Die durchs Feuer gehen
Roman
2002 wird das indische Ahmedabad von blutigen Konflikten zwischen Hindus und Moslems erschüttert. Einzig Mr. Jay nimmt davon nichts wahr. Er wartet im Hospital auf die Geburt seines Kindes. Dort gelangt ein Foto in seine Hände. Es zeigt drei seltsame...
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Produktinformationen zu „Die durchs Feuer gehen “
2002 wird das indische Ahmedabad von blutigen Konflikten zwischen Hindus und Moslems erschüttert. Einzig Mr. Jay nimmt davon nichts wahr. Er wartet im Hospital auf die Geburt seines Kindes. Dort gelangt ein Foto in seine Hände. Es zeigt drei seltsame Gegenstände. Noch ahnt er nicht, welche Bewandtnis diese Dinge für sein Leben haben. Doch er wird fortgerissen auf eine Reise in die Nacht, in der Terror und Zärtlichkeit nah beieinander liegen... Eine furiose literarische Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit des gegenwärtigen Indien und eine magische Reise ins Reich der Fantasie.
Klappentext zu „Die durchs Feuer gehen “
Eine furiose literarische Auseinandersetzung mit der politischen Zerrissenheit des gegenwärtigen Indien.Februar 2002. Die indische Stadt Ahmedabad steht in Flammen Tausende fallen innerhalb weniger Wochen bei den Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus einem grausamen Feuertod zum Opfer. Aber Mr. Jay nimmt die Apokalypse kaum wahr, denn er wartet in einem Hospital auf die Geburt seines ersten Kindes. Dort gelangt unter mysteriösen Umständen ein Foto in seine Hände, das drei Gegenstände zeigt: ein verbranntes Buch, eine zerbrochene Armbanduhr und ein blutiges Handtuch. Wie sich herausstellt, stehen diese Dinge in engem Zusammenhang mit der Ermordung mehrerer Menschen in der brennenden Stadt. Doch welche Bewandtnis sie für Mr. Jays Leben haben, fängt er erst an zu begreifen, als er fortgerissen wird auf eine Reise in die Nacht eine Reise, in der Terror und Zärtlichkeit ganz nah beieinander liegen.
Eine furiose literarische Auseinandersetzung mit der politischen Zerrissenheit des gegenwärtigen Indien.
Februar 2002. Die indische Stadt Ahmedabad steht in Flammen - Tausende fallen innerhalb weniger Wochen bei den Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus einem grausamen Feuertod zum Opfer. Aber Mr. Jay nimmt die Apokalypse kaum wahr, denn er wartet in einem Hospital auf die Geburt seines ersten Kindes. Dort gelangt unter mysteriösen Umständen ein Foto in seine Hände, das drei Gegenstände zeigt: ein verbranntes Buch, eine zerbrochene Armbanduhr und ein blutiges Handtuch. Wie sich herausstellt, stehen diese Dinge in engem Zusammenhang mit der Ermordung mehrerer Menschen in der brennenden Stadt. Doch welche Bewandtnis sie für Mr. Jays Leben haben, fängt er erst an zu begreifen, als er fortgerissen wird auf eine Reise in die Nacht - eine Reise, in der Terror und Zärtlichkeit ganz nah beieinander liegen.
"Viele Geschichten klingen in Jhas Roman an, und jede möchte man mit einem Sari vergleichen: Wie ein langer, kunstvoll gewickelter Streifen Stoff, der mit jeder Bewegung seine Form und Farbe verändert." - Hannoversche Allgemeine Zeitung
"Als ginge man durch ein verzaubertes Haus voller Spiegel. Ein herausragendes Buch!" - Sunday Tribune
Februar 2002. Die indische Stadt Ahmedabad steht in Flammen - Tausende fallen innerhalb weniger Wochen bei den Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus einem grausamen Feuertod zum Opfer. Aber Mr. Jay nimmt die Apokalypse kaum wahr, denn er wartet in einem Hospital auf die Geburt seines ersten Kindes. Dort gelangt unter mysteriösen Umständen ein Foto in seine Hände, das drei Gegenstände zeigt: ein verbranntes Buch, eine zerbrochene Armbanduhr und ein blutiges Handtuch. Wie sich herausstellt, stehen diese Dinge in engem Zusammenhang mit der Ermordung mehrerer Menschen in der brennenden Stadt. Doch welche Bewandtnis sie für Mr. Jays Leben haben, fängt er erst an zu begreifen, als er fortgerissen wird auf eine Reise in die Nacht - eine Reise, in der Terror und Zärtlichkeit ganz nah beieinander liegen.
