Die Erste
LESEPROBE
ErstesKapitel
Die Musterschülerin der Demokratie
TEMPLIN 2001
Sie ist immerschon von draußen gekommen, aus einer anderen Welt. Und immer schon musste siedeswegen die Beste sein. Auf der anderen Seite der Mauer lebten Menschen, diesich für modern und fortschrittlich hielten, für klüger sowieso. Also galt es,die Regeln dieser Menschen zu analysieren und zu durchschauen, ihnen nicht zuverraten, was man sonst noch alles wusste, und: besser zu sein als alleanderen. So hat sie es gelernt als Kind. Tag für Tag. Und seither wiederholtsie das Muster dieser Kindheit. Man muss Angela Merkels Heimatort Templingesehen haben, um das zu verstehen.
Trotzdem istes seltsam, ausgerechnet an diesem Morgen noch einmal hinzufahren. Es ist der29. Januar 2001. In Berlin haben sich Angela Merkel und Friedrich Merz zumFrühstück verabredet. Sie treffen sich im Büro der Parteichefin und versuchenzu retten, was noch zu retten ist. Nachher müssen sie vor das Parteipräsidium,erklären, wie die Sache mit dem Plakat und vor allem das große Durcheinanderund Gezeter seither zustande gekommen ist. Sie müssen, das ist das Perverse ander Situation wie am politischen Geschäft in der Berliner Republik überhaupt,es also genau den Menschen erklären, die das Durcheinander und Gezeter selbstangerichtet haben.
DieJournalisten sind über das Wochenende wieder einmal fleißig gewesen. Und jederder CDU-Granden, dem sie ein Mikrofon oder ein Ohr hingehalten haben, hat nocheinmal etwas gesagt zu diesem Plakat und zum Führungsduo, das nicht funktioniert.Auf dem Plakat war der Kanzler der Republik als Rentenbetrüger von drei Seitenwie für ein Verbrecheralbum abgebildet. Es war der geschmacklose Fehlgriffeines Generalsekretärs, der in diesen Tagen selber von den meisten seinerParteifreunde als Fehlgriff bezeichnet wird. Angela Merkel hat viel später einmalgesagt, dass es wohl ihr größter Fehler im ersten Jahr als Parteivorsitzendegewesen ist, dieses Plakat durchgehen zu lassen. Zur politischen Katastrophe,zum Sinnbild für Führungsschwäche im virtuellen Durchlauferhitzer einer Ereignisdemokratieaber wurde dieses Plakat erst durch die anhaltende, öffentliche Empörung dereigenen Partei und der CDU-nahen Medien.
AngelaMerkels Popularitätswerte im Politbarometer stürzen dramatisch ab. FriedrichMerz kommt unter den zehn beliebtesten Politikern gar nicht mehr vor. Und aufden Fotos vom 29. Januar des Jahres 2001 sehen beide sehr unglücklich aus,nicht wirklich so, wie man sich die Parteichefin und den Fraktionsvorsitzendeneiner großen deutschen Volkspartei vorstellt. Zwei brave Schulsprecher, die Krachbekommen haben mit den Großen und mit den Rüpeln in der eigenen Klasse, denensie doch eigentlich nur gefallen wollten.
Man sollte inBerlin bleiben an so einem Tag und zuschauen, wie die Ventile desDampfdruckkessels geöffnet werden, wie die Reflexe wieder einmal funktionieren.Mit der Meute würde man im Foyer der CDU-Parteizentrale an der Klingelhöferstraßelungern, warten, wer wann rauskommt und welches Gesicht er macht. Auch müssteman mit den Kollegen dringend durchsprechen, warum Angela Merkel wohl in derPressekonferenz nach der Präsidiumssitzung mit diesem feinen, maliziösenLächeln erzählt, Friedrich Merz habe in der Sitzung gesagt, dass die Fraktioneine dienende Funktion hat.
Vielleichtkönnte man auch seinen Lieblingsinformanten kurz ansprechen oder ihm wenigstenssignalisieren, dass man ihn nachher anrufen wird. Bestimmt sagt er doch nochetwas genauer als die Lieblingsinformanten der Konkurrenz, ob die Beschimpfungendes bisher so zurückhaltenden CDU-Schatzmeisters Ulrich Cartellieri am Endeals Rücktrittsdrohung interpretiert werden müssen. Oder doch nur alsUnvorsichtigkeit. Am Ende weiß so ein Mann, der seine Lebenserfahrung in der verlässlichenWelt der Wirtschaft gemacht hat, einfach nicht, dass man hinter denverschlossenen Türen des internen Führungskreises der ChristlichDemokratischen Union noch nicht zu Ende gesprochen hat, schon ist alles draußenund im dpa-Ticker. Und dass man deswegen immer schön darauf achten muss, werals Erstes zum Klo geht.
Wielächerlich und unwichtig das alles wird, wenn man durch traurige, graueOrtschaften fährt, die Zehdenick heißen und Röddelin oder Hammelspring undHindenburg. Der traurige, graue Osten beginnt gleich hinter dem traurigen,grauen Norden von Berlin. Im Winter, wenn die alles mildernde Natur sich karggemacht hat und den Blick freigibt auf verwahrloste Höfe und Gärten, sieht mannur umso genauer: Hier ist die Zeit stehen geblieben. Die Menschen haben keinGeld. Sie haben keine Arbeit. Und sie haben keine Perspektive. Sie scheinen nichteinmal Farbe zu haben, um ihre Häuser zu streichen.
Berlin, dashochbeschleunigte, glitzernde, politische Berlin mit seinen virtuellenSkandalen und Sensationen, ist weit weg, wie auf einem anderen Stern mit eineranderen Geschwindigkeit. Sogar das Auto ist langsamer geworden. Weil der Lärm derWinterreifen auf dem alten Kopfsteinpflaster sonst den Sprecher von InfoRadio überdröhnenwürde, der gerade berichtet, dass auch Volker Rühe von einem «großen strategischenSchaden» spricht, den das Plakat angerichtet hat.
ZweiRealitäten, die gleichzeitig geschehen und bloß achtzig Kilometer Autostraßevoneinander entfernt sind. Und die doch nichts miteinander zu tun haben. Nur amWahltag, wenn die Menschen aus Zehdenick und Hammelspring wieder einmal nichthingegangen sind, wird es eine kleine Überschneidung geben. Ein kurzesInnehalten dahinten in Berlin, ein paar trocken hingeweinte Krokodilstränen.Und die für diesen Augenblick möglicherweise sogar ernst gemeinte Frage, wasman tun könnte, um die Bürger draußen im Land und vor allem die jungen Menschenim Osten wieder für die Demokratie zu begeistern.
Um sich dannmit noch größerer, besinnungsloser Wollust ins Laufrad zu stürzen. Und anThemen zu drehen, die mit den Menschen hier draußen überhaupt nichts mehr zutun haben.
© RowohltVerlag
- Autor: Evelyn Roll
- 2005, Erg. Ausg., 400 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499621282
- ISBN-13: 9783499621284
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