss, damit man ihn wahrnimmt, auch wenn er dafür jemanden töten muss. Besonders wenn er dafür jemanden töten muss. Je gefährlicher der Job, desto besser.«
Meine Kommilitonen schauten angewidert zur Seite. Ich machte im Seminar nicht oft den Mund auf, und wenn, dann bemühte ich mich, wie alle anderen ein geschliffenes, erlesenes Harvard-Englisch zu sprechen - nicht das des normalen Mike, das mir gerade herausgerutscht war. Ich wartete auf meine Hinrichtung. Ich hatte mich wie ein Straßenlümmel angehört, nicht wie ein junges vielversprechendes Mitglied des Establishments.
»Nicht übel«, sagte er. Er dachte kurz nach, dann schaute er sich im Raum um.
»Fabelhafte Strategie, Weltkrieg. Sie verstricken sich alle zu sehr in Abstraktionen. Sie dürfen nie die Tatsache aus den Augen verlieren, dass es am Ende immer um Menschen geht. Irgendwer muss abdrücken. Wenn man Nationen führen will, dann muss man zuerst den einzelnen Menschen verstehen, seine Wünsche und Ängste, die Geheimnisse, die er sich selbst nicht eingesteht, deren er sich vielleicht nicht einmal bewusst ist. Das sind die Hebel, die die Welt bewegen. Jeder Mensch hat einen Preis. Und wenn Sie den herausgefunden haben, dann haben Sie ihn in der Hand, mit Haut und Haaren.«
Nach der Stunde hatte ich es eilig. Ich wollte mich waschen und wieder um das Desaster in meiner Wohnung kümmern. Eine Hand auf der Schulter hielt mich zurück. Halb rechnete ich damit, dass Crenshaw hinter mir stehen und mich vor all den guten Menschen aus Harvard demütigen würde.
Vielleicht wäre das die wünschenswertere Alternative gewesen. Es war Davies mit seinem Dolchblick und seiner Flüsterstimme. »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte er. »Viertel vor elf, in meinem Büro?«
»Fantastisch«, erwiderte ich. Mehr brachte ich nicht zustande, um meine Gelassenheit zu demonstrieren.
Vielleicht hatte er sich den Anschiss für eine private Unterredung aufgehoben. Klasse.
Ich musste etwas essen und brauchte Schlaf, aber Kaffee würde es fürs Erste auch tun. Um in meine Wohnung zu gehen, reichte die Zeit nicht, also ging ich ohne groß nachzudenken rüber ins Barley, die Bar, wo ich arbeitete. Das Einzige, was mir im Kopf herumschwirrte, war diese eine Zahl: $ 83 359. Und die endlose, jämmerliche Rechnung, die ergab, dass ich die Summe nie würde abbezahlen können.
Die Bar war ein pompöser Kasten mit zu vielen Fenstern. Die einzig anwesende Person war Oz, der Manager, der für ein paar Schichten in der Woche den Barkeeper machte. Erst als ich an der Eichentheke lehnte und den ersten Schluck bitteren Kaffee trank, wurde es mir klar. Ich war gar nicht wegen des Koffeins gekommen. In meinem Kopf drehen sich die Zahlen: 46 79 35, 43 23 65 usw. Das waren Kombinationen für einen Sentry-Safe.
Oz, der Schwiegersohn des Besitzers, zweigte Kohle ab. Nicht nur hier und da, den üblichen »Schwund«, mit dem jeder Laden leben musste. Nein, er raubte den Laden aus. Ich hatte das Spiel schon eine Zeit lang beobachtet: Er schenkte Drinks aus, ohne zu bonieren. Er erließ seinen Stammgästen die Hälfte der Rechnung, tippte nichts in die Kasse ein und zweigte das Geld für sich ab. Jeden Abend so große Beträge aus der Kasse zu nehmen muss mit der Zeit ein bisschen schwierig geworden sein, weil er das ja tun musste, während wir darauf warteten, ausgezahlt zu werden. Ich war mir deshalb ziemlich sicher, todsicher, dass das Arschloch das Geld im Safe aufbewahrte. Ich wusste es einfach. Wahrscheinlich weil seine Tour im Grunde eine plumpe Version dessen war, was ich an seiner Stelle auch getan hätte, hätte ich meinen krummen Geschäften nicht schon vor langer Zeit abgeschworen gehabt. Der akademische Ausdruck dafür ist »wachsamer Opportunismus«. Er bedeutet, dass man die Welt mit den Augen eines Kriminellen anders sieht: nämlich lediglich als eine Ansammlung von unbeaufsichtigten Bonbongläsern. Ich fing an, mir Sorgen um mich zu machen, weil mir jetzt, da ich Geld brauchte, dringend Geld brauchte, all diese Dinge wieder ins Auge sprangen: nicht abgeschlossene Autos, angelehnte Türen, offene Geldbörsen, billige Schlösser, dunkle Hauseingänge.