"Viele Geschichten klingen in Jhas Roman an, und jede möchte man mit einem Sari vergleichen: Wie ein langer, kunstvoll gewickelter Streifen Stoff, der mit jeder Bewegung seine Form und Farbe verändert." - Hannoversche Allgemeine Zeitung
"Als ginge man durch ein verzaubertes Haus voller Spiegel. Ein herausragendes Buch!" - Sunday Tribune
Lese-Probe zu „Die durchs Feuer gehen “
Was bleibt zurück, zwei Monate nachdem ein ganzer Wohnblock in Brand gesetzt wurde? Nachdem viele, die dort lebten, umgekommen sind? Und die Überlebenden auf den Schwingen der Angst davonflogen, um nie wieder zurückzukehren?Nicht viel.
Gerade mal vier Polizisten in einem Hauseingang, einer davon fest eingeschlafen.
Die leeren Hüllen der Häuser, wo einst Eltern mit ihren Kindern, Männer und Frauen, Brüder und Schwestern, Freunde und Fremde lebten.
Schwarzbraune Streifen an den Wänden.
Striche, lange und kurze.
Flecken, große und kleine.
Fenster mit verbogenen Gittern, das geschmolzene Metall zu schwarzen Eisenklumpen geronnen wie Ausschlag.
Das Gerippe von etwas, das ein Auto war. Noch in einer Einfahrt geparkt.
Und überall Trümmer.
Als hätte man eine Tonne schwarzer Blütenblätter im Hof verstreut, um Geister willkommen zu heißen.
Und so sieht es an einem Nachmittag im Mai des Jahres 2002 im sozialen Wohnbaukomplex Gulbarga der Stadt Ahmedabad aus. Fast vierzig Grad, der Himmel steht in Flammen.
Am Abend des letzten Tages im Februar war hier der Mob auf die Straße gegangen, hatte die Gebäude in Brand gesetzt und achtunddreißig Bewohner bei lebendigem Leib verbrannt - zwölf gelten bis zum heutigen Tag als vermisst. Das Gulbarga-Massaker, so wurde es später in der Presse genannt, gehörte zu einer Serie von Ausschreitungen, die den ganzen Bundesstaat Gujarat erschütterte und mehr als tausend Männer, Frauen und Kinder das Leben kostete, siebzig Prozent davon Moslems. Es hieß, es sei eine Vergeltung für den Tod von neunundfünfzig Hindu-Fahrgästen beim Überfall auf einen Zug durch eine moslemische Menschenmenge am Tag zuvor gewesen.
An diesem Nachmittag im Mai liegt ein Kinderbuch im spärlichen Schatten des Hofs, halb verborgen unter Fetzen von verbranntem Stoff und Schnipseln angekokelten Papiers. Es heißt Learning to Communicate (erschienen bei Oxford University Press, New Delhi).
Eine braune Stelle in der oberen linken Ecke -
... mehr
möglicherweise das Werk von Feuer und Wasser, Sonne und Licht - hat sich durch alle hundertvierundzwanzig Seiten hindurchgefressen. Es ist ein Englischlehrbuch für die Unterstufe, die Blätter sind mit einer eindeutig kindlichen Handschrift und Kritzeleien bedeckt. Alles mit Bleistift. Das Vorsatzblatt, wo das Kind vermutlich seinen Namen, die Adresse, vielleicht eine Telefonnummer eingetragen hatte, ist verschwunden. Herausgerissen.
