Die Demokratie und ihre Feinde
Wer gestaltet die neue Weltordnung?
Plädoyer für eine demokratische Weltordnung
Robert Kagan bringt die weltpolitische Situation seit dem Ende des Kalten Krieges auf den Punkt. Den demokratischen Staaten steht mit Russland, China und Iran eine wachsende Zahl nach Macht und...
Robert Kagan bringt die weltpolitische Situation seit dem Ende des Kalten Krieges auf den Punkt. Den demokratischen Staaten steht mit Russland, China und Iran eine wachsende Zahl nach Macht und...
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Produktinformationen zu „Die Demokratie und ihre Feinde “
Plädoyer für eine demokratische Weltordnung
Robert Kagan bringt die weltpolitische Situation seit dem Ende des Kalten Krieges auf den Punkt. Den demokratischen Staaten steht mit Russland, China und Iran eine wachsende Zahl nach Macht und Einfluss strebender autokratischer Regime gegenüber. Gleichzeitig werden die Werte des Westens vom Herrschaftsanspruch radikaler Islamisten bedroht. Leidenschaftlich und pointiert stellt uns Kagan vor die Alternative, entweder die Welt im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Vorstellungen zu formen oder uns in einer neuen Weltordnung einzurichten, die andere gestaltet haben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges keimte die Hoffnung, das Ende der Geschichte sei gekommen, eine friedvolle Zukunft liege vor uns. Diese Hoffnung war trügerisch. Die Jugoslawienkriege, der Kosovo-Konflikt und der 11. September zeigten auf brutale Weise, dass Nationalismen, ethnische Zugehörigkeiten und Religion die Völker nach wie vor trennen und in blutige Konflikte stürzen. Auch Großmachtansprüche gehören keineswegs der Vergangenheit an. Russland, China und Iran lassen ihre Muskeln spielen.
Eindringlich ruft Robert Kagan die demokratischen Staaten dazu auf, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für Demokratie und liberale Werte einzustehen. Die Geschichte ist zurückgekehrt, die hochfliegenden optimistischen Träume, die man nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Ostblocks gehegt hatte, sind ausgeträumt. Die Demokraten dürfen die Welt nicht den Despoten und Autokraten überlassen, sondern müssen aktiv an der Gestaltung einer neuen Weltordnung mitwirken.
Kagan ist einer der scharfsinnigsten politischen Denker in den USA.
Robert Kagan bringt die weltpolitische Situation seit dem Ende des Kalten Krieges auf den Punkt. Den demokratischen Staaten steht mit Russland, China und Iran eine wachsende Zahl nach Macht und Einfluss strebender autokratischer Regime gegenüber. Gleichzeitig werden die Werte des Westens vom Herrschaftsanspruch radikaler Islamisten bedroht. Leidenschaftlich und pointiert stellt uns Kagan vor die Alternative, entweder die Welt im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Vorstellungen zu formen oder uns in einer neuen Weltordnung einzurichten, die andere gestaltet haben.
Nach dem Ende des Kalten Krieges keimte die Hoffnung, das Ende der Geschichte sei gekommen, eine friedvolle Zukunft liege vor uns. Diese Hoffnung war trügerisch. Die Jugoslawienkriege, der Kosovo-Konflikt und der 11. September zeigten auf brutale Weise, dass Nationalismen, ethnische Zugehörigkeiten und Religion die Völker nach wie vor trennen und in blutige Konflikte stürzen. Auch Großmachtansprüche gehören keineswegs der Vergangenheit an. Russland, China und Iran lassen ihre Muskeln spielen.
Eindringlich ruft Robert Kagan die demokratischen Staaten dazu auf, sich zusammenzuschließen und gemeinsam für Demokratie und liberale Werte einzustehen. Die Geschichte ist zurückgekehrt, die hochfliegenden optimistischen Träume, die man nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Ostblocks gehegt hatte, sind ausgeträumt. Die Demokraten dürfen die Welt nicht den Despoten und Autokraten überlassen, sondern müssen aktiv an der Gestaltung einer neuen Weltordnung mitwirken.
Kagan ist einer der scharfsinnigsten politischen Denker in den USA.
Klappentext zu „Die Demokratie und ihre Feinde “
Robert Kagan bringt die weltpolitische Situation seit dem Ende des Kalten Krieges auf den Punkt. Den demokratischen Staaten steht mit Russland, China und Iran eine wachsende Zahl nach Macht und Einfluss strebender autokratischer Regime gegenüber. Gleichzeitig werden die Werte des Westens vom Herrschaftsanspruch radikaler Islamisten bedroht. Leidenschaftlich und pointiert stellt uns Kagan vor die Alternative, entweder die Welt im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Vorstellungen zu formen oder uns in einer neuen Weltordnung einzurichten, die andere gestaltet haben.
Lese-Probe zu „Die Demokratie und ihre Feinde “
DIE WELT IST WIEDER NORMAL GEWORDEN.Die Jahre unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges gewährten uns einen verlockenden Einblick in eine neuartige Weltordnung, in der Nationalstaaten zusammenwachsen oder verschwinden, ideologische Konflikte sich auflösen, Kulturen sich vermischen, Handel und Kommunikation immer freier werden. Die moderne, demokratische Welt redete sich ein, das Ende des Kalten Krieges habe nicht nur einen, sondern sämtliche strategischen und ideologischen Konflikte beendet. Völker und ihre Machthaber sehnten sich nach "einer neuen Welt".1 Das war jedoch ein Trugbild. Die Welt hat sich nicht von Grund auf gewandelt. Fast überall ist der Nationalstaat so stark wie je, und die nationalistischen Bestrebungen und Leidenschaften, der Wettkampf zwischen den Nationen, der die Geschichte prägt, sind ebenfalls ungebrochen. Die Vereinigten Staaten sind als einzige Supermacht übrig geblieben. Der internationale Wettbewerb zwischen Großmächten ist indes zurückgekehrt; Russland, China, Europa, Japan, Indien, Iran, die USA und andere konkurrieren um die Vorherrschaft in ihrer Region. Wieder dominiert das Ringen um Ansehen und Einfluss in der Welt die internationale Szene. Auch die alte Rivalität zwischen Liberalismus und Autokratie ist neu entflammt, und die Großmächte der Welt beziehen entsprechend ihrer Regierungsform Position. Eine noch ältere Fehde ist zwischen radikalen Islamisten und den modernen säkularen Kulturen und Mächten ausgebrochen, die nach Ansicht der Islamisten in ihre Welt eingedrungen sind, um sie zu beherrschen und zu verderben. Mit dem Zusammenwirken und Aufeinanderprallen dieser drei Konflikte verblasst die Verheißung einer neuen Ära internationaler Annäherung. Wir sind in ein Zeitalter der Gegensätze eingetreten.
Angesichts der geplatzten Träume aus der Anfangszeit nach dem Kalten Krieg wird die demokratische Welt entscheiden müssen, wie sie reagiert. in den letzten Jahren, in denen die autokratisch regierten Staaten Russland und
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China aufstiegen und die radikalen Islamisten ihren Kampf aufnahmen, wurde die demokratische Welt sowohl durch tiefgreifende als auch durch banale Fragen gespalten und abgelenkt. Die Demokratien stellten ihren Daseinszweck und ihre moralische Grundlage in Frage, sie stritten über Macht und Ethik und verwiesen auf die Versäumnisse der jeweils anderen. Diese Zwietracht schwächte und demoralisierte die demokratischen Staaten zu einem Zeitpunkt, an dem sie es sich am wenigsten leisten können. Die Geschichte ist zurückgekehrt, und die Demokratien müssen sich zusammentun, um sie zu gestalten - sonst werden andere dies für sie tun.
Hoffnungen und Träume Anfang der neunziger Jahre war der Optimismus verständlich und fast universell. Der Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums und die augenscheinliche Hinwendung Russlands zur Demokratie schienen ein neues Zeitalter globaler Annäherung einzuläuten. Auf einmal teilten die Hauptkontrahenten des Kalten Krieges viele Ziele, darunter den Wunsch nach ökonomischer und politischer Integration. Auch nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen politische Gegner, das 1989 auf dem Tiananmen-Platz begann, und trotz der verstörenden Anzeichen von Instabilität in Russland nach 1993 glaubten die meisten Amerikaner und Europäer, China und Russland befänden sich auf dem Weg der Liberalisierung. Russland unter Boris Jelzin schien dem liberalen Modell der politischen Ökonomie und einem engeren Schulterschluss mit dem Westen verpflichtet. Man hoffte, die von der chinesischen Staatsführung betriebene wirtschaftliche Öffnung werde zwangsläufig, ob es den Machthabern passte oder nicht, eine politische Öffnung nach sich ziehen.