Sosehr ich mich auch anstrengte, ich konnte meine Ausbildung, meine kriminellen Kenntnisse einfach nicht vergessen. Ich konnte all diese Einladungen auf Abwege einfach nicht ignorieren. Die Menschen scheinen zu glauben, dass Einbrecher Schlösser aufbrechen, durch Abflussrohre robben und Witwen bezirzen. Dabei müssen sie in der Regel nur die Augen offen halten. Das Geld liegt mehr oder weniger auf der Straße, weil ehrliche Menschen einfach nicht glauben können, dass Leute wie ich durch die Gegend laufen. Der versteckte Schlüssel, die unverschlossene Garage, der Hochzeitstag als PIN-Nummer. Man braucht nur zuzugreifen. Und das Lustige ist: Je rechtschaffener ich wurde, desto leichter war es, ein Gauner zu sein. Als würden meine Mitmenschen die Versuchungen ständig potenzieren, nur um immer wieder zu überprüfen, ob ich nach all den Jahren noch sauber war. Als harmlos aussehender Student in meinem Button-down- Hemd hätte ich wahrscheinlich mit einem Müllbeutel voller Hunderter und einem Revolver im Gürtel aus der Cambridge Savings and Trust marschieren können, und der Wachmann hätte mir die Tür aufgehalten und obendrein ein schönes Wochenende gewünscht.
Wachsamer Opportunismus. Deshalb bekam ich mit, dass Oz den Safe tagsüber auf »Stand-by« stehen hatte und nur die letzte Zahl eingeben musste, um ihn zu öffnen. Deshalb wusste ich, dass diese letzte Zahl fünfundsechzig war. Deshalb konnte ich mich daran erinnern, dass, selbst wenn Oz die Kombination geändert hatte, Sentry-Safes nur mit einer Handvoll voreingestellter Kombinationen ausgeliefert wurden, sogenannter Test-Codes, und wenn seiner auf fünfundsechzig endete, mit fast hundertprozentiger Sicherheit irgendjemand irgendwann einfach zu faul gewesen war, die ursprünglich vom Hersteller eingestellte Kombination 43-23-65 zu ändern. Deshalb war mir aufgefallen, dass Oz kaum in der Lage war, eine Summe im Kopf zusammenzuzählen, ganz zu schweigen davon, den Überblick über sein abgezocktes Geld zu behalten, und dass seine Sauferei immer schlimmer wurde: schon morgens um halb elf hatte er eine halbe Tasse mit einem doppelten Jameson und einem Schuss Kaffee intus. Und selbst wenn ihm auffallen würde, dass etwas fehlte, wem sollte er es erzählen? Es gibt keine Ganovenehre, richtig?
Oz zog die Geldschublade aus der Kasse an der Bar. Er trug sie in sein Büro. Ich hörte, wie der Safe geöffnet und geschlossen wurde. Er kam zurück und sagte: »Ich gehe eben Zigaretten holen. Pass mal kurz auf den Laden auf, okay?«
Die Gelegenheit klopfte an. Ich nickte.
Ich ging ins Büro und probierte den Griff am Safe. Er war offen. Jesus. Oz bettelte praktisch darum. Ich ging den Inhalt durch. Ich zählte etwa achtundvierzigtausend Dollar in gebündelten und vielleicht noch mal zehn Riesen in lose gestapelten Scheinen. Oz war mächtig im Rückstand mit seinen Bankeinzahlungen.
Es gab zwei Möglichkeiten: Ich konnte die goldene Gans Knochen für Knochen abknabbern und mir so Crenshaw lange genug vom Leib halten, bis ich meinen Abschluss hatte. Oder ich konnte vor Morgengrauen kommen, den Safe ganz ausräumen und auf einen Schlag klar Schiff machen. Der Hintereingang war gesichert wie Fort Knox, aber die Vordertür konnte man mit einem Stemmeisen in eineinhalb Minuten aufbrechen - typisch. Bei Spuren von gewaltsamem Eindringen zahlte die Versicherung. Niemand käme zu Schaden. Ich schaute in die obersten Schubladen des Schreibtischs, warf einen Blick auf die Pinnwand, und da stand sie auf einem Zettel, in Oz' Drittklässlerschrift: 43 23 65 - die Kombination. Er hatte darum gebettelt.
Ich musste diese Woche zumindest die Gebühren für Harvard zahlen. Sonst konnte ich meinen Abschluss vergessen. Die ganze Arbeit für die Katz. Das Blut pumpte durch meine Adern. Ich spürte das Prickeln im ganzen Körper. Es fühlte sich gut an. Wirklich gut. Es hatte mir gefehlt. Zehn Jahre war ich sauber gewesen, aufrecht, ehrgeizig, tatkräftig. Ich war nicht vom Weg abgekommen, hatte höchstens mal ein paar Schokokugeln aus dem Süßigkeitenregal mitgehen lassen.
Es fühlte sich gut an, vor dem offenen Safe zu stehen. Viel zu gut. Es lag mir im Blut. Ich wusste, wenn ich diesem Scheiß auch nur die kleinste Chance gab, dann würde er mich ruinieren - wie er meinen Vater, meine ganze Familie ruiniert hatte. Ich schaute an mir herunter. Ich sah das akkurat gebügelte Hemd, die Slipper und Thukydides, der vom Umschlag meines Buches zu mir hochschaute.