Auf Seite dreiundvierzig steht ein Gedicht,"Das Stadtkind"; es ist unterstrichen. Zeile für Zeile, Absatz für Absatz.
Es beginnt so:
Ich wohn in einem großen Haus Da gehn die Menschen ein und aus Die Häuser stehen dicht gedrängt Die Fenster sind vom Rauch verhängt.
Ich hab nur einen großen Wunsch Das ist der Himmel über uns Der hat viel Platz in seinem Bauch Für Wolkenschlösser und mich auch.
Der letzte Eintrag des Kindes findet sich auf Seite vierundachtzig.
Wie viele Kinder in Gulbarga ums Leben kamen, ist nicht bekannt - die Polizei sagt, die Leichen seien zu sehr verkohlt gewesen, um sie identifizieren zu können.
All das sind Tatsachen.
Und alles, was folgt, ist erfunden.
Prolog
(Die einleitende Erklärung)
Wir, die Unterzeichnenden, bestätigen in dieser, unserer einleitenden Erklärung Ihnen, dem Leser, feierlich das Folgende:
1 Dass wir Ihnen unsere Namen leider nicht nennen können.
2 Dass Sie uns, wenn Sie auf irgendeine Identifizierung bestehen, nach unseren jeweiligen Rollen nennen können, die im Anschluss an diese Erklärung aufgeführt sind.
3 Dass Sie uns alternativ jederzeit mit einem oder mehreren der folgenden Begriffe bezeichnen können: Vogel Vieh, Schwarz Blau, Hindu Moslem, Moslem Hindu, Feuer Eis, Schwanz Möse, Lied Tanz, Gesundheit Krankheit, Brücke Fluss, Radio TV, Katze Hund, Nacht Tag. So weiter und so weiter.
4 Dass wir Sie mit weiteren solchen Optionen versorgen könnten. Unbegrenzt und unermüdlich. Bis die Stunden verstreichen, bis die Nacht in den Tag übergeht. Wochen verfliegen, Monate dahingehen, Jahreszeiten wechseln. Bis die Stadt anschwillt, die Straßen bersten, die Erde bebt.
5 Dass uns das unter anderem deshalb möglich ist, weil wir alle Zeit der Welt haben.
1 Dass dies so ist, weil wir tot sind.
2 Dass wir vom frühen Morgen des 28.Februar 2002 an einzeln oder zu zweit, manchmal in Gruppen von drei oder vier umgebracht wurden. Manchmal dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig auf einmal. Einmal sogar neunzig.
3 Dass man einigen von uns den Hals aufgeschlitzt hat, dass manche von hinten, andere von vorn niedergestochen wurden. Die meisten von uns aber verbrannten.
4 Dass wir in unseren Häusern und in unseren Straßen getötet wurden. Bei der Arbeit und beim Spielen. Im Schlaf oder wach, im Dunkeln und im Licht. Und in den düsteren, schlecht erleuchteten Räumen dazwischen.
5 Dass es einer Zählung nach tausend von uns gibt. Nicht sehr viele, nicht sehr wenige. Wenn jeder von uns nur etwas mehr als einen Fuß groß wäre, würden wir fast so hoch in den Himmel aufragen wie die Zwillingstürme des World Trade Centers. Vielleicht könnten wir dann die zerstörte Skyline einer Stadt, die drei Ozeane und drei Kontinente von uns entfernt liegt, wiederherstellen. Ein Turm aus Fleisch und Blut. (Das ist nebenbei bemerkt nur ein Gedanke, der etwas illustrieren soll. Man darf ihn keinesfalls als Absicht missverstehen. Wir suchen nicht die Auseinandersetzung.)