Dieser Determinismus war typisch für das Denken nach dem Ende des Kalten Krieges. In einer globalisierten Wirtschaft, so glaubten die meisten, hätten die Nationen gar keine andere Wahl, als sich erst ökonomisch, dann politisch zu liberalisieren, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben und überleben wollten. Sobald Volkswirtschaften ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht hätten, werde eine wachsende Mittelschicht rechtliche und politische Mitsprache fordern, und die Herrschenden würden ihr diese zum Wohl der Nation einräumen müssen. Da der demokratische Kapitalismus das erfolgreichste Modell für aufstrebende Gesellschaften sei, würden letztlich alle diesen Weg einschlagen. Im Kampf der Ideen habe sich der Liberalismus durchgesetzt. Um Francis Fukuyamas berühmte Formulierung zu gebrauchen: "Am Ende der Geschichte gibt es keine ideologische Konkurrenz mehr zur liberalen Demokratie."2 Der ökonomische und ideologische Determinismus der ersten Jahre nach dem Kalten Krieg brachte zwei allgemeine Annahmen hervor, die sowohl die Politik als auch die Erwartungen bestimmten. Die eine war der ungebrochene Glaube an die Unausweichlichkeit des menschlichen Fortschritts, daran, dass die Geschichte sich nur in eine Richtung bewegt - diese aus der Aufklärung geborene Überzeugung war von der Brutalität des zwanzigsten Jahrhunderts zwar vorübergehend zunichtegemacht, durch den Sturz des Kommunismus aber wiederbelebt worden. Die andere war das Gebot zu Geduld und Zurückhaltung. Statt Autokratien entgegenzutreten und Kritik an ihnen zu üben, sei es besser, sie in die Weltwirtschaft einzubinden, die Rechtsstaatlichkeit und die Schaffung stärkerer staatlicher Institutionen zu unterstützen und die unausweichlichen Kräfte des menschlichen Fortschritts ihre Wunder wirken zu lassen.
Als sich die Welt nun den gemeinsamen Grundsätzen des aufgeklärten Liberalismus annäherte, bestand die große Aufgabe nach dem Ende des Kalten Kriegs im Aufbau eines leistungsfähigeren internationalen Systems von Gesetzen und Institutionen, das die Verheißungen der ins siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert zurückreichenden Aufklärung erfüllen sollte. Eine Welt liberaler Regierungen wäre eine Welt ohne Krieg, wie sie Kant vorgeschwebt hatte. Der freie Fluss von Waren und Ideen im neuen Zeitalter der Globalisierung wäre das Gegengift zu allen Konflikten zwischen den Menschen. Montesquieu glaubte, die natürliche Wirkung des Handels bestehe darin, Frieden zu stiften. Dieser uralte Traum der Aufklärung war auf einmal in greifbare Nähe gerückt, denn zu dem scheinbaren Sieg des internationalen Liberalismus kam die vermeintliche Konvergenz der geopolitischen und strategischen Interessen der Großmächte. 1991 sprach Präsident George H.W Bush von einer "neuen Weltordnung", in der "die Nationen der Welt, im Westen und Osten, Norden und Süden, prosperieren und in Harmonie leben können", in der "die Herrschaft des Rechts das Gesetz des Dschungels verdrängt" und Nationen "die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen". Es sei "eine ganz andere Welt als die uns bisher bekannte".
Die Welt sah vor allem deshalb anders aus, weil die Sowjetunion sich verändert hatte. Wäre die kommunistische UdSSR nicht so jäh und dramatisch zugrunde gegangen und hätte das Land nach 1989 keinen so tiefgreifenden Wandel durchgemacht, wäre niemand auf die Idee gekommen, das Ende der Geschichte zu postulieren. Der Wandel der sowjetischen und dann der russischen Außenpolitik war bemerkenswert. Der "beruhigende Einfluss liberalen Gedankenguts" veränderte die russische Weltsicht von Grund auf; so schien es jedenfalls. Schon in den letzten Jahren des Kalten Krieges riefen Befürworter eines "neuen Denkens" in Moskau nach Annäherung an den Westen und Aufhebung der Schranken zwischen Ost und West, nach gemeinsamer Annahme "universeller Werte", wie Michail Gorbatschow es ausdrückte. In den ersten Jahren unter Jelzin und dem Außenminister Andrej Kosyrew schien Russland entschlossen, Teil des postmodernen Europas zu werden. Moskau definierte seine Ziele nicht mehr als territoriale Ansprüche und in Bezug auf die traditionellen Interessensphären, sondern im Sinne von wirtschaftlicher Integration und politischer Entwicklung. Es verzichtete auf regionale Hegemonie, zog seine Truppen aus benachbarten Staaten zurück, strich den Verteidigungshaushalt zusammen, suchte Allianzen mit den europäischen Mächten und den USA und baute insgesamt seine auswärtige Politik auf der Voraussetzung auf, dass seine Interessen identisch mit denen des Westens seien. Russland "wollte einfach dazugehören".
Die bereits unter Gorbatschow begonnene "Demokratisierung" hatte die Machthaber veranlasst, die nationalen Interessen Russlands zu überdenken und neu zu definieren. Die imperiale Kontrolle über Osteuropa, seine Rolle als Supermacht konnte Moskau nicht deshalb aufgeben, weil die strategische Lage sich verändert hätte - im Gegenteil, die USA waren 1985 eher noch bedrohlicher als zehn Jahre zuvor -, sondern weil das Regime im Kreml sich verändert hatte. Ein Russland auf dem Weg in die Demokratie fürchtete weder die USA noch die Erweiterung der demokratischen Bündnispartner Amerikas.
Wenn Russland imstande war, sich von der traditionellen Großmachtpolitik zu verabschieden, dann konnte es auch die restliche Welt. "Das Zeitalter der Geopolitik", schrieb Martin Walker 1996, "ist einem Zeitalter der Geoökonomie, wie man es nennen könnte, gewichen. Die neuen Männlichkeitssymbole sind Exporte, Produktivität und Wachstumsraten, und die großen internationalen Zusammenkünfte sind die Handelsverträge der Wirtschaftssupermächte." Mochten die Nationen weiter miteinander wetteifern - es wäre jedenfalls ein friedlicher ökonomischer Wettbewerb. Bei Nationen, die miteinander Handel trieben, wäre die Gefahr gering, dass sie einander bekämpften. Zunehmend wirtschaftlich orientierte Gesellschaften würden innen- wie außenpolitisch liberaler. Ihre Bürger strebten nach Erfolg und Wohlstand und hätten keinen Sinn mehr für die einstigen atavistischen Leidenschaften, das Streben nach Ehre und Ruhm und die Stammesfeindschaften, die im Lauf der Geschichte immer wieder zu Konflikten geführt hatten.
Die alten Griechen glaubten an ein der menschlichen Natur innewohnendes Element, das sie thymos nannten, einen "eifernden" Seelenteil, einen aufwallenden Zorn, der sich auf die Verteidigung von Sippe, Stamm, Stadtstaat oder Land richtete. Die Aufklärer jedoch waren sicher, dass der Handel das thymos-Element in den Menschen und Nationen zu zähmen vermöge. Überall da, wo es Handel gebe, schrieb Montesquieu im zweiten Buch seines Werks Vom Geist der Gesetze, herrschten auch sanfte Sitten. Mit den richtigen internationalen Strukturen, der richtigen Politik, den richtigen Wirtschaftssystemen sei die menschliche Natur verbesserungsfähig. Die liberale Demokratie zügele nicht nur den natürlichen Trieb des Menschen zu Aggression und Gewalt, sondern, so Fukuyama, "verwandelt die Triebe von Grund auf".