»Was soll das, du Penner?«, murmelte ich. Wen verarschte ich hier? Für einen Gauner war ich zu verdammt ehrbar. Und irgendwie doch zu sehr Gauner, um ehrbar zu sein. Ich trank den Kaffee aus und schaute in die leere Tasse. Um zu überleben, hatte ich mich vor langer Zeit für Ehrlichkeit entschieden, und das würde ich durchziehen, und wenn ich dabei draufginge.
Ich machte die Safetür zu.
Davies' Büro hatte ich mir wie aus einem Film über den Zweiten Weltkrieg vorgestellt: ein Kartenraum mit mannshohen Weltkugeln und er mittendrin, wie er mit einem Croupier- rechen Armeen herumschiebt. Stattdessen hatte Harvard ihn in ein fensterloses Büro in der Littauer Hall gesteckt, das mit billigen Möbeln in Kirschbaumfurnier ausgestattet war.
Als ich ihm gegenübersaß, überkam mich ein gruseliges Déjà-vu-Gefühl. Er schien zu wachsen, während er mich von oben bis unten musterte, und mir fiel wieder ein, wie ich mich gefühlt hatte, als ich vor langer Zeit in der Mitte eines Gerichtssaals gestanden und der Richter von oben auf mich herabgeschaut hatte.
»Ich muss in ein paar Minuten los, wenn ich den Shuttleflug nach DC noch erwischen will«, sagte Davies. »Aber ich wollte vorher noch mit Ihnen sprechen. Sie haben im Sommer ein Praktikum bei Damrosch und Cox gemacht, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Fangen Sie nach Ihrem Abschluss bei denen an?«
»Nein«, sagte ich.
Das ist ziemlich ungewöhnlich. Die wirklich harte Arbeit im Jurastudium fällt in den ersten eineinhalb Jahren an, in denen man nur ein Ziel hat: ein Sommerpraktikum in einer Kanzlei. Da wird man dann für null Arbeit fürstlich ausgeführt und königlich überbezahlt als Vorschuss für die sieben Jahre, in denen sie dir dann als Associate in den Arsch treten. Hat man erst mal das Sommerpraktikum ergattert, hat man den Job nach Abschluss des Studiums praktisch in der Tasche - außer, man hat sich wie ein Volltrottel angestellt. Damrosch und Cox hatten sich nicht mehr gemeldet.
»Warum nicht?«, fragte Davies.
»Schwierige Wirtschaftslage«, sagte ich. »Außerdem bin ich nicht der typische Bewerber.«
Davies nahm ein paar Blatt Papier in die Hand und überflog sie. Mein Lebenslauf. Hatte er sich wahrscheinlich im Studentenbüro besorgt.
»Ihr Chef bei Damrosch und Cox stellt Ihnen ein exzellentes Zeugnis aus. Sie seien eine Naturgewalt.«
»Das ist sehr nett von ihm.«
Davies faltete die Blätter zusammen und legte sie auf den Schreibtisch.
»Damrosch und Cox sind zwei scheißelitäre Nadelstreifen- Snobs«, sagte er.
Das war auch meine Theorie, warum sie mich nicht genommen hatten, aber ich brauchte eine Sekunde, bis ich verdaut hatte, das gleiche Urteil aus Davies' Mund zu hören. Seiner Firma eilte ein Ruf voraus, gegen den sich jeder scheißelitäre Nadelstreifen-Snob wie ein Hinterhofpenner ausnahm.
»Sie sind mit neunzehn zur Navy gegangen. Da haben sich die meisten Ihrer Seminarkumpel wahrscheinlich eine Auszeit nach der Schule gegönnt und auf einem Europatrip ihren Verstand versoffen. Höchster Unteroffiziersrang. Ein Jahr am Pensacola Junior College, dann zwei Jahre an der Florida State University. Zweimal Jahrgangsbester. Fast perfekter Zulassungstest fürs Jurastudium. Und jetzt Doppelstudium an der Harvard Kennedy School und Harvard Law School. Und ...« Er schaute auf ein anderes Blatt. »... Sie machen das Studium in drei statt in vier Jahren. Wie bezahlen Sie das?«
»Darlehen.«
»Etwa hundertfünfzigtausend Dollar?«
»Mehr oder weniger. Außerdem arbeite ich als Barkeeper.«
Davies schien die Ringe unter meinen Augen zu taxieren. »Wie viele Stunden pro Woche?«
»Vierzig, fünfzig.«
»Neben der Uni.« Er schüttelte den Kopf. »Bei der Frage vorhin, was Princip angetrieben hat, haben Sie ziemlich richtig gelegen. Deshalb meine Frage an Sie: Was hat Sie getrieben?«
Offenbar war das jetzt ein Bewerbungsgespräch. Ich dachte an die üblichen Plattitüden über mein Arbeitsethos, versuchte meinen inneren Ehrgeizling hervorzukramen, aber eigentlich wusste ich nicht recht, wie ich reagieren sollte. Davies machte es mir leicht.
