Die Glasfresser
Roman
Palermo 1978. Der elfjährige Nimbus ist ein Wortfanatiker und fasziniert von der Macht der Sprache. Mit sezierendem Blick analysiert er die Gesellschaft, der er sich nicht zugehörig fühlt. In dem Wunsch, sich abzusetzen, gründet er zusammen mit zwei...
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Produktinformationen zu „Die Glasfresser “
Palermo 1978. Der elfjährige Nimbus ist ein Wortfanatiker und fasziniert von der Macht der Sprache. Mit sezierendem Blick analysiert er die Gesellschaft, der er sich nicht zugehörig fühlt. In dem Wunsch, sich abzusetzen, gründet er zusammen mit zwei Freunden eine Art Aktionszelle nach dem Vorbild der Roten Brigaden, und was wie ein kurioses Kinderspiel beginnt, verwandelt sich nach und nach in einen Höllengang von zunehmender Grausamkeit und Obsession. Bis einer der drei sich auf die Seite der Liebe schlägt...
Klappentext zu „Die Glasfresser “
Palermo 1978. Der elfjährige Nimbus ist ein Wortfanatiker und fasziniert von der Macht der Sprache. Mit sezierendem Blick analysiert er die Gesellschaft, der er sich nicht zugehörig fühlt. In dem Wunsch, sich abzusetzen, gründet er zusammen mit zwei Freunden eine Art Aktionszelle nach dem Vorbild der Roten Brigaden, und was wie ein kurioses Kinderspiel beginnt, verwandeltsich nach und nach in einen Höllengang von zunehmender Grausamkeit und Obsession. <br /><br />Giorgio Vasta zeichnet mit diesem atemberaubenden Psychogramm eines Heranwachsenden nicht nur den Prozess einer Fanatisierung, sondern porträtiert gleichzeitig den Verlust der Unschuld einer ganzen Generation. Ein herausragender Roman, von großem Stilwillen getragen, verstörend und eindringlich.<br /><br />Herausragender internationaler Erfolg: die neue Stimme der italienischen Literatur.<br /><br />
"Wilhelm Meisters Folterjahre. Der Roman ist das Buch der Stunde...weil er etwas verständlich macht, was keine soziologische oder politische Deutung erreicht: die Psychologie des Radikalismus, der sich eben auch in äußerlich ganz friedlichen und wohlversorgten Verhältnissen bahnbrechen kann." -- Welt am Sonntag, 09.01.2011
"Mit großer Verve, gespenstischer Spannung und beeindruckender stilistischer Konsequenz erzählt Giorgio Vasta, Jahrgang 1970, gebürtiger Palermitaner, freier Lektor und Literaturdozent, in seinem Debüt "Die Glasfresser " die Geschichte einer Fanatisierung. Ein politischer Roman mit metaphorischem Gehalt, der zur gegenwärtigen moralischen Verwahrlosung und gesellschaftlichen Verrohung Italiens passt." -- Neue Zürcher Zeitung, 05.04.201
"'Die Glasfresser' liest sich fast wie Scherben schlucken - qualvoll und schmerzhaft. Zugleich ist es stilistisch meisterhaft geschrieben und erinnert mit seinen magischen Elementen und sezierender Genauikeit an den kolumbianischen Autor Gabriel Garcia Márquez." -- Berliner ZeitungStunde...weil er etwas verständlich macht, was keine soziologische oder politische Deutung erreicht: die Psychologie des Radikalismus, der sich eben auch in äußerlich ganz friedlichen und wohlversorgten Verhältnissen bahnbrechen kann." -- Welt am Sonntag, 09.01.2011
"Mit großer Verve, gespenstischer Spannung und beeindruckender stilistischer Konsequenz erzählt Giorgio Vasta, Jahrgang 1970, gebürtiger Palermitaner, freier Lektor und Literaturdozent, in seinem Debüt "Die Glasfresser " die Geschichte einer Fanatisierung. Ein politischer Roman mit metaphorischem Gehalt, der zur gegenwärtigen moralischen Verwahrlosung und gesellschaftlichen Verrohung Italiens passt." -- Neue Zürcher Zeitung, 05.04.201
"'Die Glasfresser' liest sich fast wie Scherben schlucken - qualvoll und schmerzhaft. Zugleich ist es stilistisch meisterhaft geschrieben und erinnert mit seinen magischen Elementen und sezierender Genauikeit an den kolumbia
"Mit großer Verve, gespenstischer Spannung und beeindruckender stilistischer Konsequenz erzählt Giorgio Vasta, Jahrgang 1970, gebürtiger Palermitaner, freier Lektor und Literaturdozent, in seinem Debüt "Die Glasfresser " die Geschichte einer Fanatisierung. Ein politischer Roman mit metaphorischem Gehalt, der zur gegenwärtigen moralischen Verwahrlosung und gesellschaftlichen Verrohung Italiens passt." -- Neue Zürcher Zeitung, 05.04.201
"'Die Glasfresser' liest sich fast wie Scherben schlucken - qualvoll und schmerzhaft. Zugleich ist es stilistisch meisterhaft geschrieben und erinnert mit seinen magischen Elementen und sezierender Genauikeit an den kolumbianischen Autor Gabriel Garcia Márquez." -- Berliner ZeitungStunde...weil er etwas verständlich macht, was keine soziologische oder politische Deutung erreicht: die Psychologie des Radikalismus, der sich eben auch in äußerlich ganz friedlichen und wohlversorgten Verhältnissen bahnbrechen kann." -- Welt am Sonntag, 09.01.2011