Die Kollision traditioneller nationaler Interessen galt jetzt also als überwunden. Die Europäische Union, spekulierte der Politikwissenschaftler Michael Mandelbaum, sei nur "ein Vorgeschmack auf das internationale Ordnungssystem des 21. Jahrhunderts".9 G. John Ikenberry, liberaler Wissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, beschrieb eine Welt nach dem Kalten Krieg, in der "Demokratie und freie Märkte überall auf der Welt florierten und die Globalisierung als progressive historische Kraft verankert, Ideologie, Nationalismus und Krieg aber auf einem Tiefpunkt angelangt" wären. Die "liberale Vision der Weltordnung" habe sich durch- gesetzt.10 Den Amerikanern schien der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Geschenk des Himmels zu sein: die ideale Gelegenheit, um sich den lang gehegten Traum von ihrer Weltführerschaft zu erfüllen - von der Staatengemeinschaft begrüßt und sogar bereitwillig angenommen. Schon immer empfanden sich die Amerikaner als die wichtigste Nation der Welt und deren berufene Anführer. "Die Sache Amerikas ist die Sache der ganzen Menschheit", hatte Benjamin Franklin während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges verkündet, und Dean Acheson sagte zu Beginn des Kalten Krieges, die Vereinigten Staaten seien die "Lokomotive an der Spitze der Menschheit", während der Rest der Welt lediglich im "Dienstwagen" sitze. Nach dem Kalten Krieg hielten sich die Amerikaner weiterhin für "die unverzichtbare Nation" - unverzichtbar deshalb, weil sie allein die nötige Macht und Einsicht besäßen, um die internationale Gemeinschaft für die gemeinsame Sache zusammen- zubringen. In der neuen Weltordnung definierten die USA, so Vizeaußenminister Strobe Talbott, "ihre Stärke - ja ihre Größe - nicht als ihre Fähigkeit,Vorherrschaft über andere zu erlangen oder aufrechtzuerhalten, sondern als ihre Fähigkeit, im Interesse der internationalen Gemeinschaft insgesamt mit anderen zusammenzuarbeiten".
Während die Amerikaner ihr Selbstbild von der neuen Weltordnung bestätigt sahen, fanden die Europäer, die neue internationale Ordnung solle nach dem Vorbild der EU gestaltet werden. Wie der Wissenschaftler und Diplomat Robert Cooper es darstellte, führe Europa die Welt in ein postmodernes Zeitalter, in dem traditionelle nationale Interessen und Machtpolitik vor internationalem Recht, supranationalen Institutionen und einer "vereinigten" Souveränität zurückträten. Die kulturellen, ethnischen und nationalistischen Trennungen, die der Menschheit und Europa so lange zu schaffen gemacht hätten, würden durch gemeinsame Werte und gemeinsame Wirtschaftsinteressen überwunden. Die EU sei expansiv wie die USA, jedoch auf postmoderne Weise. Cooper stellte sich die sich erweiternde Union als eine Art freiwilliges Imperium vor. Frühere Imperien hätten den Menschen ihre Gesetze und Regierungssysteme aufoktroyiert, in der Ära nach dem Kalten Krieg jedoch "zwingt niemand anderen etwas auf". Im Gegenteil: Nationen seien geradezu erpicht darauf, dem "kooperativen, der Freiheit und Demokratie verpflichteten Reich" der EU beizutreten.Eine "freiwillige Selbstbindung" finde statt.
Doch noch während diese hoffnungsvollen Erwartungen keimten, zogen Wolken am Horizont auf, Anzeichen für globale Gegensätze, dafür, dass halsstarrige, kulturelle, zivilisatorische, religiöse und nationalistische Traditionen sich der allgemeinen Hinwendung zum demokratischen Liberalismus und Marktkapitalismus widersetzten oder sich gar dagegen wehrten. Die Grundannahmen der Jahre nach dem Kalten Krieg stürzten, kaum formuliert, rasch wieder in sich zusammen.
Die Rückkehr des Großmachtnationalismus Die großen Hoffnungen auf eine neue Ära in der Menschheitsgeschichte stützten sich auf eine einzigartige Konstellation internationaler Umstände: Auf einmal fehlte, jedenfalls für eine Weile, die traditionelle Rivalität der Großmächte. Jahrhundertelang war deren Ringen um Einfluss, Wohlstand, Sicherheit, Ansehen und Ehre die Hauptursache für Konflikte und Kriege gewesen. Während des Kalten Krieges - mehr als vier Jahrzehnte lang - hatte sich das Gerangel auf die beiden Supermächte beschränkt; die starre bipolare Ordnung, die sie der Welt auferlegten, ließ keine anderen Großmächte emporkommen, wie es der natürlichen Entwicklung entsprochen hätte. Als dann im Jahr 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, waren plötzlich nur noch die Vereinigten Staaten übrig. Russland war geschwächt, die Stimmung im Land niedergedrückt, innenpolitisch herrschte ein Chaos, die Wirtschaft wurde von Konkursverwaltern liquidiert, und mit seiner militärischen Macht ging es steil bergab. China war nach den Vorfällen auf dem Tiananmen-Platz isoliert, nervös und in sich gekehrt, seine ökonomische Zukunft war ungewiss und sein Militär für die moderne Hightech-Kriegführung nicht gerüstet. Japan, die aufstrebende ökonomische Supermacht der achtziger Jahre, hatte 1990 einen verheerenden Börsensturz durchgemacht und trat in ein Jahrzehnt der Einsparungen ein. In Indien stand die ökonomische Revolution noch aus. Und Europa, die bedeutendste Arena für Großmachtrivalitäten, lehnte die Machtpolitik ab und zog es vor, seine postmodernen Institutionen zu perfektionieren.
Geopolitische Realisten wie Henry Kissinger wiesen damals darauf hin, dass diese Konstellation nicht ewig andauern könne: Der internationale Wettbewerb sei Bestandteil der menschlichen Natur und werde früher oder später wieder ausbrechen. Zwar bewahrheiteten sich die Vorhersagen über eine bevorstehende globale Multipolarität - mit annäherndem Kräftegleichgewicht zwischen den USA, China, Russland, Japan und Indien - nicht, dennoch hatten die Realisten die unveränderliche Natur des Menschen richtig eingeschätzt. Die Welt erlebte keinen tiefgreifenden Wandel, sondern lediglich eine Pause im endlosen Konkurrenzkampf der Nationen und Völker.
Im Lauf der neunziger Jahre kehrte er zurück, als eine aufstrebende Macht nach der anderen das Spielfeld betrat oder wieder betrat. Erst in China, dann in Indien setzte plötzlich ein beispielloses Wirtschaftswachstum ein, das mit einer langsamen, aber substanziellen Zunahme der militärischen Schlagkraft sowohl im konventionellen wie im nuklearen Bereich einherging. In Japan erholte sich die Wirtschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts allmählich, und das Land schickte sich an, diplomatisch wie militärisch eine aktivere Rolle auf der Weltbühne zu spielen. Dann folgte Russland, das sich aus wirtschaftlichem Elend zu einem stetigen Wachstum aufschwang, das auf dem Export seiner enormen Öl- und Erdgasreserven aufbaut.
Heute wird die internationale Ordnung durch eine neue Machtkonstellation umgestaltet. Wir leben in einer Welt, in der "eine einzige Supermacht und mehrere Großmächte" nebeneinander existieren, wie es die chinesischen Strategen aus- drücken. Nationalismus und die Nation an sich sind heute alles andere als durch die Globalisierung geschwächt; sie kehren vielmehr mit Macht zurück. Auf dem Balkan und in den ehemaligen Sowjetrepubliken brodeln nach wie vor ethnische Nationalismen. Noch bedeutsamer aber ist die Rückkehr des Großmachtnationalismus. Statt der neuen Weltordnung führen die widerstreitenden Interessen und Bestrebungen der Großmächte abermals zu den Allianzen, Gegenallianzen und kunstvollen Tänzen mit wechselnden Partnern, wie sie einem Diplomaten des neunzehnten Jahrhunderts auf Anhieb vertraut wären. Sie verursachen außerdem geopolitische Bruchlinien, an denen die Ambitionen der Großmächte sich überschneiden und einander in die Quere kommen: Höchstwahrscheinlich werden hier die Verwerfungen der Zukunft auftreten.
Der Aufstieg Russlands Eine dieser Verwerfungslinien verläuft entlang der West- und Südwestgrenze Russlands. In Georgien, der Ukraine, in Moldawien, in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik, im Kaukasus, in Zentralasien und sogar auf dem Balkan wetteifert ein wieder erstarkendes Russland mit der EU und den USA um Einfluss. Statt der erwarteten Region des Friedens ist das westliche Eurasien abermals zur umkämpften Zone geworden.
Kam die Geschichte vor zwei Jahrzehnten in Russland höchst dramatisch an ihr Ende, so kehrt sie heute dort höchst dramatisch zurück. Russlands Hinwendung zum Liberalismus im Innern geriet ins Stocken und schlug dann ins Gegenteil um; dasselbe gilt für die Außenpolitik. Die Zentralisierung der Macht in den Händen Wladimir Putins ging mit einer Abkehr von der demokratischen, auf Integration setzenden Außenpolitik einher, für die Jelzin und Kosyrew eingetreten waren. Heute ist Russland zum Großmachtnationalismus zurückgekehrt und damit auch zu den traditionellen Kalküls und Ambitionen einer Großmacht.
