Die gemachten Mörder
Faustschläge, Tritte, Demütigungen - für viele Kinder Alltag. Damit beginnt eine gefährliche Spirale, denn jede Gewalt erzeugt neue Gewalt, und das ist ein brennendes gesellschaftliches Problem.
Der bekannte Strafverteidiger Rolf Bossi liefert aus...
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Faustschläge, Tritte, Demütigungen - für viele Kinder Alltag. Damit beginnt eine gefährliche Spirale, denn jede Gewalt erzeugt neue Gewalt, und das ist ein brennendes gesellschaftliches Problem.
Der bekannte Strafverteidiger Rolf Bossi liefert aus seiner Erfahrung eine erschütternde Analyse und ein leidenschaftliches Plädoyer für eine bessere Erziehung.
Aus Gesprächen mit jugendlichen Tätern, Opfern, mit der Justiz und Jugendbehörden sowie aufgrund seiner langjährigen Praxis als Strafverteidiger weiß Rolf Bossi, wo die Brennpunkte und Schwachstellen liegen.
Eine erschütternde Analyse und ein leidenschaftliches Plädoyer für bessere Erziehung, schulische Förderung, berufliche Ausbildung und ein Aufruf zum Kampf gegen gefährdende Umwelteinflüsse.
Die gemachten Mörder von Rolf Bossi
LESEPROBE
1. RÜTLI MACHT FERIEN
SENTIMENTALE ERINNERUNGEN AN DENSOMMER 2006
Sie suchen die Zauberformel für einfriedliches, fröhliches und optimistisch nach vorne blickendes Land? Ganz einfach:schöner Fußball, schönes Wetter, schöne Ferien. So lautet - sehr versimpelt - dieLehre des WM-Sommers z006. Einkommensverluste? Konsumflaute? Wieso, die Lädenhatten doch bis zehn Uhr auf? Deutschlands Brau- und Brunnenbetriebe fuhrenSonderschichten, und solange der Wirt nur einen Fernseher aufstellte, war nochdie letzte Kaschemme voll. Steuererhöhungen, Rentenkürzung, Kostenexplosionim Gesundheitswesen? Die Hitze des Sommers und die überraschenden Erfolge derdeutschen Nationalmannschaft lösten den berüchtigten Reformstau zwar nicht auf,aber statt in den Gesichtern erschöpfter, griesgrämiger Großkoalitionäreerkannte sich das Land für vier Wochen lieber im sympathischen undzuversichtlichen Lächeln des Bundestrainers wieder. Die wichtigstenPressekonferenzen gaben endlich nicht mehr Angie und Stoibi,sondern Klinsi und Jogi - nicht zuletzt mit solchputzigen Diminutiven versetzte sich das Volk in die Stimmung eines andauernden Kindergeburtstages.Und als könne man eben doch immer siebzehn sein, dankten die Deutschen,zusammen mit Bild, BamS und Glotze, ihrenjugendlichen Helden am Ende »für die geile Zeit«.
Noch wenige Wochen vor derWeltmeisterschaft hatte Innenminister Wolfgang Schäuble für den Einsatz derBundeswehr rund um die Stadien plädiert. Die Stiftung Warentest diagnostizierte,dass sich im Falle von Bränden oder Paniken die Zuschauer in unseren Stadiengegenseitig tottrampeln würden. Die Schwarzseherunter den Kolumnisten drohten uns mit Heerscharen osteuropäischerZwangsprostituierter sowie englischer und polnischer Hooligans. Das Schengener Abkommen, das seit 1995 die kontrollfreieÜberquerung vieler EU-Binnengrenzen ermöglicht, wurde vor dem Hintergrundsolcher Befürchtungen sogar suspendiert. Doch dann: tote Hose rund um HamburgsHerbert- oder Frankfurts Kaiserstraße. Statt an Verrichtungsboxen fehlte eshier und da höchstens an Toilettenwagen. Wirksame und zugleich weitgehendunauffällige Grenzkontrollen hielten die Rädelsführer unter den gewaltbereiten»Fans« außer Landes.