»Und verschonen Sie mich mit dem üblichen Bockmist«, sagte er. »Nach dem, was Sie eben im Seminar gesagt haben, scheinen Sie tatsächlich was über das wirkliche Leben zu wissen, darüber, was die Menschen antreibt. Deshalb wollte ich Sie sprechen. Was treibt Sie an?«
Er würde es früher oder später sowieso herausfinden, also dachte ich mir, dass ich es auch gleich hinter mich bringen könnte. Aus meinen Akten war es gestrichen worden, aber ich wurde es doch nie ganz los. Irgendwie fanden es die Leute immer heraus, zum Beispiel die Partner von Damrosch und Cox. Sie hatten es wahrscheinlich gerochen.
»Als junger Bursche hatte ich ein paar Scherereien«, sagte ich. »Der Richter hat mir eine einfache Wahl gelassen: Knast oder Armee. Die Navy hat mich zurechtgestutzt, die Disziplin hat gewirkt. Ich mochte die Routine, den Antrieb. Das habe ich mit aufs College genommen.«
Er nahm die Papiere vom Schreibtisch, ließ sie in seine Aktentasche fallen und stand auf. »Gut«, sagte er. »Mir ist es lieber, wenn ich weiß, mit wem ich zusammenarbeite.«
Ich schaute ihn erstaunt an. Mit wem ich zusammenarbeite. Beim ersten Hinweis darauf, wer ich wirklich war, setzten mich die Leute normalerweise vor die Tür (»Schwierige Wirtschaftslage « oder »Leider nicht das, was wir gesucht haben«). Davies nicht.
»Sie werden für mich arbeiten«, sagte er. »Sie fangen mit zweihundert im Jahr an. Dreißig Prozent Leistungsprämie.«
»Ja.« Ich hörte meine Stimme, noch bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte.
In jener Nacht schlief ich in meiner leeren Wohnung auf einer pfeifenden Luftmatratze. Alle zwei Stunden musste ich aufstehen und sie wieder aufpumpen. Das Morgengrauen ließ auf sich warten, und ich weiß noch, was mir irgendwann aufging: Als Davies gesagt hatte, dass ich in DC arbeiten würde, war das eine Feststellung gewesen, keine Frage.
2
Ein Mahagonispind ist kein Sarg, aber nach vier Stunden Gefangenschaft fühlte er sich allmählich eindeutig wie einer an. Trotzdem fand ich keine Ruhe. Das mag damit zu tun haben, dass die meisten Menschen in ähnlicher Situation auf dem Rücken liegen und tot sind. Irgendwann fand ich heraus, dass ich meinen Kopf nach hinten lehnen und in eine Ecke klemmen und so ein bisschen dösen konnte. Die Geschichte, wie ich in der Kiste gelandet war, ist ein bisschen kompliziert. Die Kurzfassung ist, dass ich einem Mann namens Ray Gould nachstellte, weil ich verliebt war - im Besonderen in ein Mädchen namens Annie Clark, im Allgemeinen in meinen neuen Job. Ich arbeitete seit knapp vier Monaten für die Davies Group. Die Firma war ein merkwürdiges, mit Absicht undurchsichtiges Gebilde. Wenn man nachfragte, erzählten sie einem etwas von Regierungsangelegenheiten und strategischer Beratung. Was gewöhnlich ein Euphemismus für Lobbyarbeit war. Wenn man sich einen Lobbyisten vorstellt, sieht man wahrscheinlich den zu diesem Zweck eingekauften und bezahlten, Slipper mit Quaste tragenden Dreckskerl vor sich, der Bestechungsgelder von Firmen und Interessengruppen an Politiker weiterleitet, für sich selbst einen großzügigen Batzen abzweigt und so letztendlich dafür sorgt, dass der Welt Lungenkrebs und vergiftete Flüsse erhalten bleiben. Solche Figuren gibt es jede Menge. Das Powerplay der Sechziger und Siebziger, als Geld und Nutten in Blüte standen, war allerdings lange vorbei. Heute bringen Lobbyisten ihre Tage damit zu, sich durch Powerpoint-Präsentationen über obskure Strategien zu klicken, während der gelangweilte Mitarbeiternach- wuchs der Kongressabgeordneten unter dem Tisch auf dem Blackberry surft.
Diese Typen sind der Pöbel. Sie mit den Leuten bei der Davies Group zu vergleichen hieße, Modeklunker mit Tiffany und Cartier zu vergleichen. Davies gehört zu einer Handvoll Unternehmen, die nur sehr wenig offizielle Lobbyarbeit machen. Sie werden von Schwergewichten aus Washington geleitet - ehemaligen Präsidenten des Repräsentantenhauses, ehemaligen Außenministern, ehemaligen Nationalen Sicherheitsberatern - und üben über DCs informelle Informationskanäle eine weitaus mächtigere und lukrativere Spielart von Einfluss aus. Sie sind nicht als Lobbyisten registriert. Sie setzen nicht auf Masse. Sie machen keine Werbung. Sie haben Beziehungen. Sie sind diskret. Und sie sind sehr, sehr teuer. Wenn man wirklich etwas erledigt haben will in Washington und das nötige Geld hat und die Leute kennt, die man kennen muss, um auch nur eine Empfehlung für eine dieser Topfirmen zu bekommen, dann wendet man sich an die.
