Die Diamanten-Kinder
Die "Diamantenkinder" in den Flüchtlingslagern und Städten von Sierra Leone haben Unfassbares erlebt. Rebellen brachen in ihre Dörfer ein, brannten die Hütten ihrer Familien nieder, brachten ihre Eltern um, entführten sie, machten sie zu Kindersoldaten oder Sexsklaven und richteten sie zu Mördern ab. Annette Rehrl begab sich in Zusammenarbeit mit der UNHCR in die Trümmerwelt von Sierra Leone, um nichts anderes zu tun, als diesen Kindern zuzuhören. Die Kinder gewannen sie lieb und erzählten, was sie nie zuvor preisgegeben hatten. So entstand ein erschütterndes und trotzdem hoffnungsvolles Dokument einer Generation von Kindern, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Stück Zukunft.
Die Diamanten Kinder von Annette Rehrl
LESEPROBE
Ich war 12, als die RUF unseren Ort überfiel. Anden Abend des Überfalls
kann ich mich noch erinnern, nur an mein Leben davor,an meine Kindheit,
habe ich überhaupt keine Erinnerung mehr. MeineErinnerung an früher
fängt eigentlich erst mit dem Überfall an.
Zuerst hatten wir uns noch alle, wie jedenAbend, im Busch versteckt.
Wir hatten so eine Art Aufpasser in unserem Ort.Einen alten, blinden
Mann. Die Erwachsenen vertrauten ihm. Er hattein der Nacht vor dem
Überfall einen besonderen Traum und allen Leutenangeordnet, aus dem
Busch wieder in ihre Häuser zurückzukehren. Alsokehrten wir zurück.
Doch gerade an dem Abend kamen die Rebellen.
Es war spätabends und dunkel, wir schliefenschon alle. Die Erwachsenen
liefen sofort weg, als sie die Schreie der Rebellenim Ort hörten.
Ich wachte von dem Lärm auf, und als ich merkte,dass meine Eltern
nicht mehr da waren, versteckte ich mich mitzwei anderen Kindern
unterm Bett. Die beiden waren kleiner als ich.Der alte Mann war im Ort
geblieben und nicht in den Busch geflohen. DieErwachsenen dachten
damals wohl, wenn die Rebellen niemanden im Ortsehen, gehen sie
gleich wieder. Aber es kam ganz anders. Die RUFbegann mit dem alten
Mann zu diskutieren. Er sollte verraten, wo alleLeute waren. Der sagte
aber nichts. Dann kamen sie in unsere Hütten unddurchsuchten jede
einzelne. Sie hatten alle Gewehre und waren sehrlaut. Ich konnte hören,
wie sie Witze machten, vielleicht waren sie auchbetrunken oder
hatten Drogen genommen oder so. Jedenfalls lagich mit den zwei kleineren
Kindern unter dem Bett. Wir zitterten vor Angst.Dann trat einer
der Rebellen mit seinem Fuß das Bett beiseiteund so fanden sie uns -
wie auch die anderen Kinder im Ort. Alle Kinderwaren nämlich unter
Schränke und Betten gekrochen. Sie ließen unsalle in einer Reihe antreten
und befahlen uns, ruhig stehen zu bleiben. Deralte Mann begann
mit dem Anführer zu verhandeln, er sagte, siesollten uns Kinder in Ruhe
lassen und dafür würde er ihnen Lebensmittel undGeld geben. Aber
der Anführer hörte nicht auf ihn. Er schickteseine Männer in den
Busch, um unsere Eltern zu suchen. Meine Elternwurden dabei von den
Rebellen getötet. Den alten Mann ließen sie amLeben. Dann nahmen
sie mich und die anderen Kinder aus dem Ort mit.
Zuerst mussten wir ungefähr zehn Kilometer zuFuß gehen, mitten in
der Nacht. Ich wusste nicht, wo sie unshinbrachten. Wir alle hatten
Angst. Als wir dann bei ihrem Lager angekommenwaren, nahmen sie
zuerst die Mädchen raus, mich auch. Einer derMänner brachte mich in
seine Hütte. Ich möchte mich daran jetzteigentlich nicht erinnern.
Jedenfalls haben sie mir sehr wehgetan. Siehaben mich vergewaltigt.
Nicht nur einer, sondern der Anführer zuerst unddann andere Rebellen.
Ich weiß nur noch, dass ich Todesangst und sehrstarke Schmerzen hatte.
Sie sagten mir, das gehöre dazu, damit ich einevon ihnen würde. Ich
konnte mich nicht wehren. Das ging dann soweiter, die ganze Zeit. Jedes
Mal, wenn einer zu mir kam, nahm er sich, was erwollte. Sie haben
uns streng verboten zu schreien. Ich hatteandauernd Bauchschmerzen,
aber sie haben nichts dagegen gemacht.