Der Rest hatte inmitten Millionenfriedlicher Fußballfreunde nahezu keine Chance, Randale zu machen. Denn dieDeutschen verlagerten ihre Wohnzimmer zeitweise auf die Straße - Public Viewing machte aus Fanmeilen gutbürgerlicheKirmesveranstaltungen. Nicht zuletzt die überraschend große Zahl vor allemjunger, sport- wie spaßbegeisterter Frauen befriedete die öffentlichen Feste.Mit seiner Freundin im Arm wurde so auch manch dumpfer Haudraufzum braven Fähnchenschwenker. Und statt mit aggressiven Rufen wie »Deutschland!« oder »Sieg!« versuchten wir »mit dem Herz in der Handund der Leidenschaft im Bein« Weltmeister zu werden. Aus Schlachtenbummlern wurdenfröhlich singende, bunt kostümierte WM-Partygänger. Wo es am Ende doch einpaar kleinere Schlägereien gab, da wurden sie von einer höchst effizient undzugleich unmartialisch agierenden Polizei schnell beendet. So kam es, dass derRuhm des größten Rowdys in diesen Sommertagen des Jahres z006 einem harmlosenjungen Petz aus Norditalien zufiel. Fast als könnten sie das Übermaß anFrohsinn und Besonnenheit im Lande nicht mehr ertragen, überreagierten diebayerischen Behörden hier stellvertretend für alle anderen und bescherten der WMihr einziges Opfer: Bruno, den Bären.
Das vielleicht nachhaltigsteErgebnis dieser WM aber lautet: Nicht nur wir selbst begannen uns zu mögen,auch unsere ausländischen Besucher lernten uns zu ihrer allseitigenÜberraschung als sympathisches, fröhliches, offenherziges, hilfsbereites undtolerantes Völkchen kennen. Brasilianer stellten erstaunt fest, dass dieDeutschen kaum weniger ausgelassen feiern als sie selbst. Schwedische Kampftrinkersanken nach der Viertelfinal-Niederlage gemeinsam mit deutschen Maßkrugstemmern lustig unter die Tische. Und selbstpassionierte Leser der englischen Surr befanden spontan, dass dieKlischees vom Sauerkraut fressenden Fritz mit Pickelhaube und Hitlerbärtchenpasse und die Deutschen eigentlich prima Leute seien. Afrikas Fußballer undFans, vor der WM noch eindringlich vor grassierendem Rassismus undlebensgefährlichen No-go-Areas gewarnt, sahen sichplötzlich in die Rolle heimlicher Helden befördert. Denn wenn nicht gerade dieeigene Mannschaft spielte, dann fieberten die Deutschen nicht etwa mitBrasiliens favorisierter, aber allzu selbstgewiss auftretender Selecäo, sondern mit den Teams der Elfenbeinküste oderGhanas. Als müssten alle abgedroschenen Multikulti-Klischees noch einmal aufgewärmt werden, sah manHolländer mit Dönern, die sie zuvor an einem kroatischen Imbissstand erworbenhatten - in dem weder ein Kroate noch ein Türke vor sich hin werkelte, sondernzum Beispiel ein junger Filipino in argentinischem Trikot. Weil der Iran frühausschied, blieb auch Herr Ahmadinedschad daheim.
So wurden der Regierungdiplomatische Querelen und uns die Bilder rechtsradikaler und antisemitischerSolidaritätsbekundungen erspart. Nicht zu vergessen, dass für einen kurzenMoment auch die Integration unserer türkischen Mitbürger gelungen schien: Sielegten das Scheitern ihres Herkunftslandes in der skandalumwittertenQualifikation gegen die Schweiz zu den Akten und steckten fast mehr schwarz-rot-goldeneWimpel an ihre Autos als die Deutschen selbst. Am Ende war das langebelächelte Motto von der »Welt zu Gast bei Freunden« zu einer ungetrübt sich selbsterfüllenden Prophezeiung geworden.
Versteht sich, dass mit den nahezugleichzeitig beginnenden Schulferien auch die Aufregung über die Missständean Deutschlands Erziehungsanstalten erst abebbte, dann schließlich verstummte.Die Rütli-Hauptschulen der Republik sperrten nach und nach für jeweils sechsWochen zu, die notorischen Gewalttäter aus den Problembezirken Berlins undBremens, Gelsenkirchens und Geras verkrümelten sich in die Freibäder - und dielokalen Zeitungsseiten wurden kurzzeitig wieder von langen Spalten mit denNamen erfolgreicher Abiturienten beherrscht. Lernverweigerung, mangelndeDeutschkenntnisse, misslungene Integration, Gewalt auf unseren Schulhöfen: Alldiese Probleme schienen bei fünfunddreißig Grad im Schatten kurzfristig zuverdampfen.