6 Dass wir nach unserem Tod Begabungen entdeckten, von denen wir vorher nichts ahnten. Wir haben ein Zuhause weit oben im Himmel gefunden, der - so wie es der Dichter in dem Kinderbuch beschrieb -, viel Platz in seinem Bauch hat. Wir können uns an Rauchschwaden klammern und über die Stadt fliegen. Wir können am Regen emporklettern, bis zu den Wolkenschlössern, und sie rot, gelb oder in jeder beliebigen Farbe anmalen. Und wenn wir oben sind, können wir sogar den Mond blank putzen oder die Sonne anfeuern, wenn ihre Hitze nachlässt. Unsere Kinder können unter der Wasseroberfläche auf den Spitzen der Pflanzen tanzen, unsere Fische können fliegen, unsere Vögel schwimmen. Kurz, wir können alles Mögliche. Nur nicht ins Leben zurückkehren natürlich.
1 Dass es in den Stunden, in denen wir umgebracht wurden, in der Welt sehr geschäftig zuging. Aus den Werbebroschüren des Commonwealth-Gipfels in Australien wurden die Abbildungen der nur mit Bikini bekleideten Mädchen gestrichen, aus Respekt vor "religiösen und kulturellen Gefühlen" der Teilnehmer. Ein Institut in Chicago gab bekannt, dass sich eine dreiunddreißigjährige Amerikanerin zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin eine "nach wissenschaftlichen Kriterien" befruchtete Eizelle hatte einsetzen lassen, um sicherzugehen, dass ihr Baby nicht wie sie selbst an Alzheimer erkrankte.
2 Dass unterdessen hier bei uns das ganze Land Pandit Ravi Shankars dritten Grammy und die erste Nominierung eines indischen Films für die 74. Academy Awards feierte. Die Zollbehörden beschlagnahmten vierzehn Tonnen gefährdeter Meerestiere, die illegal von den Andamanen und Nikobaren ausgeführt worden waren. Die Arbeiten an den vierspurigen Highways, Traum unseres Premierministers, gingen voran, der gläserne Innenhof des neuen Einkaufszentrums wurde fertig gestellt. Worauf wir hinauswollen, ist Folgendes: Unser Tod markierte keineswegs das Ende der Welt. Denn woanders amüsierten sich die Leute, lachten und hofften auf eine bessere Zukunft.
1 Dass wir in Anbetracht all dessen entschieden, dass der Tod kein Vorwand für Untätigkeit und der Schmerz kein Ersatz für Faulheit sein darf. Dass es vielleicht an der Zeit war, uns selbst Hoffnung auf eine bessere Zukunft und vielleicht auch ein wenig Gerechtigkeit zu machen, statt zu versuchen, das Feuer mit unseren Tränen zu bekämpfen.
2 Dass diese Geschichte davon erzählen soll, wie wir es anstellten.
3 Dass der Erzähler jedoch keiner von uns, sondern ein Lebender ist. Ein Mann, der auf die Nachricht von der Geburt seines ersten Kindes wartet, und dessen Frau sich im Kreißsaal desselben Krankenhauses befindet, wo wir in jener Nacht lagen, tot oder sterbend in einer brennenden Stadt.
Unterzeichnet (in loser Reihenfolge unseres Erscheinens auf den folgenden Seiten)
Oberschwester Doktor Nr. 1
Doktor Nr. 2 Stationswachmann
Miss Glas Eingangswachmann
Krankenwagenfahrer Alte Krähe
Das Buch Die Uhr
Das Handtuch Taxifahrer
Fernsehleiche Obstverkäufer
Kanalarbeiter
Wir werden nicht alle auflisten. Es tut nichts zur Sache, weil Sie uns auf den folgenden Seiten ohnehin begegnen werden. Einige von uns werden an den Seitenrändern ein und aus gehen, sich zwischen den Zeilen verlieren, in den Fußnoten wieder auftauchen. Wo wir in Kleinschrift flüstern, Satzzeichen abschaffen und nicht einmal zum Atemholen innehalten. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Fangen wir also gleich an, beginnen wir mit jener Nacht.
