Die deutsche Frage
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Diedeutsche Frage von Jens Bisky
LESEPROBE
Wir verstehen die Welt nicht mehr
Warum es eine neue deutsche Frage gibt
Manchesfiele heute leichter, hätte man das Vereinigungsmanagement einem Mann wie C.R. MacNamara anvertrauen können, der 1961 in Billy Wilders Film «Eins, zwei,drei» demonstriert hat, wie man Ost-Menschen zu Glück und Erfolg in der freienWelt verhilft. In wenigen Stunden gelang es dem Chef der Coca-Cola-Filiale West-Berlin,den fanatischen Jungkommunisten Otto Ludwig Piffl in einen adretten Demokratenzu verwandeln, von dem man sicher sein kann, dass er auf seinem Weg nach obenalle Erwartungen erfüllen wird. Für das «Reeducation»-Programm brauchteMacNamara kaum mehr als einige loyale Angestellte und eine prall gefüllteBrieftasche. Unterstützt wurde er von den schönen Augen einer Amerikanerin. Er ließden Jungkommunisten die Schrecken des ostdeutschen Geheimdienstes erleben,kaufte ihm ordentliche Anzüge und einen Wagen, verschaffte ihm einen neuenLebenslauf und einen Job, und schließlich lehrte er ihn ein paar Floskeln, diein der Freiheit weiterhelfen konnten, weil der Boss sie gerne hörte: «Die Lageist ernst, aber nicht hoffnungslos.» Piffls Wiedergeburt glückte beispielhaft.
So vulgär der Westen in «Eins, zwei, drei» auch erscheint,sosehr seine Helden von menschlichen Begierden gehetzt werden - dem Charmedieses Lebens, zu dem man sich nicht anders als ironisch verhalten kann,erliegen Piffl und die Zuschauer gemeinsam. MacNamaras Methode der Umerziehungsetzte nichts voraus als den Egoismus jedes Einzelnen, seinen Willen, glücklichzu leben. Das Glücksstreben hat kleinliche Seiten, offenbart in jedemAugenblick die Unvollkommenheiten der Charaktere, ja, ihre Schäbigkeit. Doch nurauf diese Weise ist das Happy End gesichert. Keiner erhält all das, was er sichwünschte, keiner geht vollständig leer aus. Die Vertreter des Westens verletzenwie die des Ostens ununterbrochen ihre Prinzipien, niemand ist groß genug, dieihm zugedachte Rolle wirklich auszufüllen. Im Osten aber wäre Piffls Leben imdauernden Ringen mit übermächtigen Gewalten verstrichen - sei es imvergeblichen Kampf für die kommunistische Erlösung, sei es als ohnmächtiger Einzelnerin den Fängen des Machtapparats. Im Westen drohten ihm höchstens Pech,Missgeschicke, Pannen. Der «Zauber der Freiheit» (Max Weber) kann sich nur alsKomödie entfalten.
Als 1990 die staatssozialistischeGesellschaft der DDR in eine Marktwirtschaft überführt werden sollte, glaubtenviele, das Modell MacNamara ließe sich anwenden. Die Brieftaschen waren gutgefüllt, die Beamten loyal und eifrig. Und war die Aufgabe nicht ohnehin leichterals die Umerziehung des SED-Aktivisten in Wilders Film? Die Ostdeutschen hattendie Diktatur von sich aus abgeschüttelt und den Geheimdienst aufgelöst, nunwünschten sie sich nichts sehnlicher als eine Position, von derenAnnehmlichkeiten man Piffl erst mühsam überzeugen musste. Konsum und Teilhabeam Wirtschaftsleben, flankiert von antikommunistischer Erinnerungsarbeit,sollten die Integration der DDR-Bürger herbeiführen. Nur die freie Sicht aufsEigene, das unbefangene Eingeständnis der Unvollkommenheiten des Westens undder Unwägbarkeiten des Vereinigungsprozesses fehlten allzu oft. DieUmgestaltung des Ostens wurde mit heiligem Ernst betrieben, der Atem derGeschichte sollte wehen, nicht der Hauch der Komödie. Verbissen nahm dieBundesrepublik, ihrer Art und ihrem Selbstverständnis nach unfähig zur Mission,die missionarische Aufgabe der Ost-Beglückung auf sich. Immerhin gewannen dabeialle Deutschen: Eine Despotie ging unter, fremde Truppen zogen ab, die Gefahreines Atomkriegs schwand.
Mit derVereinigung schien die deutsche Frage erledigt, das Land von ihrer Lastbefreit. Seine staatliche Gestalt und seine Grenzen sind nicht längerumstritten, sie haben europäische Normalität erlangt. Aber das ist nur diehalbe Wahrheit. Wer heute eine Karte Deutschlands zeichnen und auf ihr dieEntwicklung der Wirtschaft, des Parteiensystems, des sozialen Lebens, der Kultur,Politik oder der Altersstruktur in den einzelnen Bundesländern markierenwürde, der sähe - ganz gleich, welches der Kriterien er wählen würde - die alteZonengrenze vor sich. Die Wirtschaftskraft des Ostens liegt mehr als 30 Prozentunter dem westdeutschen Niveau, die Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch wieim Westen. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ist die PDS an der Regierungbeteiligt; während sie in allen neuen Ländern mit zweistelligen Wahlergebnissenrechnen kann, erhält sie in den alten nicht einmal zwei Prozent. Wer im Ostenheranwächst, geht zur Jugendweihe, nicht zu Konfirmation oder Kommunion. Inseiner Nachbarschaft leben deutlich weniger Ausländer als im Westen.
Nach derWende hat sich eine eigene ostdeutsche Identität herausgebildet, eindeutliches Bekenntnis, nicht dazuzugehören. Dem entsprechen auf der anderenSeite Desinteresse, Ignoranz und Umerziehungsphantasien. Die Brüder undSchwestern in Ost und West stehen denen im jeweils anderen Landesteil ebensonah oder fern wie etwa Österreichern.' Der Aufbau des Ostens hat bisher rund 1250 Milliarden Euro Bruttotransfergelderverschlungen. Dafür haben wir erhalten: herrliche Kulissen, komfortables Elend,dauerhafte Abhängigkeit und Ruhe im Osten. Gesichert sind die Zahlungen - weitere156Milliarden - bis insJahr 2019. Ob dieneuen Länder bis dahin aus eigener Kraft lebensfähig sein werden, bleibtungewiss. (...)
© 2005 byRowohlt Berlin Verlag GmbH
- Autor: Jens Bisky
- 2005, 2. Aufl., 220 Seiten, Maße: 13,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345261
- ISBN-13: 9783871345265
- Erscheinungsdatum: 23.09.2005
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