Und die Davies Group bildet den Gipfel dieser intimen kleinen Welt. Versteckt zwischen Bäumen und alten europäischen Botschaften, residiert sie in einer Villa in Kalorama, weit entfernt von der K Street in der Innenstadt, wo die meisten Lobbyisten miteinander kabbeln.
Während meiner ersten Tage in DC begann ich zu begreifen, dass die Davies Group sich nicht so sehr als Unternehmen, sondern als Geheimgesellschaft oder Schattenregierung verstand. Leute, die ich früher auf der Titelseite der Washington Post oder sogar in Geschichtsbüchern gesehen hatte, schlenderten durch die Gänge oder fluchten über den Papierstau in einem Drucker.
Wie alle anderen Chefs tat Davies im Wesentlichen das, was er schon in seinen Regierungsfunktionen getan hatte. Er dirigierte das in Dekaden gereifte Expertenwissen der Bürokratie: Er wusste genau, an welcher Strippe er zu ziehen, welchen Funktionsträger er unter Druck zu setzen hatte. Wie er diesen trägen und plumpen, diesen allmächtigen und doch kaum funktionsfähigen Apparat - die Bundesregierung der Vereinigten Staaten - zum Leben erweckte und seine Marotten in Realitäten verwandelte, kam einem Wunder gleich.
Früher hatte er sich vor Wählern, Spendern und politischen Parteien rechtfertigen müssen. Heute rechtfertigte er sich nur vor sich selbst. Er erhielt mehr Anfragen, als er jemals annehmen konnte, und so leistete er sich den Luxus, nur die Klienten anzunehmen, deren Fälle mit seinen eigenen Interessen übereinstimmten.
Natürlich wurde nichts von alldem offen ausgesprochen. Man musste sich die täglichen Abläufe und die Rituale aneignen, indem man die Augen offen hielt und die richtigen Fragen stellte. Die Davies Group war alte Schule. Die meisten Firmen bewahren sich noch eine dünne Gentleman-Patina - die Anzüge, die Bibliothek, den gepflegten Parkettboden. Aber jede Noblesse ist von diesen Zahlenjongleuren schon längst ausgemerzt worden. Jeder bemisst sein Leben in den Zeilen und Spalten einer Tabellenkalkulation: in abgerechneten Stunden. Man muss seine Zahlen erreichen. Man steckt vom ersten Tag an im Hamsterrad. Bei Davies war das anders. Es gab keine Leitlinien, keine Quoten oder Vorgaben. Die Firma hatte in diesem Jahr nur etwa ein halbes Dutzend neuer Leute eingestellt. In manchen Jahren stellte sie gar keine ein.
Jeder von uns neu Aufgenommenen erhielt ein Büro, eine Sekretärin und alle zwei Wochen einen Lohnscheck über viertausendsechshundert Dollar. Alles andere war unsere Sache. Man musste die Arbeit finden. Die Chefs und Partner belegten den zweiten Stock, der mir vorkam wie ein Flügel in Versailles. Die Senior Associates saßen im ersten Stock. Wir waren die Junior Associates, die Frischlinge, die man zu der Verwaltung, der Personalabteilung und den Rechercheangestellten ins Erdgeschoss steckte. Als Junior Associate arbeitete man im Grunde auf Probe. Man hatte sechs Monate, vielleicht ein Jahr, um seinen Wert für die Firma unter Beweis zu stellen, oder man war wieder draußen. Niemand zeigte einem, wie man das anstellte. Man musste durch die Büros jedes einzelnen Senior Associate hecheln, um die Spielregeln zu lernen, durfte dabei aber nie aufdringlich wirken. Bei der Davies Group lauteten die Kardinaltugenden Takt und Diskretion.
Am Anfang bettelte man um jedes noch so kleine Projekt. Normalerweise bekam man dann den Auftrag, Nachforschungen über ein Objekt anzustellen - Entschuldigung, das ist Old-Mike-Jargon -, über einen »Entscheidungsträger«, den die Firma zu beeinflussen versuchte. Das bedeutete, alles irgend Mögliche, Öffentliches wie Privates, über das Objekt herauszufinden und die Ergebnisse ausschließlich auf das einzudampfen, was für den anhängigen Fall von Bedeutung war - und sonst nichts. Das fand Eingang in ein Memo, Maximum eine Seite. Das nannten sie »das Meer aufwühlen«. Aber was war von Bedeutung? Wir Junior Associates hatten keine Ahnung, aber wir waren verdammt gut beraten, es herauszufinden.