Teil Eins
Jene Nacht
Kapitel Eins
Die Geburt und die Übergabe
Hören Sie nicht auf die Toten, bitte hören Sie nicht auf die Toten - was immer Sie Ihnen erzählen, egal, mit welch fantasievollen Namen oder Nichtnamen sie sich schmücken und wie verführerisch sie Ihnen ins Ohr flüstern; wenn Sie ihnen einmal Gehör schenken, werden sie an Ihrem schlechten Gewissen nagen, sich von Ihrem Mitleid nähren, Sie komplett verschlingen, von Kopf bis Fuß, machen Sie sich nichts vor. Deshalb muss ich Ihnen gleich zu Anfang sagen, dass es nur an einer Sache dieser Geschichte so gut wie keinen Zweifel gibt, besser gesagt, gar keinen, nicht den Hauch eines Zweifels. Und das ist die Tatsache, dass, wie sie in ihrer einleitenden Erklärung behaupten, alles in jener Nacht begann.
Jene Nacht, es war jene Nacht.
Der gesamte Rest, alles andere, was folgt, neunundneunzig Komma neun neun Prozent davon, sollten Sie anzweifeln, anfechten, abwandeln, abstreiten.
Vergraben.
Bedecken Sie es mit Kies, welkem Laub, verschrumpelten, trockenen, zerfallenen Blättern. Klopfen Sie die Erde flach, schlagen Sie die schmutzigen Hände gegen die Hosenbeine, und dann gehen Sie und kommen nie wieder. Niemals.
Oder aber, wenn Sie sich die Hände nicht dreckig machen wollen, trommeln Sie die kleinen Jungs zusammen, die an einer Verkehrsampel zwischen Rot und Grün an Ihre Fensterscheibe klopfen, lassen Sie sie alles aufstapeln, dann holen Sie einen Kanister Kerosin, den Treibstoff des armen Mannes - nur neun Rupien pro Liter - und sprenkeln es darüber. Zünden Sie ein Streichholz an, setzen Sie alles in Brand. Und dann pusten Sie.
Pusten, pusten, pusten.
Wie der Nordwind im Märchen pustet.
Oder aber, wenn Ihnen das Gegenteil lieber ist und Sie es aufheben wollen, um später noch einmal darauf zurückzukommen, vergessen Sie das Feuer, nehmen Sie Eis.
Frieren Sie es ein. Kalt, hart, massiv, weiß.
Suchen Sie sich eine Stelle wie die, die in jener Nacht im Fernsehen zu sehen war. Unter einem Gletscher nördlich von Himachal Pradesh. Dreiundzwanzig Jahre lang hatte er die Leichen einer Frau namens Marin Bjornhaden, Einwohnerin der schwedischen Stadt Göteborg, und ihres Verlobten Lars im Eis eingeschlossen. Es waren Touristen, Trekker, die sich verirrt hatten, doch keiner von beiden war verletzt oder entstellt.(Ihr goldenes Haar war von Eis durchzogen und funkelte wie die Sonne im Schnee. Selbst ihre Kleidung wirkte unberührt, der Stoff war hart und spröde geworden, aber alles saß perfekt, und die weißen und blauen Karos auf Marins Hemd waren kein bisschen verblasst. Dasselbe galt für die Fransen ihres roten Schals. Oder die Aufschläge der pelzgefütterten Jacke, die Lars trug.)
Kurz, machen Sie, was Sie wollen.
Denn es spielt keine Rolle, die Toten werden mich am Ende doch erwischen. Komme, was wolle, egal wie.
Und deshalb ist der Anfang etwas, dem man nicht ausweichen darf. Der Anfang der Nacht, als man mir erklärte, meine Frau habe unser erstes Kind zur Welt gebracht.Ein stark missgebildetes Baby.
Auf Seite dreiundvierzig steht ein Gedicht,"Das Stadtkind"; es ist unterstrichen. Zeile für Zeile, Absatz für Absatz.
Es beginnt so:
Ich wohn in einem großen Haus Da gehn die Menschen ein und aus Die Häuser stehen dicht gedrängt Die Fenster sind vom Rauch verhängt.
Ich hab nur einen großen Wunsch Das ist der Himmel über uns Der hat viel Platz in seinem Bauch Für Wolkenschlösser und mich auch.