Denn entgegen den abschätzigen Ansichten vieler westlicher Beobachter ist Russland durchaus eine Großmacht und stolz darauf, dass man auf der Weltbühne mit ihr rechnen muss. Es ist keine Supermacht und wird vielleicht nie wieder eine sein. Aber im Sinn dessen, was die Chinesen als "umfassende nationale Macht" definieren - im Sinne kombinierter wirtschaftlicher, militärischer und diplomatischer Schlagkraft -, zählt Russland heute zu den stärksten Mächten der Welt. Nachdem die russische Wirtschaft fast die gesamten neunziger Jahre hindurch geschrumpft war, wächst sie seit 2003 um jährlich 7 Prozent und scheint dieses Wachstum in den kommenden Jahren halten zu können. Zwischen 1998 und 2006 nahm die russische Wirtschaftsleistung insgesamt um mehr als 50 Prozent zu, das reale Pro-Kopf-Einkommen wuchs um 65 Prozent, die Armutsquote wurde halbiert.
Dieses Wachstum ist zum großen Teil den Rekordpreisen für Erdöl und Gas zu verdanken, über die Russland im Überfluss verfugt. Von allen Ländern der Welt besitzt Russland die größten Rohstoffvorkommen, darunter die größten Erdölreserven und nahezu die Hälfte der potenziellen Kohlevorkommen der Welt. Infolgedessen erfreut sich das Land eines ansehnlichen Handels- und Leistungsbilanzüberschusses, hat nahezu alle Auslandsschulden abgetragen und hält die weltweit drittgrößten Reserven an harter Währung.
Russland ist nicht nur wohlhabender geworden. Es besitzt vielmehr etwas, was andere Nationen brauchen - dringend brauchen. In der Energieversorgung hängt Europa heute stärker von Russland ab als vom Nahen Osten. Theoretisch ist Russland auf den europäischen Markt natürlich ebenso angewiesen wie der europäische Markt auf Russland. In der Praxis sehen sich jedoch die Russen am Steuer sitzen, und das scheint auch die Ansicht der Europäer zu sein. In enger Zusammenarbeit mit der Zentralregierung in Moskau kaufen russische Unternehmen in ganz Europa speziell auf dem Energiesektor strategische Vermögenswerte auf, gewinnen damit an politischem und wirtschaftlichem Einfluss und festigen die russische Kontrolle über die Energieversorgung und -verteilung in Europa.16 Die europäischen Regierungen fürchten, Moskau könne ihre Energieversorgung manipulieren, und die russischen Machthaber wissen, dass sie diese Furcht als Druckmittel einsetzen können, um Zustimmung zu Vorgehensweisen zu erzwingen, die ihnen die Europäer früher, als Russland schwächer war, niemals hätten durchgehen lassen. Russland kann jetzt die europäischen Nationen gegeneinander ausspielen und auf diese Weise eine EU spalten und ihr damit die Spitze nehmen, die, sogar in Wirtschafts- und Handelsfragen, weniger geschlossen und mächtig ist, als ihre Befürworter das gern hätten. "Kein anderes Land legt unsere Differenzen dermaßen bloß wie Russland", beklagte der EU-Handelskommissar Peter Mandelson.17 Russland ist nicht nur eine Wirtschaftsmacht. Zwar verfügt es nur über einen Bruchteil des amerikanischen Militärpotenzials, aber dank seines Öl- und Gasreichtums konnte Moskau seinen Verteidigungshaushalt in den vergangenen drei Jahren jährlich um mehr als 20 Prozent erhöhen. Heute gibt es nach den USA und China das meiste Geld für militärische Zwecke aus. Ein großer Teil davon ist in die Modernisierung des Atomwaffenarsenals geflossen, das noch immer furchterregend ist: Russland besitzt nach wie vor 16000 nukleare Sprengköpfe. Mehr als eine Million Soldaten stehen im Einsatz, das Land entwickelt neue Kampfjets, neue U-Boote und neue Flugzeugträger und schickt jetzt erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder Bomber auf strategische Langstreckenflüge. Russlands militärische Macht ist darüber hinaus fester Bestandteil seiner Außenpolitik. Russische Truppen kämpfen in Tschetschenien und stehen in Georgien und Moldawien; der Beitritt zum Abkommen über die konventionellen Streitkräfte in Europa (CFE), das Moskaus Truppenstationierung einschränkt, liegt derzeit auf Eis. Russland ist ferner als Chinas Hauptlieferant für moderne Waffen in der strategischen Gleichung Ostasiens zu einem Faktor geworden.
Macht ist die Fähigkeit, andere zu veranlassen, das zu tun, was man will, und sie von dem, was man nicht will, abzuhalten. Mit seinen Rohstoffvorkommen, seinem verfügbaren Reichtum, seinem Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und seinem Einfluss in ganz Eurasien ist Russland in praktisch allen internationalen Angelegenheiten, von der strategischen Architektur Europas über die Ölpolitik Zentralasiens bis hin zur Atompolitik Irans und Nordkoreas, zum Akteur geworden.
Russlands wieder erwachter Nationalismus speist sich nicht nur aus diesem neuen Machtbewusstsein, sondern auch aus ausgeprägten Ressentiments und dem Gefühl tiefer Demütigung. Moskaus entgegenkommende Politik der neunziger Jahre betrachten die Russen heute nicht mehr als Ausdruck aufgeklärter Staatskunst. Die Zustimmung zur NATO-Erweiterung, der Truppenrückzug aus ehemaligen Sowjetrepubliken, die Entlassung der Ukraine, Georgiens und des Baltikums in die Unabhängigkeit, die Hinnahme wachsender amerikanischer und europäischer Einflüsse auf Mitteleuropa, den Kaukasus und Zentralasien - diese Aspekte der Annäherung nach dem Kalten Krieg sind für die heutigen Russen nichts Geringeres als die Bedingungen einer Kapitulation, die ihnen in einem Augenblick der Schwäche von den Vereinigten Staaten und Europa aufgezwungen wurde.
Einige russische Beobachter halten die NATO-Erweiterung und den Kosovo-Krieg für die wesentlichen Katalysatoren des russischen Revanchismus. Doch der russische Groll, das Gefühl der Demütigung reichen tiefer. Als Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" nannte, schockierte er den liberalen Westen, den Russen hingegen sprach er aus der Seele. Nicht, dass sie sich nach einer Rückkehr zum Sowjetkommunismus sehnten - obgleich sogar Stalins Ruf eine bemerkenswerte Rehabilitierung erlebt. Nein, sie sehnen sich nach der Zeit zurück, als Russland von anderen respektiert wurde und in der Lage war, Einfluss auf die Welt zu nehmen und die Interessen der Nation zu schützen. Das heute in Russland verbreitete Klima der Schuldzuweisungen erinnert an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen über das "Versailler Diktat" und den "Schandfrieden", über den "Dolchstoß" korrupter Politiker in den Rücken der Nation klagten.
Die heutigen russischen Machthaber trachten danach, die globale Macht und den Einfluss, die sie mit dem Ende des Kalten Krieges verloren, zurückzugewinnen. Ihr großer Ehrgeiz ist es, die nach dem Kalten Krieg herbeigeführte Ordnung zu annullieren und Russland erneut als dominante Macht in Eurasien sowie als eine der zwei oder drei weltweiten Großmächte zu etablieren.
Das entspricht nicht ganz den Erwartungen beziehungsweise Hoffnungen, die die westlichen demokratischen Länder in den neunziger Jahren hegten. Der Westen fand sein Angebot, Russland nach dem Ende des Kalten Krieges im europäischen Haus und in seinen internationalen politischen und ökonomischen Institutionen willkommen zu heißen, mehr als großzügig - zumal die Milliarden Dollar an Auslandshilfe, die der Westen dem Land in den neunziger Jahren zukommen ließ, etwas völlig anderes waren als die enormen Reparationsleistungen, die die Siegermächte Deutschland nach 1918 abgefordert hatten.
Russlands zunehmend nationalistischer Führung genügt es jedoch nicht mehr, zu denselben Bedingungen wie jede andere Nation in den westlichen Club eingeladen zu werden. Russland, schreibt Dmitri Trenin, wäre zum Zusammenschluss mit dem Westen nur bereit, "wenn es so etwas wie einen Mitvorsitz im westlichen Club" erhalte und seinen "rechtmäßigen Platz in der Welt neben den Vereinigten Staaten und China" einnehmen könne.20 Die heutigen russischen Machthaber sehnen sich nicht nach Integration in den Westen, sondern nach der Rückkehr zu einer speziellen russischen Größe.