Ich wurde dann einem Colonel zugeteilt. Er hatteeine Frau und hielt
sich noch drei Mädchen wie mich. Je höher derRang unter den Rebellen,
desto mehr Mädchen hielten sie sich. Wir musstenimmer für sie da
sein. Die Frau hat es einfach so hingenommen,obwohl sie ja sah, dass
wir noch sehr jung waren. Geholfen hat sie unsnicht. Ich glaube, sie
hätte auch gar nichts tun können. Zum Putzen undWasserholen hatte
der Colonel eine SBU, eine Small Boys Unit ,kleine Jungs. Er war eben
jemand und es gefiel ihm, viele Bedienstete umsich zu haben. Er war
auch oft weg, aber jedes Mal, wenn er kam,mussten wir alle für ihn da
sein. Die kleinen Jungen haben mir damals sehrLeid getan, aber wir
wurden getrennt in verschiedenen Räumen gehaltenund so konnten
wir fast nie miteinander reden. In der erstenZeit musste ich auch mithelfen,
das Essen zu bereiten. Ich musste den Reisstampfen. Das fiel mir
sehr schwer. Außerdem ging es mir die ganze Zeitnicht gut. Ich hatte
sehr starke Bauchschmerzen und auch Hunger. Denndas Essen, das uns
die Frau gab, war schlecht.
Im Lager der Rebellen gab es kein Salz. Salz wardamals rationiert
und sehr teuer. Wenn jemand mit einem Päckchenerwischt wurde,
dann haben sie ihn dafür umgebracht. Ich habemonatelang mein Essen
ohne Salz bekommen. Daraufhin wurde ich dannsehr krank, ich wäre
damals fast gestorben. Medizin gab es keine.Mein Colonel hat mir
schließlich Salz besorgt und es mir gegeben.Daraufhin sind meine Beine
so stark angeschwollen, dass ich lange Zeitnicht mehr gehen konnte.
Mein ganzer Körper tat weh. Aber auch in diesemZustand kamen die
Männer immer wieder zu mir und wollten was vonmir. Sie haben mich
nie in Ruhe gelassen.
Zu jener Zeit gab es schwere Kämpfe in derGegend. Die ECOMOGTruppen
warfen Bomben auf unser Lager und die Kamajohsführten immer
wieder Überfälle durch. Die RUF-Leute sind dannimmer weggelaufen,
in den Busch, und haben uns alleinzurückgelassen. Wir mussten
uns alleine verstecken. Dabei hatte ich jedesMal sehr große Angst, denn
die Kamajohs hätten uns sofort umgebracht, wennsie uns gefunden
hätten.
Einmal haben wir die Rebellen zur Rede gestelltund sie gefragt, warum
sie uns überhaupt entführt hätten, wenn sie unsdoch nur sitzen
ließen. Daraufhin sind sie sehr böse geworden.Jedes Mal, wenn der Anführer
böse wurde, sagte er uns, wir sollten uns nacktausziehen und in
einer Reihe aufstellen, wir würden jetzt gewaschen werden. Davor hatten
wir sehr große Angst. Denn waschen bedeutetetöten. Manchmal
haben sie dabei wirklich ein paar Kinderumgebracht, andere Male haben
sie uns einfach nur Angst gemacht.
©DroemerKnaur
Autoren-Porträt von Annette Rehrl
Dr.Annette Rehrl ist als freie Autorin tätig. Ihre Spezialgebiete sindArmut, Migration und interkultureller Dialog. Seit Juli 2003 ist sie freieMitarbeiterin beim englischspr. Flüchtlingsmagazin der UNHCR in Genf. Ihre hervorragendenAfrika-Kenntnisse kamen auch dem bei Pattloch erschienenen Buch Fatimazugute, das sie redaktionell mit betreute.
Interview mit Annette Rehrl
Wann haben Sie das erste Mal von denso genannten Diamantenkindern" gehört, und wie sind Sie schließlich persönlichmit ihnen in Kontakt gekommen?
Der Begriff Diamantenkinder" wurde durch Gespräche mit meinem Verleger geprägt. Wirwollten damit zum einen verdeutlichen, wie stark die Kinder in WestafrikasKrisengebieten Opfer des internationalen Diamantenschmuggels geworden sind, undzum anderen eine Metapher für den individuellen menschlichen Wert jedeseinzelnen Kindes prägen. Über die Kindersoldaten in Westafrika recherchiere ichseit zwei Jahren. Schließlich bot mir das Flüchtlingswerk der VereintenNationen (UNHCR) an, mich bei meinen Recherchen vor Ort zu unterstützen.Wertvolle Anregungen habe ich auch vom Kinderbeauftragten von UNICEF in Afrikaerhalten. Als ich schließlich in Sierra Leone war, haben mir dann auchEinheimische, die von meinem Buchprojekt erfahren haben, ehemaligeKindersoldaten und Kinderarbeiter vorgestellt, um diesen eine Gelegenheit zugeben, ihre Geschichte zu erzählen.
