Die Detektivin
Die Detektivin von NikolaHahn
LESEPROBE
Eine planmäßig überlegte Tödtung einer Person IedigIich inder Absicht, dieselbe zu bestehlen, gehört in neuester Zeit zu den unerhörten Ausnahmen.
Mit einem Stöhnen faste sich Oskaran den Kopf und betastete vorsichtig die dicke Beule an seiner Stirn. Mühsamstand er auf und schaute sich verwirrt um: Warum lag er mitten in der Nachtunter der Alten Brücke und noch dazu auf der falschen Seite des Mains? Wo warEdgar, wo seine Schiebekarre mit dem Apfelwein? Plötzlich fiel ihm das Mädchenein. Er war ihr gefolgt und hatte gehört, wie etwas ins Wasser klatschte; irgendwannwar er auf dem Boden herumgekrochen, und dann waren da das Amulett und dieschwarze Silhouette des Brickegickel, diein einem dichten Nebel versank, durch den keine Erinnerung drang. Oskar griffin seine rechte Hosentasche und umfaßte das runde,glatte Schmuckstück. Es fühlte sich kühl an. Nein, er hatte nicht geträumt!Aber wie, um Himmels willen, war er unter die Brücke geraten? In seinem Kopfdröhnte und hämmerte es unerbittlich. Er schlurfte zum Mainquai hinauf undüberquerte die Brücke zum anderen Flußufer. Er hatteMühe, den Weg zu finden, denn die ganze Stadt lag im Dunkeln. AlleStraßenlaternen waren aus, und der Mond hatte sich hinter eine Wolke verzogen.
Dribb de Bach, wenige Meter hinter der Brücke aufSachsenhäuser Boden, wäre er beinahe über seine Schiebekarre gefallen, die amStraßenrand stand, als habe sie nur auf ihren Besitzer gewartet. Oskar starrtedas hölzerne Gefährt an und versuchte noch einmal, sich zu erinnern, aber ihmwar so
schlecht und schwindlig, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Den Wagenschwerfällig vor sich herschiebend, bog er von der Brückenstraße nach Westenins Fischer- und Schifferviertel ab und verschwand ineinem engen Gäßchen, das von aneinandergebauten,windschiefen Häusern gesäumt wurde.
Laut holperten die Speichenräder inder nächtlichen Stille über das grobe Pflaster, und als Oskar auf dem kleinenPlatz vor seinem Haus ankam, ließ er die Karre einfach stehen und wankte zu demhohen, steinernen Brunnen in der Platzmitte. Stöhnend drückte er die verrosteteSchwengelpumpe, hielt seinen Kopf darunter und ließ sich den kaltenWasserstrahl übers Gesicht laufen. Sofort fühlte er sich besser.
Durch eine schmale Einfahrt gelangteer in einen verwinkelten Innenhof, schlich leise die ausgetretenen Steinstufenzum Hintereingang seines Hauses hinauf und öffnete vorsichtig die knarrendeHolztür, die ins Innere führte.
Am nächsten Tag, kurz vor derMittagsstunde, erschien Victoria zusammen mit ihrer Zofe im Haus ihres Onkels.Sophia selbst öffnete ihr die Tür. Ihr Gesicht sah noch müder aus als amVortag. Als sie durch die Eingangshalle gingen, sagte sie leise: »Emilie istverschwunden.«
Victoria warf der schreckensbleichenLouise einen strengen Blick zu und folgte ihrer Tante in den holzgetäfeltenSalon. »Was heißt verschwunden? Hat sie etwa irgendwo eine bessere Anstellunggefunden?« fragte sie und ließ sich auf demLieblingsmöbel ihrer Tante nieder, einem Sofa aus Bugholz mit Kugelfüßen undvoluminösen, zylindrischen Armlehnen.
Sophia zuckte mit den Schultern undforderte Louise auf, in einem der Plüschsessel neben dem Sofa Platz zu nehmen. Louisetat, wie ihr befohlen, ängstlich darauf bedacht, nicht an eines der beidenBeistelltischchen zu stoßen, auf denen Buketts aus getrockneten Blumen und einemarmorne Büste standen. Sophia schellte nach ihrer Zofe Elsa und wies sie an, einenKaffee zu kochen. Dann erzählte sie, was am vergangenen Abend geschehen war.
»Und dieser Binding wagt es, zubehaupten ... «, rief Victoria, kaum daß ihre Tantegeendet hatte.