Lord Palmerston bemerkte einst, Nationen hätten keine ständigen Freunde, nur ständige Interessen. Doch ist die Vorstellung einer Nation von ihren Interessen nicht in Stein gemeißelt, sie verändert sich mit der jeweiligen Auffassung von Macht. Mit neuer Macht gehen auch neue Ambitionen einher, oder alte erwachen wieder; das gilt nicht nur für Russland, sondern für alle Nationen. Experten für internationale Beziehungen reden von "Status-quo"-Mächten, doch Nationen sind nie vollständig befriedigt. Wurde ein Horizont überschritten, winkt dahinter immer schon der nächste. Was einst unvorstellbar war, wird erst vorstellbar, dann erstrebenswert. Aus einem Wunsch wird ein Ziel, aus einem Ziel ein Interesse. Mächtigere Nationen sind nicht unbedingt zufriedenere Nationen - tatsächlich ist oft das Gegenteil der Fall.
Russlands Ambitionen haben sich in den letzten Jahren in konzentrischen Kreisen ausgebreitet. Ende der Neunziger und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts war Putin erst als Ministerpräsident, dann als Präsident damit beschäftigt, den Zusammenhalt und die Stabilität der Russischen Föderation wiederherzustellen, auch in der aufmüpfigen Republik Tschetschenien. Während es ihm nach und nach gelang, den tschetschenischen Aufstand niederzuschlagen, richtete er die russischen Energien nach außen, auf das "nahe Ausland" und Osteuropa, um in diesen traditionellen Interessensphären den russischen Einfluss wieder geltend zu machen.
Dazu ist es nötig, die prowestlichen Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte umzukehren. In den Jahren 2003 und 2004, als in der Ukraine und in Georgien, nicht zuletzt dank signifikanter finanzieller und diplomatischer Unterstützung vonseiten der EU und den USA, prowestliche Regierungen die prorussischen ersetzten, waren die strategischen Auswirkungen für Russland unverkennbar und beunruhigend. Die ukrainischen Machthaber strebten nicht nur nach größerer Unabhängigkeit von Moskau, sondern auch nach Aufnahme in die Europäische Union. Der georgische Präsident beantragte bald die Mitgliedschaft in der NATO. Selbst das winzige Moldawien schlug einen prowestlichen Kurs ein. Gemeinsam mit den baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland bildeten diese ehemaligen Sowjetrepubliken nun einen Gürtel aus unabhängigen und potenziell prowestlichen Staaten entlang der gesamten russischen Westgrenze. Die Revolutionen, die der Westen die "farbigen" nannte - die "orange Revolution" in der Ukraine, die "Rosenrevolution" in Georgien, die "Tulpenrevolution" in Kirgistan -, machten die Russen wegen ihres schwindenden Einflusses im "nahen Ausland" nervös.21 Russland tolerierte diese Entwicklungen, vielleicht weil es keine andere Wahl hatte. Doch heute sieht die Lage anders aus. Da es nicht gelungen ist, die Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO und die EU zu vereiteln, versucht Moskau nun entschlossen, den Beitritt - ja schon die Aufforderung zum Beitritt - Georgiens und der Ukraine zu hintertreiben.
Hoffnungen und Träume Anfang der neunziger Jahre war der Optimismus verständlich und fast universell. Der Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums und die augenscheinliche Hinwendung Russlands zur Demokratie schienen ein neues Zeitalter globaler Annäherung einzuläuten. Auf einmal teilten die Hauptkontrahenten des Kalten Krieges viele Ziele, darunter den Wunsch nach ökonomischer und politischer Integration. Auch nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen politische Gegner, das 1989 auf dem Tiananmen-Platz begann, und trotz der verstörenden Anzeichen von Instabilität in Russland nach 1993 glaubten die meisten Amerikaner und Europäer, China und Russland befänden sich auf dem Weg der Liberalisierung. Russland unter Boris Jelzin schien dem liberalen Modell der politischen Ökonomie und einem engeren Schulterschluss mit dem Westen verpflichtet. Man hoffte, die von der chinesischen Staatsführung betriebene wirtschaftliche Öffnung werde zwangsläufig, ob es den Machthabern passte oder nicht, eine politische Öffnung nach sich ziehen.
Dieser Determinismus war typisch für das Denken nach dem Ende des Kalten Krieges. In einer globalisierten Wirtschaft, so glaubten die meisten, hätten die Nationen gar keine andere Wahl, als sich erst ökonomisch, dann politisch zu liberalisieren, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben und überleben wollten. Sobald Volkswirtschaften ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht hätten, werde eine wachsende Mittelschicht rechtliche und politische Mitsprache fordern, und die Herrschenden würden ihr diese zum Wohl der Nation einräumen müssen. Da der demokratische Kapitalismus das erfolgreichste Modell für aufstrebende Gesellschaften sei, würden letztlich alle diesen Weg einschlagen. Im Kampf der Ideen habe sich der Liberalismus durchgesetzt. Um Francis Fukuyamas berühmte Formulierung zu gebrauchen: "Am Ende der Geschichte gibt es keine ideologische Konkurrenz mehr zur liberalen Demokratie."2 Der ökonomische und ideologische Determinismus der ersten Jahre nach dem Kalten Krieg brachte zwei allgemeine Annahmen hervor, die sowohl die Politik als auch die Erwartungen bestimmten. Die eine war der ungebrochene Glaube an die Unausweichlichkeit des menschlichen Fortschritts, daran, dass die Geschichte sich nur in eine Richtung bewegt - diese aus der Aufklärung geborene Überzeugung war von der Brutalität des zwanzigsten Jahrhunderts zwar vorübergehend zunichtegemacht, durch den Sturz des Kommunismus aber wiederbelebt worden. Die andere war das Gebot zu Geduld und Zurückhaltung. Statt Autokratien entgegenzutreten und Kritik an ihnen zu üben, sei es besser, sie in die Weltwirtschaft einzubinden, die Rechtsstaatlichkeit und die Schaffung stärkerer staatlicher Institutionen zu unterstützen und die unausweichlichen Kräfte des menschlichen Fortschritts ihre Wunder wirken zu lassen.
Als sich die Welt nun den gemeinsamen Grundsätzen des aufgeklärten Liberalismus annäherte, bestand die große Aufgabe nach dem Ende des Kalten Kriegs im Aufbau eines leistungsfähigeren internationalen Systems von Gesetzen und Institutionen, das die Verheißungen der ins siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert zurückreichenden Aufklärung erfüllen sollte. Eine Welt liberaler Regierungen wäre eine Welt ohne Krieg, wie sie Kant vorgeschwebt hatte. Der freie Fluss von Waren und Ideen im neuen Zeitalter der Globalisierung wäre das Gegengift zu allen Konflikten zwischen den Menschen. Montesquieu glaubte, die natürliche Wirkung des Handels bestehe darin, Frieden zu stiften. Dieser uralte Traum der Aufklärung war auf einmal in greifbare Nähe gerückt, denn zu dem scheinbaren Sieg des internationalen Liberalismus kam die vermeintliche Konvergenz der geopolitischen und strategischen Interessen der Großmächte. 1991 sprach Präsident George H.W Bush von einer "neuen Weltordnung", in der "die Nationen der Welt, im Westen und Osten, Norden und Süden, prosperieren und in Harmonie leben können", in der "die Herrschaft des Rechts das Gesetz des Dschungels verdrängt" und Nationen "die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen". Es sei "eine ganz andere Welt als die uns bisher bekannte".