Ende Mai 2006 noch hatte bei derEröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofes ein sechzehnjähriger Messerstechereinundvierzig Menschen zum Teil schwer verletzt. Knapp zwei Wochen vor der WM wardamit wieder einmal deutlich geworden, dass durchgedrehte Einzeltäter durchnoch so ausgefeilte Sicherheitskonzepte nicht kontrollierbar sind. Zu allemÜberfluss erwies sich der Amokläufer zudem als wandelndes Klischee bedrohlicherJugendgewalt: ein Hauptschüler aus Neukölln, wohl kleinbürgerlichen, aberzerrütteten Familienverhältnissen entstammend, ein notorischer Schulschwänzer,der seine Freizeit zu großen Teilen mit Ballerspielen am PC verbrachte undaufgrund eines früheren Falles von Körperverletzung bereits polizeilichbekannt war. Zum Tatzeitpunkt war der Junge zudem stark angetrunken. Die durchsolche Daten ausgelösten Assoziationen weckten noch einmal schlimmste Befürchtungen:Kaputte Familie, mangelnde Berufs- und Lebensperspektiven, erhöhteGewaltneigung, ein kleiner Rempler in der Menge oderein falsches Wort, und ein Pulverfass aus Frust, Aggression und Lebensüberdrussgeht hoch. Doch zum Glück blieben die potenziellen Amokläufer den WM-Festenfern. Zwar raste ein junger Mann mit seinem Auto in die Fanmeile amBrandenburger Tor, aber der Vorfall ging einigermaßen glimpflich aus, und beidem Täter handelte es sich offenbar »nur« um einen geistig verwirrten Menschen.Die Gewalt, sonst oft ein gefürchteter Begleiter des Fußballwesens, schien durchdie einmalige Stimmung auf Deutschlands Straßen wie weggezaubert.
Jedoch der sonnig-heiße Sommer, derAnfang Juni pünktlich mit dem Anpfiff zum Eröffnungsspiel ausgebrochen war, verausgabtesich im Juli völlig; ihm folgte ein kühler, verregneter August. Zuvor hatteJürgen Klinsmann verkündet, er wolle doch nicht der oberste Motivationstrainerder Nation bleiben. Dann verabschiedete sich die politische Elite mit trübenAussichten für den Herbst in die Ferien. Auf eine restlos verpatzteGesundheitsreform setzte Berlins Große Koalition vor der Sommerpause noch einenzwar gut gemeinten, aber auch völlig ergebnisfreien Integrationsgipfel, umdann das innenpolitische Regieren für ein paar Wochen einzustellen.
Weltpolitisch wurden wir dagegen nurdrei Tage nach dem großen FIFA-Frieden durch einen Krieg im Nahen Ostenunsanft daran erinnert, dass Gewalt zwar keine Lösung für Konflikte,sehr wohl aber ein gängiges Mittel in ihnen ist. Schließlich die islamistischen Kofferbomber von Köln und Dortmund: Nur eindilettantischer Fehler beim Bau ihrer Sprengsätze verhinderte Ende Juli einMassaker in zwei voll besetzten Nahverkehrszügen. Der Terror, in diesem Fall eineextreme Überreaktion auf die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten, drohte auf einmal im eigenen Land. Undim Zuge der Ermittlungen stellte sich sogar heraus, dass die libanesischenTäter ihre Wahnsinnstat ursprünglich während der Weltmeisterschaft verüben wollten.Damit zog noch im Nachhinein der Schatten von München über die ausgelasseneTurnierstimmung: Dort hatte 1972 der Überfall eines palästinensischen Terrorkommandosauf die israelische Olympiamannschaft elf Sportler das Leben gekostet und die»heiteren Spiele« in eine Tragödie verwandelt. Und so machte der Spiegel EndeAugust 2006 denn auch konsequent mit dem Lebensgefühl Angst auf:»Wirtschaftlich haben die Deutschen wieder Tritt gefasst, aber die Partystimmungder Fußball-WM ist verflogen. Die neue Nähe des Terrors und die vorwärtsschleichende politische Stagnation drücken aufsGemüt. Es gibt keine Panik, doch ein altes Leiden der Deutschen lässt grüßen: dieAngst.«