Der letzte Eintrag des Kindes findet sich auf Seite vierundachtzig.
Wie viele Kinder in Gulbarga ums Leben kamen, ist nicht bekannt - die Polizei sagt, die Leichen seien zu sehr verkohlt gewesen, um sie identifizieren zu können.
All das sind Tatsachen.
Und alles, was folgt, ist erfunden.
Prolog
(Die einleitende Erklärung)
Wir, die Unterzeichnenden, bestätigen in dieser, unserer einleitenden Erklärung Ihnen, dem Leser, feierlich das Folgende:
1 Dass wir Ihnen unsere Namen leider nicht nennen können.
2 Dass Sie uns, wenn Sie auf irgendeine Identifizierung bestehen, nach unseren jeweiligen Rollen nennen können, die im Anschluss an diese Erklärung aufgeführt sind.
3 Dass Sie uns alternativ jederzeit mit einem oder mehreren der folgenden Begriffe bezeichnen können: Vogel Vieh, Schwarz Blau, Hindu Moslem, Moslem Hindu, Feuer Eis, Schwanz Möse, Lied Tanz, Gesundheit Krankheit, Brücke Fluss, Radio TV, Katze Hund, Nacht Tag. So weiter und so weiter.
4 Dass wir Sie mit weiteren solchen Optionen versorgen könnten. Unbegrenzt und unermüdlich. Bis die Stunden verstreichen, bis die Nacht in den Tag übergeht. Wochen verfliegen, Monate dahingehen, Jahreszeiten wechseln. Bis die Stadt anschwillt, die Straßen bersten, die Erde bebt.
5 Dass uns das unter anderem deshalb möglich ist, weil wir alle Zeit der Welt haben.
1 Dass dies so ist, weil wir tot sind.
2 Dass wir vom frühen Morgen des 28.Februar 2002 an einzeln oder zu zweit, manchmal in Gruppen von drei oder vier umgebracht wurden. Manchmal dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig auf einmal. Einmal sogar neunzig.
3 Dass man einigen von uns den Hals aufgeschlitzt hat, dass manche von hinten, andere von vorn niedergestochen wurden. Die meisten von uns aber verbrannten.
4 Dass wir in unseren Häusern und in unseren Straßen getötet wurden. Bei der Arbeit und beim Spielen. Im Schlaf oder wach, im Dunkeln und im Licht. Und in den düsteren, schlecht erleuchteten Räumen dazwischen.
5 Dass es einer Zählung nach tausend von uns gibt. Nicht sehr viele, nicht sehr wenige. Wenn jeder von uns nur etwas mehr als einen Fuß groß wäre, würden wir fast so hoch in den Himmel aufragen wie die Zwillingstürme des World Trade Centers. Vielleicht könnten wir dann die zerstörte Skyline einer Stadt, die drei Ozeane und drei Kontinente von uns entfernt liegt, wiederherstellen. Ein Turm aus Fleisch und Blut. (Das ist nebenbei bemerkt nur ein Gedanke, der etwas illustrieren soll. Man darf ihn keinesfalls als Absicht missverstehen. Wir suchen nicht die Auseinandersetzung.)
6 Dass wir nach unserem Tod Begabungen entdeckten, von denen wir vorher nichts ahnten. Wir haben ein Zuhause weit oben im Himmel gefunden, der - so wie es der Dichter in dem Kinderbuch beschrieb -, viel Platz in seinem Bauch hat. Wir können uns an Rauchschwaden klammern und über die Stadt fliegen. Wir können am Regen emporklettern, bis zu den Wolkenschlössern, und sie rot, gelb oder in jeder beliebigen Farbe anmalen. Und wenn wir oben sind, können wir sogar den Mond blank putzen oder die Sonne anfeuern, wenn ihre Hitze nachlässt. Unsere Kinder können unter der Wasseroberfläche auf den Spitzen der Pflanzen tanzen, unsere Fische können fliegen, unsere Vögel schwimmen. Kurz, wir können alles Mögliche. Nur nicht ins Leben zurückkehren natürlich.