Die Welt sah vor allem deshalb anders aus, weil die Sowjetunion sich verändert hatte. Wäre die kommunistische UdSSR nicht so jäh und dramatisch zugrunde gegangen und hätte das Land nach 1989 keinen so tiefgreifenden Wandel durchgemacht, wäre niemand auf die Idee gekommen, das Ende der Geschichte zu postulieren. Der Wandel der sowjetischen und dann der russischen Außenpolitik war bemerkenswert. Der "beruhigende Einfluss liberalen Gedankenguts" veränderte die russische Weltsicht von Grund auf; so schien es jedenfalls. Schon in den letzten Jahren des Kalten Krieges riefen Befürworter eines "neuen Denkens" in Moskau nach Annäherung an den Westen und Aufhebung der Schranken zwischen Ost und West, nach gemeinsamer Annahme "universeller Werte", wie Michail Gorbatschow es ausdrückte. In den ersten Jahren unter Jelzin und dem Außenminister Andrej Kosyrew schien Russland entschlossen, Teil des postmodernen Europas zu werden. Moskau definierte seine Ziele nicht mehr als territoriale Ansprüche und in Bezug auf die traditionellen Interessensphären, sondern im Sinne von wirtschaftlicher Integration und politischer Entwicklung. Es verzichtete auf regionale Hegemonie, zog seine Truppen aus benachbarten Staaten zurück, strich den Verteidigungshaushalt zusammen, suchte Allianzen mit den europäischen Mächten und den USA und baute insgesamt seine auswärtige Politik auf der Voraussetzung auf, dass seine Interessen identisch mit denen des Westens seien. Russland "wollte einfach dazugehören".
Die bereits unter Gorbatschow begonnene "Demokratisierung" hatte die Machthaber veranlasst, die nationalen Interessen Russlands zu überdenken und neu zu definieren. Die imperiale Kontrolle über Osteuropa, seine Rolle als Supermacht konnte Moskau nicht deshalb aufgeben, weil die strategische Lage sich verändert hätte - im Gegenteil, die USA waren 1985 eher noch bedrohlicher als zehn Jahre zuvor -, sondern weil das Regime im Kreml sich verändert hatte. Ein Russland auf dem Weg in die Demokratie fürchtete weder die USA noch die Erweiterung der demokratischen Bündnispartner Amerikas.
Wenn Russland imstande war, sich von der traditionellen Großmachtpolitik zu verabschieden, dann konnte es auch die restliche Welt. "Das Zeitalter der Geopolitik", schrieb Martin Walker 1996, "ist einem Zeitalter der Geoökonomie, wie man es nennen könnte, gewichen. Die neuen Männlichkeitssymbole sind Exporte, Produktivität und Wachstumsraten, und die großen internationalen Zusammenkünfte sind die Handelsverträge der Wirtschaftssupermächte." Mochten die Nationen weiter miteinander wetteifern - es wäre jedenfalls ein friedlicher ökonomischer Wettbewerb. Bei Nationen, die miteinander Handel trieben, wäre die Gefahr gering, dass sie einander bekämpften. Zunehmend wirtschaftlich orientierte Gesellschaften würden innen- wie außenpolitisch liberaler. Ihre Bürger strebten nach Erfolg und Wohlstand und hätten keinen Sinn mehr für die einstigen atavistischen Leidenschaften, das Streben nach Ehre und Ruhm und die Stammesfeindschaften, die im Lauf der Geschichte immer wieder zu Konflikten geführt hatten.
Die alten Griechen glaubten an ein der menschlichen Natur innewohnendes Element, das sie thymos nannten, einen "eifernden" Seelenteil, einen aufwallenden Zorn, der sich auf die Verteidigung von Sippe, Stamm, Stadtstaat oder Land richtete. Die Aufklärer jedoch waren sicher, dass der Handel das thymos-Element in den Menschen und Nationen zu zähmen vermöge. Überall da, wo es Handel gebe, schrieb Montesquieu im zweiten Buch seines Werks Vom Geist der Gesetze, herrschten auch sanfte Sitten. Mit den richtigen internationalen Strukturen, der richtigen Politik, den richtigen Wirtschaftssystemen sei die menschliche Natur verbesserungsfähig. Die liberale Demokratie zügele nicht nur den natürlichen Trieb des Menschen zu Aggression und Gewalt, sondern, so Fukuyama, "verwandelt die Triebe von Grund auf".
Die Kollision traditioneller nationaler Interessen galt jetzt also als überwunden. Die Europäische Union, spekulierte der Politikwissenschaftler Michael Mandelbaum, sei nur "ein Vorgeschmack auf das internationale Ordnungssystem des 21. Jahrhunderts".9 G. John Ikenberry, liberaler Wissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, beschrieb eine Welt nach dem Kalten Krieg, in der "Demokratie und freie Märkte überall auf der Welt florierten und die Globalisierung als progressive historische Kraft verankert, Ideologie, Nationalismus und Krieg aber auf einem Tiefpunkt angelangt" wären. Die "liberale Vision der Weltordnung" habe sich durch- gesetzt.10 Den Amerikanern schien der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Geschenk des Himmels zu sein: die ideale Gelegenheit, um sich den lang gehegten Traum von ihrer Weltführerschaft zu erfüllen - von der Staatengemeinschaft begrüßt und sogar bereitwillig angenommen. Schon immer empfanden sich die Amerikaner als die wichtigste Nation der Welt und deren berufene Anführer. "Die Sache Amerikas ist die Sache der ganzen Menschheit", hatte Benjamin Franklin während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges verkündet, und Dean Acheson sagte zu Beginn des Kalten Krieges, die Vereinigten Staaten seien die "Lokomotive an der Spitze der Menschheit", während der Rest der Welt lediglich im "Dienstwagen" sitze. Nach dem Kalten Krieg hielten sich die Amerikaner weiterhin für "die unverzichtbare Nation" - unverzichtbar deshalb, weil sie allein die nötige Macht und Einsicht besäßen, um die internationale Gemeinschaft für die gemeinsame Sache zusammen- zubringen. In der neuen Weltordnung definierten die USA, so Vizeaußenminister Strobe Talbott, "ihre Stärke - ja ihre Größe - nicht als ihre Fähigkeit,Vorherrschaft über andere zu erlangen oder aufrechtzuerhalten, sondern als ihre Fähigkeit, im Interesse der internationalen Gemeinschaft insgesamt mit anderen zusammenzuarbeiten".
Während die Amerikaner ihr Selbstbild von der neuen Weltordnung bestätigt sahen, fanden die Europäer, die neue internationale Ordnung solle nach dem Vorbild der EU gestaltet werden. Wie der Wissenschaftler und Diplomat Robert Cooper es darstellte, führe Europa die Welt in ein postmodernes Zeitalter, in dem traditionelle nationale Interessen und Machtpolitik vor internationalem Recht, supranationalen Institutionen und einer "vereinigten" Souveränität zurückträten. Die kulturellen, ethnischen und nationalistischen Trennungen, die der Menschheit und Europa so lange zu schaffen gemacht hätten, würden durch gemeinsame Werte und gemeinsame Wirtschaftsinteressen überwunden. Die EU sei expansiv wie die USA, jedoch auf postmoderne Weise. Cooper stellte sich die sich erweiternde Union als eine Art freiwilliges Imperium vor. Frühere Imperien hätten den Menschen ihre Gesetze und Regierungssysteme aufoktroyiert, in der Ära nach dem Kalten Krieg jedoch "zwingt niemand anderen etwas auf". Im Gegenteil: Nationen seien geradezu erpicht darauf, dem "kooperativen, der Freiheit und Demokratie verpflichteten Reich" der EU beizutreten.Eine "freiwillige Selbstbindung" finde statt.
Doch noch während diese hoffnungsvollen Erwartungen keimten, zogen Wolken am Horizont auf, Anzeichen für globale Gegensätze, dafür, dass halsstarrige, kulturelle, zivilisatorische, religiöse und nationalistische Traditionen sich der allgemeinen Hinwendung zum demokratischen Liberalismus und Marktkapitalismus widersetzten oder sich gar dagegen wehrten. Die Grundannahmen der Jahre nach dem Kalten Krieg stürzten, kaum formuliert, rasch wieder in sich zusammen.
Die Rückkehr des Großmachtnationalismus Die großen Hoffnungen auf eine neue Ära in der Menschheitsgeschichte stützten sich auf eine einzigartige Konstellation internationaler Umstände: Auf einmal fehlte, jedenfalls für eine Weile, die traditionelle Rivalität der Großmächte. Jahrhundertelang war deren Ringen um Einfluss, Wohlstand, Sicherheit, Ansehen und Ehre die Hauptursache für Konflikte und Kriege gewesen. Während des Kalten Krieges - mehr als vier Jahrzehnte lang - hatte sich das Gerangel auf die beiden Supermächte beschränkt; die starre bipolare Ordnung, die sie der Welt auferlegten, ließ keine anderen Großmächte emporkommen, wie es der natürlichen Entwicklung entsprochen hätte. Als dann im Jahr 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, waren plötzlich nur noch die Vereinigten Staaten übrig. Russland war geschwächt, die Stimmung im Land niedergedrückt, innenpolitisch herrschte ein Chaos, die Wirtschaft wurde von Konkursverwaltern liquidiert, und mit seiner militärischen Macht ging es steil bergab. China war nach den Vorfällen auf dem Tiananmen-Platz isoliert, nervös und in sich gekehrt, seine ökonomische Zukunft war ungewiss und sein Militär für die moderne Hightech-Kriegführung nicht gerüstet. Japan, die aufstrebende ökonomische Supermacht der achtziger Jahre, hatte 1990 einen verheerenden Börsensturz durchgemacht und trat in ein Jahrzehnt der Einsparungen ein. In Indien stand die ökonomische Revolution noch aus. Und Europa, die bedeutendste Arena für Großmachtrivalitäten, lehnte die Machtpolitik ab und zog es vor, seine postmodernen Institutionen zu perfektionieren.
