Die Braut aus Odessa
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Die Brautaus Odessa von EdgardoCozarinsky
LESEPROBE
An einem Frühlingsnachmittag im Jahre 1890 beobachtete einjunger Mann vom Primorsky Boulevard aus die Bewegung der Schiffe im Hafen vonOdessa. In seinem sonntäglichen Gewand hob er sich von der Alltagslässigkeitoder dem exotischen Aussehen der Passanten ab. Der junge Mann war für eingroßes Abenteuer gekleidet: die Lackschuhe hatte ihm seine Mutter geschenkt,den Maßanzug sein Onkel, von Beruf Schneider, er hatte ihn erst am Tag vorseiner Abreise fertiggestellt; und schließlich der Hut, den sein Vaterzweiundzwanzig Jahre zuvor am Tag seiner Hochzeit und danach vielleicht nochfünf- oder sechsmal getragen hatte. Es waren noch drei Tage hin bis zu demgroßen Abenteuer, aber für ihn waren die vierhundert Werst, die Kiew von Odessatrennten, und dieser erste Anblick eines Hafens und des Schwarzen Meeres (dasin das Mittelmeer übergehen würde und dieses in den Atlantik) schon Teil derReise, die aus ihm einen neuen Menschen machen würde. Doch über derBegeisterung, mit der er die vielen Eindrücke der großen Stadt und des Hafensverschlang, lag ein Schleier von Traurigkeit. Er hatte seine Education sentimentalenoch nicht zu Ende durchlaufen und sein erstes Liebeserlebnis beschäftigteseine Gedanken derart, dass er die bevorstehende Reise, das kühnste Abenteuerseines Lebens, nicht recht genießen konnte. Um diesen Schmerz zu vertreiben,den er nicht auslöschen konnte, folgte er mit dem Blick jedem Menschen, dervorüberging; an jedem war etwas, das sein Interesse weckte. Eine Kinderfrau inadretter Uniform schob lustlos den Wagen, aus dem aus üppiger Spitze einquengelndes Baby herausschaute; zwei beleibte Männer, die sich durch dieGoldketten unsichtbarer Taschenuhren auszeichneten, schlenderten vorbei und diskutiertenüber die Preise von Weizen und Sonnenblumen auf verschiedenen europäischenMärkten; ein schwarzer Seemann - es war das erste Mal, dass er jemanden vondieser Hautfarbe sah - beobachtete, ebenso neugierig wie er, alles, was um ihnherum vorging; ein anderer Seemann, der eher wie ein als Seemann verkleideter Schauspieleraussah, hatte einen goldenen Ring im Ohr und einen Papagei auf der Schulter,den er erfolglos zu verkaufen versuchte. Auf dem rosa Granit der Potemkin-Treppe ein paar Meter weiter unten entdeckte er ein Mädchen, das gedankenverlorenin die Landschaft starrte, ihr Blick war nicht weniger traurig als seiner. Siehatte sich auf eine Stufe gesetzt und zwei große runde Schachteln übereinanderneben sich abgestellt, um jede war ein blaues Atlasband gebunden, sie wurdenvon einer einfachen Klemme zusammengehalten, und auf dem Schild konnte man inlateinischen Buchstaben lesen: »Madame Yvonne. Paris - Wien - Odessa«. EineBrise erfrischte die Luft und schob in der Ferne über dem Meer launischeWolkengebilde von Osten nach Westen, Drachen und Erzengel, die eine glückliche Begegnungvorauszusagen schienen. Der junge Mann, wir wollen ihn Daniel Aisenson nennen,wusste nicht, mit welchen Worten man eine Fremde ansprach. Er ging zu demMädchen hin, stellte sich neben sie und lächelte. Als es ihr unangenehm wurde,so zu tun, als würde sie ihn nicht bemerken, warf sie ihm einen strengen Blickzu, der sofort sanft wurde. Etwas an ihm bezeugte seine Unschuld, etwas, dasden unflätigen oder schmeichlerischen