Die Anatomiestunde
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Die Anatomiestunde von Philip Roth
LESEPROBE
Dahin
Zuckermanhatte sein Thema verloren. Seine Gesundheit, seine Haare und sein Thema. Daßes keine Körperhaltung gab, in der er jetzt noch schreiben konnte, spieltekeine Rolle mehr. Alles, was ihn zu seinen Romanen angeregt hatte, war dahin -sein Geburtsort war nur noch die ausgebrannte Szenerie eines Rassenkampfes, unddie Menschen, die für ihn überlebensgroß gewesen waren, lebten nicht mehr. Dergroße Existenzkampf der Juden wurde jetzt mit den arabischen Staaten ausgefochten.Hier war er vorbei: Drüben am New Jersey-Ufer des Hudson - auf Zuckermans WestBank - hatte sich ein anderer Volksstamm angesiedelt. Für Zuckerman würde eskein neues Newark mehr geben - keines das so wie das erste war; keine Väter wiejene von Pioniergeist und Tabus strotzenden jüdischen Väter, keine Söhne wieihre immer wieder in Versuchung geratenden Söhne, keine Loyalitätsprobleme,keine Ambitionen, keine Rebellionen, keine Kapitulationen, keine so heftigenKonflikte wie damals. Nie wieder würde er so zärtliche Gefühle hegen, niewieder so erpicht darauf sein, auszubrechen. Ohne Vater, ohne Mutter und ohneHeimstatt war er kein Romancier mehr. Kein Sohn mehr, kein Schriftstellermehr. Alles, was ihn angefeuert hatte, war ausgelöscht, nichts war übriggeblieben,was unverkennbar ihm gehörte und vonkeinem anderen beansprucht, exploitiert, vergrößert und rekonstruiert werdenkonnte.
Das waren die Gedanken, die ihn quälten, wenn er beschäftigungslos auf der Spielmattelag.
Den Vorwurf seines Bruders, daß die tödliche Koronarthromboseihres Vaters durch Carnovsky ausgelöst worden sei,hatte er nicht so einfach vergessen können. Erinnerungen an die letztenLebensjahre seines Vaters, an die Spannungen zwischen ihnen beiden, an die Verbitterung unddie bestürzende Entfremdung nagten an ihm ebenso wie die dubioseBeschuldigung, die sein Bruder gegen ihn erhoben und der Fluch, den der Vater mit dem letztenAtemzug gegen ihn ausgestoßen hatte. Und ebenso der Gedanke, alles, was ergeschrieben hatte, nur deshalb geschrieben zu haben, weil er Anstoß erregen wollte;und daß das, was in seinem Werk zum Ausdruck kam, nicht viel mehr war als trotziges Aufbegehrengegen einen ehrenwerten Fußpfleger. Er hatte seitdem Tag, an dem sein Vater ihn zum letzten Mal im Leben geschmäht hatte, keineeinzige Seite geschrieben, die etwastaugte, und war schon halbwegs überzeugt, daß er ohne die strapazierten Nervenund die strengen Grundsätze und dieEngstirnigkeit seines Vaters niemals Schriftstellergeworden wäre. Ein Vater, Amerikaner in erster Generation, besessen vonden jüdischen Dämonen, und ein Sohn,Amerikaner in zweiter Generation, besessenvon der Austreibung dieser Dämonen - daswar sein einziges Thema.
Seine Mutter, eine ruhige, schlichte Frau, hatte er, so pflichtbewußtund friedfertig sie auch war, immer für ein wenig leichtherziger undemanzipierter gehalten als seinen Vater. Historische Übelstände zu beheben,unerträgliche Irrtümer zu berichtigen, den tragischen Verlauf der jüdischenGeschichte zu ändern - all dies während des Abendessens zu vollbringen,überließ sie liebend gern ihrem Mann.Er machte den Krach und hatte das Sagen,sie begnügte sich damit, das Essen zu kochen, die Kinder zu füttern und (solange es ging) das harmonische Familienleben zu genießen. Einjahr nachdem Tod ihres Mannes begann sie an einem Gehirntumor zu leiden. Schon seitMonaten hatte sie über Schwindelanfälle, Kopfwehund Gedächtnislücken geklagt. Bei ihrem ersten Krankenhausaufenthalt hatten die Ärzte einen leichtenSchlaganfall diagnostiziert - miternsten Folgen sei nicht zu rechnen. Als sie vier Monate später wiedereingeliefert wurde, konnte sie sich, alsder behandelnde Neurologe ins Zimmer kam, zwar noch an ihn erinnern, doch als er sie bat, ihren Vornamen aufzuschreiben,nahm sie ihm den Bleistift aus der Hand und schrieb statt »Selma« das Wort »Holocaust«. Ohne einen orthographischen Fehler zu machen. Das war 1970 in Miami Beach, und die Frau,, die dieses Wortschrieb, hatte vorher nur Kochrezeptefür ihre Kartei, etliche tausend Danke-schön-Briefchen und Strickanleitungen für ihre umfangreiche Sammlung geschrieben. Zuckermanwar sich ziemlich sicher, daß sie vor jenem Morgen das Wort Holocaustnoch nicht einmal ausgesprochenhatte. Ihre Aufgabe war nicht gewesen, über Greueltaten nachzugrübeln,sondern abends fleißig zu stricken und darüber nachzudenken, was am nächsten Tag alles im Haushalt getan werden mußte. Jetztaber hatte sie einen Tumor, der sogroß wie eine Zitrone war undanscheinend alles außer diesem einen Wort aus ihrem Gehirn verdrängt hatte. Nur dieses Wort konnte er nicht verjagen. Es mußte schon die ganzeZeit dagewesen sein, ohne daß jemand es geahnt hatte.
© 1986 by Carl Hanser Verlag, München Wien
Übersetzung: Gertrud Baruch
- Autor: Philip Roth
- 2004, Neuausgabe, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gertrud Baruch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499236656
- ISBN-13: 9783499236655
- Erscheinungsdatum: 21.07.2004
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