Das war das Schlimmste. Die Partner und Senior Associates wussten, dass wir nach einem wohlwollenden Tätscheln lechzten und nur noch härter arbeiten würden, wenn sie uns zappeln ließen. Also sagten sie uns nie genau, ob wir nun richtig- oder falschlagen. Sie berührten nur mit zusammengelegten Fingerspitzen ihre Lippen und sagten: »Wie wär's, wenn Sie es noch mal versuchen würden?« Und dann schoben sie einem das Ergebnis endloser Nächte und Wochenenden im Büro über den Schreibtisch und verlangten nach mehr. Wenn man Glück hatte, erntete man die seltenste aller Belobigungen, ein »nicht übel« - bei der Davies Group das Äquivalent eines hechelnden Orgasmus. Und wenn man die falschen Salzkörner aus dem Meer schöpfte? Dann war man draußen. Schwimmen oder absaufen.
Ich würde schwimmen. In der Navy hatten sie mich anfangs ziemlich übel schikaniert, und wenn das das Schlimmste war, was sie hier für mich in petto hatten, nämlich vor einem Computer zu sitzen, dann würde ich es schaffen. Wenn ich wach war (was ich achtzehn, neunzehn Stunden am Tag war), dann arbeitete ich.
Das Geld reichte aus, um mir Harvard und Crenshaw vom Leib zu halten, und obwohl ich zwanzig Prozent sparte (ich war immer noch davon überzeugt, dass man mir den Teppich unter den Füßen jeden Augenblick wieder wegziehen würde), hatte ich mehr übrig, als ich ausgeben konnte. Ich musste mich erst daran gewöhnen, ohne Gutscheine zum Essen zu gehen und in einer anständigen Wohnung zu leben, in die ich Leute einladen konnte, ohne rot zu werden.
Geld war nicht der einzige Vorteil. In meiner kurzen Zeit bei Davies kam ich in den Genuss von Vergünstigungen, von deren Existenz ich vorher keine Ahnung gehabt hatte, Dinge, von denen ich nicht mal gewusst hätte, dass ich sie mir wünschen könnte. Sie schickten Möbelpacker nach Cambridge, um meine alte Wohnung aufzulösen. Junge Burschen, die so höflich waren, nicht über meine heruntergekommene Bude zu lachen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie mich davon überzeugt hatten, dass sie auch ohne meine Hilfe zurechtkämen. Ich bräuchte nur eine Tasche für mich zu packen und meinen fünfzehn Jahre alten Jeep Cherokee runter nach DC zu fahren. Die Stoßdämpfer waren hinüber, sodass der Wagen jedes Mal, wenn ich schneller als neunzig fuhr, auf den Blattfedern hin und her schlingerte wie eine Schaukel. Davies hatte mich in eine Firmenwohnung an der Connecticut Avenue einquartiert: achtzig Quadratmeter, zwei Zimmer plus Arbeitszimmer und Balkon, mit Pförtner und Concierge.
»Lassen Sie sich bei der Wohnungssuche so viel Zeit, wie Sie wollen«, sagte Davies am ersten Tag. »Wir können den Kontakt zu einem Immoblienmakler herstellen, aber wenn Sie sich lieber auf Ihre Arbeit konzentrieren wollen, als Häuser zu besichtigen, so soll uns das recht sein.«
Selbst wenn ich nicht versucht hätte zu sparen, es gab gar nichts, was ich mir hätte kaufen können. Die Firma hatte einen Fahrzeugpool, und an den meisten Tagen ließen wir uns Frühstück, Lunch und Abendessen ins Büro bringen.
In der ersten Woche lernte ich meine Sekretärin Christina kennen, eine zierliche Ungarin. Sie war so winzig, akkurat und effizient, dass ich nur mäßig überrascht gewesen wäre, wenn sie sich als Roboter entpuppt hätte. Ständig ertappte sie mich: zum Beispiel wenn ich sie fragte, wo die Poststelle ist oder eine chemische Reinigung. Sie streckte dann nur die Hand aus und schaute mich etwas pikiert an, weil ich überhaupt versucht hatte, irgendetwas von diesen Dingen selbst zu tun, und übernahm dann alles, was ich erledigt haben wollte.
»Tut mir leid, Mr. Ford, aber ich muss darauf bestehen. Das hat nichts mit Luxus zu tun. Davies möchte nur sicherstellen, dass Sie Ihre Arbeit tun und Ihr Geld wert sind.«
Das machte es etwas einfacher. Die fünfzig ärgerlichen Dinge, die bei einem Umzug anfielen, das Schlangestehen bei der Zulassungsstelle oder das Warten auf die Techniker vom Kabelfernsehen, es geschah einfach. Und es blieb so, all die kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens existierten nicht mehr. Da begann ich zu begreifen. Ich hatte immer Geld zum Überleben gebraucht, für das Nötigste, das Monat für Monat bezahlt werden musste. Ich hörte eigentlich nie auf, darüber nachzudenken, was sie eigentlich bewirkten, diese zahllosen Vergünstigungen, die die Menschen mit dem Wort »angenehm « umschreiben.