Als Journalistin haben Sie vieleMöglichkeiten der Veröffentlichung. Hatten Sie von Beginn an geplant, ein Buchüber die Diamantenkinder zu schreiben?
Ja, dashatte ich. Ich bin eigens für die Buchrecherche nach Afrika gereist. Einsolches Thema bedarf der Hintergrundinformation, die man nur in einem Buch inangemessenem Umfang liefern kann. Zudem sind unsere Medien heute am ThemaKinder in Westafrika nur sehr selten interessiert. Und wenn, dann erscheinenentweder Horrormeldungen über so genannte Killermaschinen" oder - meistens vorWeihnachten - Spendenaufrufe für Kinder in Not. Diese Form derBerichterstattung verzerrt meines Erachtens das gesamte, sehr komplexe Bild undliefert nur weitere Vorlagen für ohnehin schon vorhandene Klischees.
In Ihrem erschütternden Berichtschreiben Sie über Kinder in Afrika, die von Rebellen verschleppt und alsSoldaten und Sexsklaven missbraucht wurden. Wie viel Zeit verbrachten Sie inSierra Leone, um sich die Lebensgeschichten dieser Kinder anzuhören. Was hatSie am meisten berührt?
Ich habemir knapp eineinhalb Monate Zeit genommen, um den Kindern zuzuhören. Obwohl dieKinder relativ schnell Vertrauen gefasst hatten, war es auch für sie eineseelische Strapaze sich zu erinnern. Mit einigen von ihnen habe ich deshalbüber mehrere Wochen hinweg immer wieder Gespräche geführt. Am meisten berührthaben mich mehrere Eindrücke: zum einen die Gnadenlosigkeit, mit der unsereWelt aus reiner Profitgier Kinder missbraucht und sie dann wegwirft.Bekanntlich werden ja auch in Afrika Kindersoldaten an der vordersten Fronteingesetzt, weil sie als billiges Kanonenfutter" gelten. Zum anderen diesoziale Aussichtslosigkeit, mit der die Kinder und Jugendlichen auch inFriedenszeiten konfrontiert werden. Schulbildung ist ein Luxus, den sich nurWenige leisten können, und Jobs gibt es so gut wie keine. Nicht zuletzt hatmich aber auch die tiefe Lebensfreude und die Bereitschaft zur Versöhnungberührt, mit der die Kinder in der Hoffnung auf eine bessere Zukunftheranwachsen.
Es gibt weltweit sehr vieleMenschen, die unter unerträglichen Bedingungen leben. Die Bevölkerunghierzulande steht diesen Schicksalen oftmals ohnmächtig gegenüber. Was müsstesich Ihrer Meinung nach verändern, damit die Erste Welt aktiver wird im Kampfgegen solch ein Elend am anderen Ende der Welt"?
Es müsstesich die Wahrnehmung ändern, sowohl bei den politischen und wirtschaftlichenEntscheidungsträgern als auch bei der Bevölkerung. Das andere Ende der Welt"gibt es so nicht. Wir sind ein Planetund eine Menschheit - und letztlichbetrifft uns alle das, was irgendwo vor sich geht. Es müsste sich mehrGemeinsinn entwickeln, mehr Miteinander statt Gegeneinander. Mehr Mitgefühl,weniger Profitgier.
Sie arbeiten als freie Autorin undschreiben u.a. über soziale Missstände, interkulturelle Kommunikation oderMigration. Welche Themen erscheinen Ihnen momentan besonders brisant. Was sindIhre gegenwärtigen Projekte?
Besondersbrisant erscheint mir momentan, dass der Kampf gegen den Terrorismus" neueFeindbilder und neues Unrecht produziert. Das Symptom wird bekämpft, dieUrsachen werden sträflich ignoriert. Das wirkt sich auch in der Asyl- undZuwanderungspolitik aus. Diese Form von Arroganz hat nur noch mehr Aggressionund Gewalt zur Folge. Meine gegenwärtigen Projekte: Zur Zeit bin ich dabei, einNetzwerk für die Diamantenkinder" von Sierra Leone zu gründen, und sobald dieArbeit rund um mein Buch beendet sein wird, werde ich mich wieder in eines derzahlreichen Kriegs- und Krisengebiete begeben und über die Lage dort berichten.
Die Fragen stellte Babett Haugk, literaturtest.de.
- Autor: Annette Rehrl
- 2004, 1, 205 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, Maße: 14,6 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Pattloch
- ISBN-10: 3629021018
- ISBN-13: 9783629021014
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