»Biddling«,warf Sophia ein. »Der Kommissar heißt Biddling.«
»Meinetwegen. Dieser HerrKriminalkommissar behauptet also allen Ernstes, daßEmilie ohne jeden Grund einfach weggelaufen ist?«
Sophia sah ihre Nichte lächelnd an.»Warum ereiferst du dich so, Kind? Es kann doch sein, daßsie gegangen ist.«
Victoria stellte die zierlicheKaffeetasse auf den Unterteller, daß es schepperte.»Und wohin, bitte? Ohne ihre Sachen mitzunehmen? Ohne ein Wort zu verlieren?«
»Sie würde niemals ... «, begannLouise, die nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte.
»Woher willst du das wissen, dukanntest sie nicht!« fuhr Victoria sie an. Louisesenkte schuldbewußt ihren Kopf. »Wann war die Polizeida?« wandte Victoria sich wieder an ihre Tante.
»Heute früh«, sagte Sophia. »Wirhaben die Nacht noch abgewartet, weil wir hofften, daßsie auf dem Wäldchestag war.«
Victoria runzelte die Stirn.»Gestern sagtest du doch, daß sie nicht mal freihabenwollte!«
»Vielleicht hatte sie Angst, weilsie meinen Orangenbaum umgeworfen hat.«
»Behauptet das etwa auch derKommissar?«
»Er meinte, das könne eine möglicheErklärung für ihr Verschwinden sein, und es sei nicht unwahrscheinlich, daß sie von selbst zurückkomme.«
»Man ergreift nicht wegen einesumgefallenen Pflanztopfes kopflos die Flucht!«
»Emilie wußte,wie wertvoll der Orangenbaum ist. Es sind mehrere Äste abgebrochen.«
»Ich würde gern ins Glashaus gehenund es mir ansehen.« »Aber der Herr Kommissar war dochschon ... «
»Der Herr Kommissar scheint mir dieSache nicht ernst zu nehmen«, unterbrach Victoria ihre Tante mit hochmütiger Stimme.»Am besten ... «
»... würdest du dich aus Dingenheraushalten, die Frauen nichts angehen«, tadelte Konrad Könitz, der unbemerkt hereingekommenwar und die letzten Worte seiner Nichte mit angehört hatte.
Victoria stand auf und warf trotzigden Kopf in den Nacken. »Warum sollte es mich nichts angehen, wenn plötzlich jemandohne Grund verschwindet?«
»Weil es nicht deine Angelegenheitist und weil ich es nicht dulde, daß du Sophiaunnötig angst machst!« Konrad warf seiner Frau einen besorgten Blick zu. »Nach derganzen Aufregung brauchst du jetzt dringend etwas Ruhe, und ich denke ... «
»Ein wenig Gesellschaft wird mirbestimmt guttun, Konrad«, sagte Sophia leise.
Victoria wußte,daß Konrad seiner Frau kaum einen Wunsch abschlagenkonnte, und lächelte ihrer Tante dankbar zu. Sie trug Louise auf, zu HauseBescheid zu geben, daß sie erst gegen Abendzurückkomme, wartete, bis ihre Zofe das Zimmer verlassen hatte, und trat an dievon Brokatvorhängen eingerahmte Terrassentür. »Wollen wir ein wenig in denGarten gehen, Tante Sophia?«
Sophia stand auf. »Gern, Kind.«
Dr. Könitz sah ihnen mit gemischtenGefühlen nach. Er war davon überzeugt, daß es fürEmilies Verschwinden eine harmlose Erklärung gab, und es gefiel ihm gar nicht,daß seine Nichte die ohnehin kränkelnde Sophia mitirgendwelchen hanebüchenen Mutmaßungen verschreckte. Er sah, daß die beiden Frauen den verschlungenen Pfad zum Glashauseinschlugen, und wandte sich vom Fenster ab. Sein Blick fiel auf das goldgerahmte Ölgemälde, das über dem Sofa hing und ihn undSophia an ihrem Hochzeitstag zeigte. Wie schmal und zerbrechlich sie wirkte!
»Es wird Zeit, daßVictoria verheiratet wird, damit sie endlich die Pflichten einer Fraubegreift«, hatte Rudolf Könitz gestern gesagt, und obwohl Konrad selten mitseinem Bruder einer Meinung war, stimmte er ihm ausnahmsweise zu.
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© Ullstein Buchverlage
- Autor: Nikola Hahn
- 2004, Neuausg., 523 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548261698
- ISBN-13: 9783548261690
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