Ich fühlte mich ein bisschen unwohl dabei, ich hatte sogar das Gefühl, sie würden mich verweichlichen. Ich sah mich gern als einen hungrigen, ehrgeizigen Menschen. Und wenn man jeden Tag zwölf Gesprächsprotokolle und vierzehnhundert Seiten Akten durchackern muss, pro Woche zwei alles entscheidende Berichte abzuliefern hat und jeden Augenblick einer der Partner auf eine »kleine Kontrollvisite« hereinschneien kann, die deine letzte sein konnte, dann hat man nicht wirklich Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob man verweichlicht. Man begreift, dass Christina recht hat: Mit Phat Thai, das man sich in den Konferenzraum liefern lässt, und einer Luxuslimousine, die einen nach Hause chauffiert, zahlt Davies einen niedrigen Preis dafür, dass seine Angestellten immer auf Trab sind und er für siebzig Stunden die Woche zwei- bis dreihundert Dollar pro Stunde für sie in Rechnung stellen kann.
Ich brauchte das Geld und mochte die Vergünstigungen, aber beides war nicht der Grund, warum ich mich jeden Morgen um Viertel vor sechs aus dem Bett quälte. Es waren die glänzenden Schuhe und frischen Hemden. Es war das Abhaken von acht Aufgaben noch vor neun Uhr. Es war das Klackern meiner Johnson-&-Murphy-Schuhe, das von den eichenvertäfelten Wänden widerhallte, wenn ich über den Marmorboden des Foyers der Davies Group ging. Es war der Anblick von klugen Männern, die wichtige Arbeit leisteten, der Anblick von Henry Davies und einem ehemaligen CIA- Direktor, die im Innenhof lachten wie alte Zimmergenossen, es war die Erkenntnis, dass ich, wenn ich mir weiter den Arsch aufriss, vielleicht eines Tages einer von ihnen sein könnte. Es war das Gleiche, das mich angetrieben hatte, seit mir ein Richter die Wahl gelassen hatte: das Bedürfnis etwas zu finden, was größer war als ich, etwas, von dem ich ein Teil sein konnte, eine Arbeit, in der ich mich verlieren konnte, irgendetwas, was den Kriminellen in meinem Blut auf Abstand hielt.
Ich würde alles tun, um es bei Davies zu schaffen und nicht wieder aus der ehrbaren Welt herauszufallen. Und das war der Grund, warum ich in dem verschlossenen Mahagonispind gelandet war.
Diese ersten Monate kamen mir vor, als durchliefe ich das Aufnahmeritual einer Studentenverbindung. Niemand verlor ein Wort darüber, worin es bestand, aber man war sich bewusst, dass jeder deiner Schritte genauestens beobachtet wurde. Gelegentlich verschwand jemand, und es beschlich einen das Gefühl, als sei am Abend zuvor in einem exklusiven Raum der Davies Group insgeheim abgestimmt und ein schwarzes Häkchen hinter dem Namen des Untauglichen gemacht worden.
Zumindest war das Dauerthema unter den Junior Associates. Ich hielt das für ein bisschen übertrieben. Allerdings war ich davon überzeugt, dass der erste richtige Auftrag darüber entschied, ob man blieb oder flog. Wenn man im Geschäft »Regierungsangelegenheiten« aus einem Politiker oder Beamten herauskitzeln will, was der Klient verlangt, kommt irgendwann der Augenblick, der »das Angebot« genannt wird. Der Fall mag noch so kompliziert sein, letztlich läuft es auf die eine Frage hinaus: Liefert er, was du von ihm willst? Ja oder nein.
Das tatsächliche Angebot macht ein Partner. Er ist das illustre Gesicht der Firma. Die eigentliche Arbeit jedoch erledigt ausschließlich der Associate. Wenn du deinen ersten Fall übertragen bekommst, gehört er ganz allein dir. Wenn das Objekt Ja sagt, bist du der Champ. Lautet die Antwort Nein, bist du draußen.
Meinen ersten Fall erhielt ich von William Marcus. Sein Büro befand sich im zweiten Stock neben dem von Davies. Das war der Vorstandsflur. Die eine Seite nahm ein eichengetäfelter Sitzungssaal ein. Auf der anderen Seite befanden sich sechs oder sieben Suiten, von denen jede so groß wie meine Wohnung war. Von ihren Hochsitzen in den Hügeln von Kalorama aus konnten sie alle auf DC hinunterschauen. Wenn ich durch diesen Korridor ging, stellten sich mir die Haare auf. Ich schaltete in Exerziermodus, Augen geradeaus, Körper in Habachtstellung und in Dreiviertelmeterschritten im Gleichschritt, marsch.
Die Männer in diesem Flur hatten buchstäblich die Geschicke der freien Welt bestimmt, und sie machten oder zerstörten täglich und ohne eine Sekunde darüber nachzudenken die Karrieren von Dutzenden Strebern wie mir. Die meisten Chefs der Firma hatten Lebensläufe, so lang wie mein Arm, und genau dafür wurden sie von ihren Klienten bezahlt. Marcus' Background war allerdings ein Geheimnis. Soweit ich wusste, war ich der einzige Junior Associate, den er im Auge behielt. Das war entweder sehr gut oder sehr schlecht, und angesichts der Nachwuchskaliber, gegen die ich mich durchsetzen musste, tippte ich auf Letzteres.