1 Dass es in den Stunden, in denen wir umgebracht wurden, in der Welt sehr geschäftig zuging. Aus den Werbebroschüren des Commonwealth-Gipfels in Australien wurden die Abbildungen der nur mit Bikini bekleideten Mädchen gestrichen, aus Respekt vor "religiösen und kulturellen Gefühlen" der Teilnehmer. Ein Institut in Chicago gab bekannt, dass sich eine dreiunddreißigjährige Amerikanerin zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin eine "nach wissenschaftlichen Kriterien" befruchtete Eizelle hatte einsetzen lassen, um sicherzugehen, dass ihr Baby nicht wie sie selbst an Alzheimer erkrankte.
2 Dass unterdessen hier bei uns das ganze Land Pandit Ravi Shankars dritten Grammy und die erste Nominierung eines indischen Films für die 74. Academy Awards feierte. Die Zollbehörden beschlagnahmten vierzehn Tonnen gefährdeter Meerestiere, die illegal von den Andamanen und Nikobaren ausgeführt worden waren. Die Arbeiten an den vierspurigen Highways, Traum unseres Premierministers, gingen voran, der gläserne Innenhof des neuen Einkaufszentrums wurde fertig gestellt. Worauf wir hinauswollen, ist Folgendes: Unser Tod markierte keineswegs das Ende der Welt. Denn woanders amüsierten sich die Leute, lachten und hofften auf eine bessere Zukunft.
1 Dass wir in Anbetracht all dessen entschieden, dass der Tod kein Vorwand für Untätigkeit und der Schmerz kein Ersatz für Faulheit sein darf. Dass es vielleicht an der Zeit war, uns selbst Hoffnung auf eine bessere Zukunft und vielleicht auch ein wenig Gerechtigkeit zu machen, statt zu versuchen, das Feuer mit unseren Tränen zu bekämpfen.
2 Dass diese Geschichte davon erzählen soll, wie wir es anstellten.
3 Dass der Erzähler jedoch keiner von uns, sondern ein Lebender ist. Ein Mann, der auf die Nachricht von der Geburt seines ersten Kindes wartet, und dessen Frau sich im Kreißsaal desselben Krankenhauses befindet, wo wir in jener Nacht lagen, tot oder sterbend in einer brennenden Stadt.
Unterzeichnet (in loser Reihenfolge unseres Erscheinens auf den folgenden Seiten)
Oberschwester Doktor Nr. 1
Doktor Nr. 2 Stationswachmann
Miss Glas Eingangswachmann
Krankenwagenfahrer Alte Krähe
Das Buch Die Uhr
Das Handtuch Taxifahrer
Fernsehleiche Obstverkäufer
Kanalarbeiter
Wir werden nicht alle auflisten. Es tut nichts zur Sache, weil Sie uns auf den folgenden Seiten ohnehin begegnen werden. Einige von uns werden an den Seitenrändern ein und aus gehen, sich zwischen den Zeilen verlieren, in den Fußnoten wieder auftauchen. Wo wir in Kleinschrift flüstern, Satzzeichen abschaffen und nicht einmal zum Atemholen innehalten. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Fangen wir also gleich an, beginnen wir mit jener Nacht.
Teil Eins
Jene Nacht
Kapitel Eins
Die Geburt und die Übergabe
Hören Sie nicht auf die Toten, bitte hören Sie nicht auf die Toten - was immer Sie Ihnen erzählen, egal, mit welch fantasievollen Namen oder Nichtnamen sie sich schmücken und wie verführerisch sie Ihnen ins Ohr flüstern; wenn Sie ihnen einmal Gehör schenken, werden sie an Ihrem schlechten Gewissen nagen, sich von Ihrem Mitleid nähren, Sie komplett verschlingen, von Kopf bis Fuß, machen Sie sich nichts vor. Deshalb muss ich Ihnen gleich zu Anfang sagen, dass es nur an einer Sache dieser Geschichte so gut wie keinen Zweifel gibt, besser gesagt, gar keinen, nicht den Hauch eines Zweifels. Und das ist die Tatsache, dass, wie sie in ihrer einleitenden Erklärung behaupten, alles in jener Nacht begann.