So muss man, wenn man Ende September2006 dieses Vorwort zu einem Buch über Jugendkriminalität in Deutschlandschreibt, auch kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass uns Themen wie diewachsende Gewalt in den Schulen und Problemstadtteilen unseres Landes, dass unsdie gravierenden Probleme bei der Integration zugewanderter Kinder undJugendlicher, dass uns Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel gewisserhalten bleiben. Dass der dramatische Druck zu Veränderungen in unseremföderalen Bildungswesen keineswegs nachlassen wird. Und dass sich bestimmte No-go-Areas für Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbeauch nicht über Nacht in Oasen der Völkerverständigung verwandelt haben. Dennnur weil gottlob während der Weltmeisterschaft in Berlin, Leipzig oder Dortmundkein farbiger Fußballfan zusammengeschlagen wurde, ist das Problem eineslatenten Rassismus, der sich vor allem in den östlichen Bundesländern oft auchgewalttätig manifestiert, j a nicht verschwunden. Nicht zuletzt der Einzug derrechtsradikalen NPD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern hat uns daswieder schmerzhaft deutlich gemacht.
Wohl hat die WM-Euphorie sehr klargezeigt, dass die Bürger unseres Landes der verbreiteten Krisenstimmung seitLangem überdrüssig sind. Aber nach dem Ende der gewiss rundum gelungenenFußball-WM, bei trübem Herbst-und Winterwetter undin den Niederungen von Arbeitsalltag und Koalitionsquerelen wurde ebensodeutlich, dass das allein nicht ausreicht, um die vielfältigen Symptome unsererpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise auch tatsächlich zukurieren. Dazu bedarf es ganz anderer Anstrengungen - seitens der Politik, derUnternehmen und der Institutionen in diesem Lande, vor allem aber seitens jedesEinzelnen.
Ganz gleich, ob als Vater oderMutter, als Lehrer, Erzieherin, Ausbilder oder Imam, als Elternbeirat,Lesepate oder Mitglied eines Stadtteilprojektes, als Sozialarbeiter oderVereinstrainerin, ja sogar als Rädelsführer einer Straßengang - jeder istaufgerufen, unsere Kinder und Jugendlichen auf dem Weg in eine gewiss nichtimmer leichte Zukunft zu unterstützen. Je mehr Menschen Zeichen des Mutes undder Hoffnung gegen Frust und Perspektivlosigkeit setzen, je mehr Bürger sichfür Verbesserungen im Kleinen einsetzen, statt auf den großen Ruck zu warten,je mehr Leute sich grassierender Gewalt und sozialer Desintegrationentschlossen entgegenstellen, desto eher wird sich das Bild an Schulen wie derBerliner Rütli-Schule oder in Stadtteilen wie Hamburg-Billstedt,Köln-Chorweiler und München-Hasenbergl zum Besserenwenden. Je mehr wir uns bemühen, möglichst allen jungen Menschen eine Perspektivein dieser Gesellschaft zu eröffnen, desto weniger wird sich deren Frust inVandalismus und Gewalt entladen: Wenn Jugendliche trotz ihres manchmalproblematischen sozialen oder familiären Hintergrundes auch nur von fern erkennenkönnen, dass eigene Anstrengungen in der Schule, in der Ausbildung oder auch imSportverein tatsächlich etwas bringen, dann werden sie sich auf bessere WeiseRespekt zu verschaffen wissen als durch brutales Zuschlagen, durch martialischeBewaffnung oder die Mitgliedschaft in einer möglichst gefürchteten Bande.Gewaltfrei, so viel ist sicher, werden auf Dauer nur solche Menschen ihreKonflikte und Probleme lösen, die davon überzeugt sind, dass es überhaupt eineLösung für sie gibt.
©Verlagsgruppe Lübbe
- Autor: Rolf Bossi
- 2007, 317 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785722796
- ISBN-13: 9783785722794
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