Marcus war Ende vierzig, vielleicht etwas älter. Schwer zu sagen. Für mich sah er aus wie ein Triathlet oder, wegen seines Körperbaus, wie einer von Bürohengsten, die vier Abende pro Woche in der Boxhalle den Sandsack bearbeiten. Er hatte rotbraunes, kurz geschorenes Haar, ein kräftiges Kinn und eingefallene Backen. Er schien immer guter Laune zu sein, was den Einschüchterungsfaktor etwas abmilderte, allerdings nur so lange, bis man in seinem Büro allein vor ihm stand. Dann verschwanden das Lächeln und die umgängliche Art.
Er setzte mich auf mein erstes Angebot an. Ein riesiger multinationaler Konzern aus Deutschland hatte für sich ein Steuer- und Zollschlupfloch organisiert, das er dazu nutzte, amerikanische Unternehmen mit Dumpingpreisen zu unterbieten und vom Markt zu drängen. Wahrscheinlich ist es schlauer, den Namen des Konzerns nicht zu nennen, ich halte mich also an die Bezeichnung, unter der er im Büro lief: der Kaiser. Es handelte sich um einen der üblicherweise komplizierten internationalen Steuerfälle, der aber im Kern auf Folgendes hinauslief: Ausländische Firmen, die Dienstleistungen an Amerikaner verkaufen, zahlen deutlich weniger Steuern und Zoll als Firmen, die tatsächlich Waren in die USA liefern. Der Kaiser behauptete, dass er nur den Kontakt zwischen den amerikanischen Kunden und den ausländischen Verkäufern und Produzenten herstelle, also eine Dienstleistung anbiete und deshalb auch nur die geringere Steuer zu zahlen habe. Wir sind nur der Zwischenhändler, argumentierte der Kaiser, und zu keinem Zeitpunkt Eigentümer der Waren. Wenn man sich allerdings die Lieferkette anschaute, wurde deutlich, dass er genau wie jeder andere Waren verkaufte und einfach die höheren Steuern umging.
Noch wach? Bravo. Die Jungs, die aus dem Markt gedrängt wurden, hatten sich an die Davies Group gewandt. Sie wollten, dass wir das Schlupfloch schlossen und wieder für Chancengleichheit mit dem Kaiser sorgten. Das bedeutete, wir mussten in den Eingeweiden Washingtons einen Beamten dazu bringen, ein Stückchen Papier zu unterzeichnen, das feststellte, dass der Kaiser Waren verkaufte und keine Dienstleistungen.
Ein einziges kleines Wort. Und dafür bekam die Davies Group mindestens fünfzehn Millionen Dollar, was - so die Gerüchteküche der Junior Associates - das Minimum war, um die Aufmerksamkeit der Firma zu erregen.
Marcus legte mir den Fall dar, mit ein paar zusätzlichen, aber nicht allzu vielen Details: mein erstes Angebot. Er sagte mir nicht einmal, was ich ihm dafür liefern sollte - das »Produkt «, wie das im Büro genannt wurde. Jetzt stand offiziell mein Arsch auf dem Spiel, und ich hatte null Anhaltspunkt, was ich überhaupt tat.
Andererseits segelte ich schon seit zehn Jahren auf Blindkurs. Was überraschend gut geklappt hatte, sodass ich mir dachte, mach einfach das, was du immer gemacht hast: Gas geben. Hundertfünfzig Stunden Arbeit und zehn Tage später, nachdem ich mit jedem Experten gesprochen hatte, der willens gewesen war, meinen Hilferuf zu erhören, nachdem ich jede Rechtsverordnung und jeden Fachartikel gelesen hatte, die das Thema auch nur entfernt streiften, goss ich den Fall gegen den Kaiser in zehn Seiten, dann fünf, dann eine. Ich wühlte das Meer auf. Acht Stichpunkte. Jeder für sich durchschlagend und ausreichend, um den Kaiser zu erledigen. Ein Memo wie unverschnittenes Heroin. Ich war so stolz und litt so unter Schlafmangel, dass ich es Marcus in dem Glauben übergab, es würde ihn umhauen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Matthew Quirk
Matthew Quirk ist in New Jersey aufgewachsen und hat Geschichte und Literatur in Harvard studiert. Anschließend arbeitete er jahrelang als investigativer Journalist für "The Atlantic" und berichtete über organisiertes Verbrechen und Terrorbekämpfung. "Die 500" ist sein erster Roman. Die Filmrechte hat sich 20th Century Fox bereits gesichert. Quirk lebt in Washington D.C.Bibliographische Angaben
- Autor: Matthew Quirk
- 2012, 1, 415 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Müller, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Müller
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896674722
- ISBN-13: 9783896674722
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