Geopolitische Realisten wie Henry Kissinger wiesen damals darauf hin, dass diese Konstellation nicht ewig andauern könne: Der internationale Wettbewerb sei Bestandteil der menschlichen Natur und werde früher oder später wieder ausbrechen. Zwar bewahrheiteten sich die Vorhersagen über eine bevorstehende globale Multipolarität - mit annäherndem Kräftegleichgewicht zwischen den USA, China, Russland, Japan und Indien - nicht, dennoch hatten die Realisten die unveränderliche Natur des Menschen richtig eingeschätzt. Die Welt erlebte keinen tiefgreifenden Wandel, sondern lediglich eine Pause im endlosen Konkurrenzkampf der Nationen und Völker.
Im Lauf der neunziger Jahre kehrte er zurück, als eine aufstrebende Macht nach der anderen das Spielfeld betrat oder wieder betrat. Erst in China, dann in Indien setzte plötzlich ein beispielloses Wirtschaftswachstum ein, das mit einer langsamen, aber substanziellen Zunahme der militärischen Schlagkraft sowohl im konventionellen wie im nuklearen Bereich einherging. In Japan erholte sich die Wirtschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts allmählich, und das Land schickte sich an, diplomatisch wie militärisch eine aktivere Rolle auf der Weltbühne zu spielen. Dann folgte Russland, das sich aus wirtschaftlichem Elend zu einem stetigen Wachstum aufschwang, das auf dem Export seiner enormen Öl- und Erdgasreserven aufbaut.
Heute wird die internationale Ordnung durch eine neue Machtkonstellation umgestaltet. Wir leben in einer Welt, in der "eine einzige Supermacht und mehrere Großmächte" nebeneinander existieren, wie es die chinesischen Strategen aus- drücken. Nationalismus und die Nation an sich sind heute alles andere als durch die Globalisierung geschwächt; sie kehren vielmehr mit Macht zurück. Auf dem Balkan und in den ehemaligen Sowjetrepubliken brodeln nach wie vor ethnische Nationalismen. Noch bedeutsamer aber ist die Rückkehr des Großmachtnationalismus. Statt der neuen Weltordnung führen die widerstreitenden Interessen und Bestrebungen der Großmächte abermals zu den Allianzen, Gegenallianzen und kunstvollen Tänzen mit wechselnden Partnern, wie sie einem Diplomaten des neunzehnten Jahrhunderts auf Anhieb vertraut wären. Sie verursachen außerdem geopolitische Bruchlinien, an denen die Ambitionen der Großmächte sich überschneiden und einander in die Quere kommen: Höchstwahrscheinlich werden hier die Verwerfungen der Zukunft auftreten.
Der Aufstieg Russlands Eine dieser Verwerfungslinien verläuft entlang der West- und Südwestgrenze Russlands. In Georgien, der Ukraine, in Moldawien, in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik, im Kaukasus, in Zentralasien und sogar auf dem Balkan wetteifert ein wieder erstarkendes Russland mit der EU und den USA um Einfluss. Statt der erwarteten Region des Friedens ist das westliche Eurasien abermals zur umkämpften Zone geworden.
Kam die Geschichte vor zwei Jahrzehnten in Russland höchst dramatisch an ihr Ende, so kehrt sie heute dort höchst dramatisch zurück. Russlands Hinwendung zum Liberalismus im Innern geriet ins Stocken und schlug dann ins Gegenteil um; dasselbe gilt für die Außenpolitik. Die Zentralisierung der Macht in den Händen Wladimir Putins ging mit einer Abkehr von der demokratischen, auf Integration setzenden Außenpolitik einher, für die Jelzin und Kosyrew eingetreten waren. Heute ist Russland zum Großmachtnationalismus zurückgekehrt und damit auch zu den traditionellen Kalküls und Ambitionen einer Großmacht.
Denn entgegen den abschätzigen Ansichten vieler westlicher Beobachter ist Russland durchaus eine Großmacht und stolz darauf, dass man auf der Weltbühne mit ihr rechnen muss. Es ist keine Supermacht und wird vielleicht nie wieder eine sein. Aber im Sinn dessen, was die Chinesen als "umfassende nationale Macht" definieren - im Sinne kombinierter wirtschaftlicher, militärischer und diplomatischer Schlagkraft -, zählt Russland heute zu den stärksten Mächten der Welt. Nachdem die russische Wirtschaft fast die gesamten neunziger Jahre hindurch geschrumpft war, wächst sie seit 2003 um jährlich 7 Prozent und scheint dieses Wachstum in den kommenden Jahren halten zu können. Zwischen 1998 und 2006 nahm die russische Wirtschaftsleistung insgesamt um mehr als 50 Prozent zu, das reale Pro-Kopf-Einkommen wuchs um 65 Prozent, die Armutsquote wurde halbiert.
Dieses Wachstum ist zum großen Teil den Rekordpreisen für Erdöl und Gas zu verdanken, über die Russland im Überfluss verfugt. Von allen Ländern der Welt besitzt Russland die größten Rohstoffvorkommen, darunter die größten Erdölreserven und nahezu die Hälfte der potenziellen Kohlevorkommen der Welt. Infolgedessen erfreut sich das Land eines ansehnlichen Handels- und Leistungsbilanzüberschusses, hat nahezu alle Auslandsschulden abgetragen und hält die weltweit drittgrößten Reserven an harter Währung.
Russland ist nicht nur wohlhabender geworden. Es besitzt vielmehr etwas, was andere Nationen brauchen - dringend brauchen. In der Energieversorgung hängt Europa heute stärker von Russland ab als vom Nahen Osten. Theoretisch ist Russland auf den europäischen Markt natürlich ebenso angewiesen wie der europäische Markt auf Russland. In der Praxis sehen sich jedoch die Russen am Steuer sitzen, und das scheint auch die Ansicht der Europäer zu sein. In enger Zusammenarbeit mit der Zentralregierung in Moskau kaufen russische Unternehmen in ganz Europa speziell auf dem Energiesektor strategische Vermögenswerte auf, gewinnen damit an politischem und wirtschaftlichem Einfluss und festigen die russische Kontrolle über die Energieversorgung und -verteilung in Europa.16 Die europäischen Regierungen fürchten, Moskau könne ihre Energieversorgung manipulieren, und die russischen Machthaber wissen, dass sie diese Furcht als Druckmittel einsetzen können, um Zustimmung zu Vorgehensweisen zu erzwingen, die ihnen die Europäer früher, als Russland schwächer war, niemals hätten durchgehen lassen. Russland kann jetzt die europäischen Nationen gegeneinander ausspielen und auf diese Weise eine EU spalten und ihr damit die Spitze nehmen, die, sogar in Wirtschafts- und Handelsfragen, weniger geschlossen und mächtig ist, als ihre Befürworter das gern hätten. "Kein anderes Land legt unsere Differenzen dermaßen bloß wie Russland", beklagte der EU-Handelskommissar Peter Mandelson.17 Russland ist nicht nur eine Wirtschaftsmacht. Zwar verfügt es nur über einen Bruchteil des amerikanischen Militärpotenzials, aber dank seines Öl- und Gasreichtums konnte Moskau seinen Verteidigungshaushalt in den vergangenen drei Jahren jährlich um mehr als 20 Prozent erhöhen. Heute gibt es nach den USA und China das meiste Geld für militärische Zwecke aus. Ein großer Teil davon ist in die Modernisierung des Atomwaffenarsenals geflossen, das noch immer furchterregend ist: Russland besitzt nach wie vor 16000 nukleare Sprengköpfe. Mehr als eine Million Soldaten stehen im Einsatz, das Land entwickelt neue Kampfjets, neue U-Boote und neue Flugzeugträger und schickt jetzt erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder Bomber auf strategische Langstreckenflüge. Russlands militärische Macht ist darüber hinaus fester Bestandteil seiner Außenpolitik. Russische Truppen kämpfen in Tschetschenien und stehen in Georgien und Moldawien; der Beitritt zum Abkommen über die konventionellen Streitkräfte in Europa (CFE), das Moskaus Truppenstationierung einschränkt, liegt derzeit auf Eis. Russland ist ferner als Chinas Hauptlieferant für moderne Waffen in der strategischen Gleichung Ostasiens zu einem Faktor geworden.
