Die Fremde im Garten
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Die Fremde im Garten von Marjaleena Lembcke
LESEPROBE
Ich träumte manchmal auch von einem Jungen, den ich in demGarten traf. Im Gegensatz zu Feodora hatte der Junge keine Geschichte und auchkein Gesicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er aussah. Aber meine Träumeendeten immer mit einem Kuss, wie in den amerikanischen Filmen, die ich gesehenhatte, und dann passierte nichts mehr und ich hatte das Gefühl, ich würde meinLeben lang mit meinen Lippen an den Lippen eines unbekannten Jungen klebenbleiben. Als ich mich in Pasi aus meiner Klasse verliebte, stellte ich mir vor,das Haus und der Garten gehörten einem Jungen, der Pasi ähnlich sah, aber keinegeflickten Hosen trug. Er zog natürlich auch nicht den Rotz hoch, wie Pasi, dernie ein Taschentuch dabeihatte. In Pasi verliebte ich mich, als er mich einmalwährend der Biostunde auf die Schulter klopfte und fragte: »Hast du irgendeinenLappen, damit ich meine Nase putzen kann?« Ich gab ihm mein sauberes,gebügeltes Taschentuch und er schnäuzte sich kräftig und fragte: »Darf ich esbehalten?« Ich hatte befürchtet, dass er mir das verrotzte Taschentuch einfachzurückwerfen würde. Das hätte ich von einem Jungen erwartet. Pasi war anders.Ich erhob ihn in den Adelsstand. Er wurde Graf. Und einmal, als er einenReitausflug unternahm, sah er mich auf einer Wiese Blumen pflücken undverliebte sich in mich. Er hob mich auf sein Pferd und wir ritten über dieWiesen und Felder, und dann führte er mich in das grüne Haus und in denwunderschönen Garten, die ihm allein gehörten. Seine Eltern lebten in einemSchloss, aber Pasi liebte das Holzhaus, und im Schloss war es ihm viel zu kalt.Sagte er. Manchmal stellte ich mir Pasi auch als Sänger vor, aber als Grafgefiel er mir besser. Sänger gab es in Finnland viele, Grafen nicht. MeineTräumereien wuchsen wild durcheinander und rankten mal in die eine, mal in dieandere Richtung, wie die Blumen und Pflanzen in dem Garten. Niemand konnte sichin meine Träume einmischen, weil ich sie keinem erzählte. Und niemand jäteteUnkraut in dem Garten oder schnitt die Sträucher zurück. Alles konnte wachsenund blühen, wie es wollte. Aber jetzt war jemand in mein Sommerparadieseingedrungen und ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte. Meine Eltern hattenkeine Zeit, Urlaub zu machen. Die anderen Mädchen aus meiner Klasse erzählten vonSommerferien auf einer Insel, wo sie auf den Felsen lagen und von denaufregenden Abenteuern träumten, die uns alle erwarteten, wenn wir nur schnellein paar Jahre älter würden. Der Garten war meine Insel. Ich ging langsam nachHause. Als ich in den Laden kam, sah meine Mutter kurz hoch und lächelte. Dannbreitete sie eine Tischdecke vor Frau Salmi aus und sagte: »Die Farben sindaber auch so erfrischend frisch. Wenn ich nicht schon so viele Sommerdeckenhätte, würde ich diese bestimmt selbst behalten.« »Heutzutage kann man sichauch wieder Sachen leisten, die man nicht unbedingt braucht«, sagte Frau Salmi.Meine Mutter nickte. »Ja, vor einigen Jahren hatten wir andere Probleme. Aberauch den Krieg haben wir überlebt und dafür können wir nur dankbar sein.« Siesprachen über den letzten Weltkrieg, als sei er gerade überstanden. Dabei lagdas Kriegsende schon dreizehn Jahre zurück. Mein Vater saß an der Kasse undwickelte einen Nylonfaden um eine Plastikspule.
»Und das grüne Haus wird auch wieder bewohnt«, sagte Frau Salmi und sah meineMutter an. Meine Mutter sah meinen Vater an und mein Vater sagte: »Also ist siezurückgekommen.« Frau Salmi lachte. »Aber nackt ist sie nicht mehr.« »Wer?«,fragte ich. Ich erhielt keine Antwort. »Wer ist zurückgekommen?«, fragte ich.