Jene Nacht, es war jene Nacht.
Der gesamte Rest, alles andere, was folgt, neunundneunzig Komma neun neun Prozent davon, sollten Sie anzweifeln, anfechten, abwandeln, abstreiten.
Vergraben.
Bedecken Sie es mit Kies, welkem Laub, verschrumpelten, trockenen, zerfallenen Blättern. Klopfen Sie die Erde flach, schlagen Sie die schmutzigen Hände gegen die Hosenbeine, und dann gehen Sie und kommen nie wieder. Niemals.
Oder aber, wenn Sie sich die Hände nicht dreckig machen wollen, trommeln Sie die kleinen Jungs zusammen, die an einer Verkehrsampel zwischen Rot und Grün an Ihre Fensterscheibe klopfen, lassen Sie sie alles aufstapeln, dann holen Sie einen Kanister Kerosin, den Treibstoff des armen Mannes - nur neun Rupien pro Liter - und sprenkeln es darüber. Zünden Sie ein Streichholz an, setzen Sie alles in Brand. Und dann pusten Sie.
Pusten, pusten, pusten.
Wie der Nordwind im Märchen pustet.
Oder aber, wenn Ihnen das Gegenteil lieber ist und Sie es aufheben wollen, um später noch einmal darauf zurückzukommen, vergessen Sie das Feuer, nehmen Sie Eis.
Frieren Sie es ein. Kalt, hart, massiv, weiß.
Suchen Sie sich eine Stelle wie die, die in jener Nacht im Fernsehen zu sehen war. Unter einem Gletscher nördlich von Himachal Pradesh. Dreiundzwanzig Jahre lang hatte er die Leichen einer Frau namens Marin Bjornhaden, Einwohnerin der schwedischen Stadt Göteborg, und ihres Verlobten Lars im Eis eingeschlossen. Es waren Touristen, Trekker, die sich verirrt hatten, doch keiner von beiden war verletzt oder entstellt.(Ihr goldenes Haar war von Eis durchzogen und funkelte wie die Sonne im Schnee. Selbst ihre Kleidung wirkte unberührt, der Stoff war hart und spröde geworden, aber alles saß perfekt, und die weißen und blauen Karos auf Marins Hemd waren kein bisschen verblasst. Dasselbe galt für die Fransen ihres roten Schals. Oder die Aufschläge der pelzgefütterten Jacke, die Lars trug.)
Kurz, machen Sie, was Sie wollen.
Denn es spielt keine Rolle, die Toten werden mich am Ende doch erwischen. Komme, was wolle, egal wie.
Und deshalb ist der Anfang etwas, dem man nicht ausweichen darf. Der Anfang der Nacht, als man mir erklärte, meine Frau habe unser erstes Kind zur Welt gebracht.Ein stark missgebildetes Baby.
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Autoren-Porträt von Raj K. Jha
Raj Kamal Jha wurde 1966 geboren und verbrachte die ersten achtzehn Lebensjahre in Kalkutta. Er studierte Journalismus an der University of Southern California und arbeitete für verschiedene Zeitungen in Los Angeles und Washington. 1992 kehrte er nach Kalkutta zurück und schrieb dort für "The Statesman". Seit 1994 lebt Raj Kamal Jha mit seiner Frau in New Delhi, wo er als Redakteur des "Indian Express" tätig ist. "Das blaue Tuch" ist sein erster, von der britischen Kritik gefeierter Roman.Eva Kemper studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und wohnt und arbeitet in Hattingen/Ruhr. Zu ihren Übersetzungen aus dem Englischen gehören u. a. Werke von Peter Carey, Sara Gruen und Junot Díaz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Raj K. Jha
- 2006, 1, 413 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pociao; Kemper, Eva
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442311284
- ISBN-13: 9783442311286
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