Verführern abging, die sie in der großenStadt sofort zu erkennen gelernt hatte. Wir werden nie erfahren, welches dieersten Worte waren, die sie austauschten, und auch nicht, wer sie sprach, aberes ist nicht abwegig, dass sie die Schüchternheit des Jungen besiegten. Danielwar in einem Schtetl geboren; als er fünf Jahre war, zogen seine Eltern ineinen Randbezirk der Stadt, die heilige unter den heiligen, Kiew, von der erwenig mehr kannte als den Besarabia genannten Markt und das Posamentengeschäft derFamilie. Mehr als einmal hatte er als Jugendlicher das Gold und die Voluten derSophien-Kirche, die fünf leuchtenden Kuppeln der Andreas- Kirche und den nochhöheren Glockenturm des Percherska-Klosters bestaunt. Er konnte nichtverhindern, dass er diesen Glanz mit der bescheidenen Synagoge verglich, dieseine Eltern ohne große Hingabe besuchten und in die er sie begleiten musste.Und dieser Vergleich machte, dass er sich schuldig fühlte. Eine göttlicheUngerechtigkeit - so fühlte er - hatte ihn von einer luxuriösen, schützenden Religionausgeschlossen und ihn zu einer anderen, nüchternen, grausamen verdammt, derennatürliche Folge die unterschwellig immer vorhandene Gefahr eines Pogroms war.Seinem Großvater hatten die Kosaken mit einem Säbelhieb beide Beine abgetrennt,als er vor dem hetman niederknien wollte, und fast jeder Onkel hattesein Haus brennen sehen, markiert mit diesem Stern mit sechs Spitzen, der,obwohl er ein heiliges Symbol ist, sie nicht geschützt, sondern sie für das Massakerauserwählt hatte. Sie, deren Namen wir nie erfahren werden, war ein KindOdessas, wo Griechen, Armenier, Türken und Juden so verbreitet waren wieRussen. Sie sprach kein Ukrainisch, sondern ein einfaches Russisch, in das einigejiddische Worte eingeflossen waren. Sie war keine Jüdin, aber sie arbeitete undlebte unter Juden. Besser gesagt unter jüdischen Frauen: der gefürchtetenMadame Yvonne, deren wirklicher Name Rubi Guinzburg war, und den dreiAssistentinnen, die unter ihrer Anleitung in einer Werkstatt in derDeribassovska-Straße Hüte fertigten. Sie kamen alle aus Modavanka, aber sie hattenin Jahren mühsamer Anstrengung eine Distanz zu diesem Viertel aufgebaut, daskaum zehn Straßen von der Werkstatt entfernt war. Wenn keine Kunden oderLieferanten da waren, explodierte das Jiddische, das Madame Yvonne als Ventilfür ihre Vorwürfe und Beleidigungen ihren Angestellten gegenüber diente, und diesenwiederum, um über die Damen zu lästern, die ein Dutzend Hüte anprobierten unddann das Geschäft verließen, ohne einen gekauft zu haben. In der Werkstatt warsie die schickse, ein abscheuliches Wort, das zugleich die Dienerin unddie Nichtjüdin, die goi, bezeichnete. Die Schickse musste die Werkstattputzen, den Tee zubereiten, die verkauften Hüte ausliefern und diverseBotengänge und kleinere Dienste erledigen. Ihr Lohn bestand aus einem Bett in derKüche, einem spärlichen Mahl und einem gelegentlichen Trinkgeld amLieferanteneingang einer Kundin. (...)
© Verlag Klaus Wagenbach
Übersetzung: Sabine Giersberg
- Autor: Edgardo Cozarinsky
- 2005, 160 Seiten, Maße: 14,4 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. argentin. Span. v. Sabine Giersberg
- Übersetzer: Sabine Giersberg
- Verlag: Wagenbach
- ISBN-10: 3803131979
- ISBN-13: 9783803131973
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Braut aus Odessa".
Kommentar verfassen