Macht ist die Fähigkeit, andere zu veranlassen, das zu tun, was man will, und sie von dem, was man nicht will, abzuhalten. Mit seinen Rohstoffvorkommen, seinem verfügbaren Reichtum, seinem Vetorecht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und seinem Einfluss in ganz Eurasien ist Russland in praktisch allen internationalen Angelegenheiten, von der strategischen Architektur Europas über die Ölpolitik Zentralasiens bis hin zur Atompolitik Irans und Nordkoreas, zum Akteur geworden.
Russlands wieder erwachter Nationalismus speist sich nicht nur aus diesem neuen Machtbewusstsein, sondern auch aus ausgeprägten Ressentiments und dem Gefühl tiefer Demütigung. Moskaus entgegenkommende Politik der neunziger Jahre betrachten die Russen heute nicht mehr als Ausdruck aufgeklärter Staatskunst. Die Zustimmung zur NATO-Erweiterung, der Truppenrückzug aus ehemaligen Sowjetrepubliken, die Entlassung der Ukraine, Georgiens und des Baltikums in die Unabhängigkeit, die Hinnahme wachsender amerikanischer und europäischer Einflüsse auf Mitteleuropa, den Kaukasus und Zentralasien - diese Aspekte der Annäherung nach dem Kalten Krieg sind für die heutigen Russen nichts Geringeres als die Bedingungen einer Kapitulation, die ihnen in einem Augenblick der Schwäche von den Vereinigten Staaten und Europa aufgezwungen wurde.
Einige russische Beobachter halten die NATO-Erweiterung und den Kosovo-Krieg für die wesentlichen Katalysatoren des russischen Revanchismus. Doch der russische Groll, das Gefühl der Demütigung reichen tiefer. Als Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" nannte, schockierte er den liberalen Westen, den Russen hingegen sprach er aus der Seele. Nicht, dass sie sich nach einer Rückkehr zum Sowjetkommunismus sehnten - obgleich sogar Stalins Ruf eine bemerkenswerte Rehabilitierung erlebt. Nein, sie sehnen sich nach der Zeit zurück, als Russland von anderen respektiert wurde und in der Lage war, Einfluss auf die Welt zu nehmen und die Interessen der Nation zu schützen. Das heute in Russland verbreitete Klima der Schuldzuweisungen erinnert an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen über das "Versailler Diktat" und den "Schandfrieden", über den "Dolchstoß" korrupter Politiker in den Rücken der Nation klagten.
Die heutigen russischen Machthaber trachten danach, die globale Macht und den Einfluss, die sie mit dem Ende des Kalten Krieges verloren, zurückzugewinnen. Ihr großer Ehrgeiz ist es, die nach dem Kalten Krieg herbeigeführte Ordnung zu annullieren und Russland erneut als dominante Macht in Eurasien sowie als eine der zwei oder drei weltweiten Großmächte zu etablieren.
Das entspricht nicht ganz den Erwartungen beziehungsweise Hoffnungen, die die westlichen demokratischen Länder in den neunziger Jahren hegten. Der Westen fand sein Angebot, Russland nach dem Ende des Kalten Krieges im europäischen Haus und in seinen internationalen politischen und ökonomischen Institutionen willkommen zu heißen, mehr als großzügig - zumal die Milliarden Dollar an Auslandshilfe, die der Westen dem Land in den neunziger Jahren zukommen ließ, etwas völlig anderes waren als die enormen Reparationsleistungen, die die Siegermächte Deutschland nach 1918 abgefordert hatten.
Russlands zunehmend nationalistischer Führung genügt es jedoch nicht mehr, zu denselben Bedingungen wie jede andere Nation in den westlichen Club eingeladen zu werden. Russland, schreibt Dmitri Trenin, wäre zum Zusammenschluss mit dem Westen nur bereit, "wenn es so etwas wie einen Mitvorsitz im westlichen Club" erhalte und seinen "rechtmäßigen Platz in der Welt neben den Vereinigten Staaten und China" einnehmen könne.20 Die heutigen russischen Machthaber sehnen sich nicht nach Integration in den Westen, sondern nach der Rückkehr zu einer speziellen russischen Größe.
Lord Palmerston bemerkte einst, Nationen hätten keine ständigen Freunde, nur ständige Interessen. Doch ist die Vorstellung einer Nation von ihren Interessen nicht in Stein gemeißelt, sie verändert sich mit der jeweiligen Auffassung von Macht. Mit neuer Macht gehen auch neue Ambitionen einher, oder alte erwachen wieder; das gilt nicht nur für Russland, sondern für alle Nationen. Experten für internationale Beziehungen reden von "Status-quo"-Mächten, doch Nationen sind nie vollständig befriedigt. Wurde ein Horizont überschritten, winkt dahinter immer schon der nächste. Was einst unvorstellbar war, wird erst vorstellbar, dann erstrebenswert. Aus einem Wunsch wird ein Ziel, aus einem Ziel ein Interesse. Mächtigere Nationen sind nicht unbedingt zufriedenere Nationen - tatsächlich ist oft das Gegenteil der Fall.
Russlands Ambitionen haben sich in den letzten Jahren in konzentrischen Kreisen ausgebreitet. Ende der Neunziger und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts war Putin erst als Ministerpräsident, dann als Präsident damit beschäftigt, den Zusammenhalt und die Stabilität der Russischen Föderation wiederherzustellen, auch in der aufmüpfigen Republik Tschetschenien. Während es ihm nach und nach gelang, den tschetschenischen Aufstand niederzuschlagen, richtete er die russischen Energien nach außen, auf das "nahe Ausland" und Osteuropa, um in diesen traditionellen Interessensphären den russischen Einfluss wieder geltend zu machen.
Dazu ist es nötig, die prowestlichen Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte umzukehren. In den Jahren 2003 und 2004, als in der Ukraine und in Georgien, nicht zuletzt dank signifikanter finanzieller und diplomatischer Unterstützung vonseiten der EU und den USA, prowestliche Regierungen die prorussischen ersetzten, waren die strategischen Auswirkungen für Russland unverkennbar und beunruhigend. Die ukrainischen Machthaber strebten nicht nur nach größerer Unabhängigkeit von Moskau, sondern auch nach Aufnahme in die Europäische Union. Der georgische Präsident beantragte bald die Mitgliedschaft in der NATO. Selbst das winzige Moldawien schlug einen prowestlichen Kurs ein. Gemeinsam mit den baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland bildeten diese ehemaligen Sowjetrepubliken nun einen Gürtel aus unabhängigen und potenziell prowestlichen Staaten entlang der gesamten russischen Westgrenze. Die Revolutionen, die der Westen die "farbigen" nannte - die "orange Revolution" in der Ukraine, die "Rosenrevolution" in Georgien, die "Tulpenrevolution" in Kirgistan -, machten die Russen wegen ihres schwindenden Einflusses im "nahen Ausland" nervös.21 Russland tolerierte diese Entwicklungen, vielleicht weil es keine andere Wahl hatte. Doch heute sieht die Lage anders aus. Da es nicht gelungen ist, die Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO und die EU zu vereiteln, versucht Moskau nun entschlossen, den Beitritt - ja schon die Aufforderung zum Beitritt - Georgiens und der Ukraine zu hintertreiben.
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Autoren-Porträt von Robert Kagan
Robert Kagan ist Senior Associate beim Carnegie Endowment for International Peace und Kolumnist der "Washington Post". Als Mitglied des Council on Foreign Relations arbeitete er von 1984 bis 1998 im Außenministerium der USA. Heute lebt Robert Kagan in Brüssel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Kagan
- 2008, 126 Seiten, Maße: 14,2 x 21,9 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzer: Thorsten M. Schmidt
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 3886808904
- ISBN-13: 9783886808908
- Erscheinungsdatum: 28.05.2008
Rezension zu „Die Demokratie und ihre Feinde “
"Insgesamt bietet Kagan eine sehr konventionelle, klassisch-realistische Analyse der aktuellen Lage, ganz im Stile der großen realistischen Denkers Hans Morgenthau, für den "internationale Politik...wie alle Politik ein Kampf um die Macht" bleibt."
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