»Wie war es in der Schule?« Meine Mutter kam zu mir und strich über meineHaare. Seit einiger Zeit mochte ich das nicht mehr und die Frage nach derSchule kam mir auch scheinheilig vor. Frau Salmi sah mich prüfend an undstellte fest: »Ist schon ein großes Mädchen, eure Hillevi.« Ich wartete einenAugenblick, ob dem Satz eine Fortsetzung folgte. Zum Beispiel, dass man mirschon ruhig erzählen könne, wer zurückgekommen sei. Sie schwiegen. Ich nahm mirein Bonbon aus dem Glas auf der Theke und sagte: »Ich gehe dann nach oben.« Aufder Treppe blieb ich stehen und horchte. Aber Mutter kehrte zurück zum ThemaTischdecke und mein Vater sagte nichts. Sogar die geschwätzige Frau Salmi hieltden Mund. Ich stampfte die Treppe hoch. Oben in unserer Wohnung roch es fastwie im Laden. Und es sah fast so aus wie im Laden, weil auf dem Flur, in derKüche und im Wohnzimmer immer Kartons standen, die ausgepackt werden sollten,aber nicht ausgepackt werden konnten, da unten kein Platz mehr war. Wir hatteneine Gemischtwarenhandlung. Einen Krämerladen. Es gab fast nichts, was es beiuns nicht gab. Eier und tote Hühner, Angelhaken und Heringe, Servietten mitWeihnachtsmuster und Osterglocken, Tischdecken mit Wichtelmännern undFrühlingsblumen, Süßigkeiten und Zigaretten, Kuchen und Brot und Gemüse undKartoffeln. Nähgarn, Stricknadeln, Watte und Lippenstifte, Seife, Zucker undMehl. Postkarten, die schon vierzig, fünfzig Jahre alt waren und noch älterwürden, weil kein Mensch die vergilbten Dinger je kaufte. Mein Vater sagte:»Wir haben die Karten gekauft und wir werden sie auch verkaufen. Irgendwann.« MeineMutter stöhnte oft. »Nichts darf man wegschmeißen. Du würdest den Kunden sogaralte Eier anbieten, wenn ich nicht aufpasse.« Mein Vater schmunzelte undmeinte: »In China essen sie sogar tausendjährige Eier. Soll eine Delikatessesein.« Ich war froh, dass wir keine tausendjährigen Eier hatten. Die Mischungder verschiedenen Gerüche war auch ohne sie vielfältig genug. Es gab vieleGerüche im Laden, die ich mochte. Ich schnupperte am liebsten an Nelke undBasilikum und Zimt, obwohl ich vom Zimt immer niesen musste. Und ich liebte denGeruch von Leder. Wenn wir neue Stiefel zum Verkauf hatten, hielt ich einenSchuh vor die Nase und atmete den Ledergeruch tief ein.
»Guck dir dieses Mädchen an!«, rief meine Mutter dann. »Sie ist wie ein Hund.Überall muss sie herumschnüffeln.« »Ja, das sehe ich«, sagte mein Vater. »Ichnehme sie mit zur Entenjagd, da kann sie ihre Nase sinnvoll einsetzen.« Manchmalkramte ich in den Schubladen und Regalen und sah mir die Sachen an, die schonlange dort lagen. In alten viereckigen Schachteln lagen vergilbte Spitzen,handgehäkelt von Frauen, die nicht mehr lebten. Ich sah mir auch gerne diealten Postkarten an. Einige waren schwarzweiß und zeigten Häuser, die längstabgerissen waren. Frauen in langen Kleidern, Männer mit steifen Hüten auf demKopf und Kinder, die angezogen waren wie kleine Prinzen und Prinzessinnen. DieDinge, die von weit her kamen, zogen mich besonders an; all die Gewürze und diegetrockneten Feigen und Aprikosen. Oder die frischen Apfelsinen, die es nur umdie Weihnachtszeit gab. Sie kamen aus Israel. Wenn ich Apfelsinen aß, sah ichimmer das Jesuskind neben einer Apfelsinenkiste sitzen und den anderen KindernApfelsinen austeilen.
© 2005 by Verlag Nagel & Kimche AG, Zürich
Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Kokkola/Finnland geboren und studierte Theaterwissenschaften und Bildhauerei. Seit 1967 lebt sie in der Nähe von Münster in Westfalen. Sie schreibt für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Für ihre Bücher wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 1999, und wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Ihr Werk wurde bisher in zehn Sprachen übersetzt. 2015 erhielt sie den österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. 2016 erschien für Erwachsene ihr persönlichstes Buch, der Roman Wir bleiben nicht lang (2016).
- Autor: Marjaleena Lembcke
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2005, 1. Auflage., 139 Seiten, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Nagel & Kimche
- ISBN-10: 3312009545
- ISBN-13: 9783312009541
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