"Mit großer Verve, gespenstischer Spannung und beeindruckender stilistischer Konsequenz erzählt Giorgio Vasta, Jahrgang 1970, gebürtiger Palermitaner, freier Lektor und Literaturdozent, in seinem Debüt "Die Glasfresser " die Geschichte einer Fanatisierung. Ein politischer Roman mit metaphorischem Gehalt, der zur gegenwärtigen moralischen Verwahrlosung und gesellschaftlichen Verrohung Italiens passt." -- Neue Zürcher Zeitung, 05.04.201
"'Die Glasfresser' liest sich fast wie Scherben schlucken - qualvoll und schmerzhaft. Zugleich ist es stilistisch meisterhaft geschrieben und erinnert mit seinen magischen Elementen und sezierender Genauikeit an den kolumbia
Lese-Probe zu „Die Glasfresser “
Die Glasfresser von Giorgio Vasta Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann
Nimbus
8. Januar 1978
Ich bin elf Jahre alt, um mich herum durch Katzen-
schnupfen und Räude ausgezehrte krumme Skelette, über denen
sich die Haut spannt. Die Katzen sind voller Krankheiten, wenn
man sie anfasst, kann man sterben. Jeden Nachmittag gibt die
Schnur ihnen im Vorgarten etwas zu fressen. Ich begleite sie
manchmal. Die Katzen kommen uns langsam und schwankend
entgegen, schauen uns aus triefenden, eitrigen Augen an. Unter
den Sterbenden habe ich mir die ausgesucht, der es am schlechtesten
geht, diejenige, die hinten auf den schmalen geteerten Wegen
bleibt, fast wie vom Erdboden verschluckt; sie hört die Schritte
und bewegt langsam den Kopf, wie ein Blinder, der einem Lied
lauscht. Vom Fell stehen nur noch einzelne schwarze Büschel auf
der schrundigen Haut, eine Pfote baumelt verloren zwischen den
anderen; sie hinkte schon, als sie klein war, jetzt ist sie groß, eine
echte Krüppelkatze.
... mehr
Die Schnur stellt den Topf auf das Mäuerchen mit dem blassgrünen
Eisengitter. Während sie mir den Rücken zuwendet, berühre
ich das Eisengitter mit der Zunge, ich schmecke das Chlor des
alten Lacks, den Rost, drehe mich um und schlucke. Ich nehme
mit dem Löffel eine kleine Menge Nudeln mit Fleisch, gehe damit
auf die verkrüppelte Katze zu, kauere mich neben sie und lasse
sie das Fressen riechen. Sie kommt mit ihrem entstellten Gesicht
näher, die Nase verschwindet im Dampf, dann nimmt sie mit zwei
Zähnen einen Klumpen schwarzes Fleisch und fängt an, daran zu
nagen. Die Schnur gibt mir ein Zeichen, sie nicht anzufassen, sagt,
ich soll alles ausschütten und weggehen. Also mache ich einen
kleinen Vulkan aus den Nudeln; die Krüppelkatze nimmt es mit
der Nase wahr, nagt dann hartnäckig weiter an dem Fleischklum-
pen, schiebt jeden Brocken durch die kaputten Zähne, windet den
Kopf, um das Fleisch kleinzukriegen und zu schlucken, um die
Nahrung in Blut zu verwandeln. Als sie fertig ist, kauert sie sich
mit der Schnauze auf die Erde, vor den feuchten kleinen Vulkan,
das verehrungswürdige Götzenbild. Sie hat keinen Hunger mehr,
durch den Fächer ihrer Rippen dringt ein asthmatisches Pfeifen.
Ich berühre sie mit der Spitze des Löffels, sie regt sich nicht, ihrer
Kehle entweicht ein Gurren, wie bei einer Taube. Sie schafft es
noch zu gähnen, macht das Maul auf und schnappt nach Luft .
Dann sackt sie endgültig zusammen, den Kopf in der Mitte eines
Lichtflecks.
Hinter mir die letzten Kratzgeräusche des Schöpflöffels im Topf.
Seit Jahren macht die Schnur um diese Zeit im Garten vor dem
Haus den Topf mit dem Schöpfl öffel leer - eine eifrige Bewegung
von Schulter Arm Hand -, lässt auf der Erde kleine Nudelhaufen
wachsen, ruft, indem sie mit der Zunge schnalzt, wirft einen Blick
in die Runde, um zu sehen, ob es so gut ist, ob es reicht, wäh-
rend die Katzen sich aus allen Richtungen zum Fressen schleppen.
Dann geht sie zurück, den verkrusteten Schöpflöffel in der einen
Hand, den Topf in der anderen: Schwert und Schild.
Jetzt ist sie fertig und hat sich auf eine kleine Bank gesetzt;
sie ruht sich aus. Unauffällig ziehe ich das Stück Stacheldraht
aus der Jackentasche und presse die Stacheln in den Rücken
der Krüppelkatze, da, wo sie kein Fell mehr hat. Die Haut wird
kurz eingedrückt, glättet sich dann wieder; die Katze regt sich
nicht, ihr Kopf schwankt ein wenig, das ist alles. Ich verstärke
den Druck, und die verkrüppelte Katze schüttelt sich, eine kurze
Nervenkrise, ein Aufzucken stumpfer Entrüstung, das nach ein
paar Sekunden erlahmt, und sie versinkt wieder in ihrer alten
Haltung.
Ich stehe auf, stecke den Stacheldraht in die Tasche, gehe weg,
und da ertönt hinter mir ein grauenhafter Schrei. Ich drehe mich
um, und die Krüppelkatze steht auf allen vieren, tut einen Schritt,
dann noch einen, und bei jeder Bewegung fällt ihr der Kopf nach
vorn, um dann wieder zurückzuschnellen und zu erzittern. Sie
fängt an, im Kreis zu gehen, und miaut erneut, angewidert.
Sie ist verrückt geworden, sagt die Schnur hinter mir. Das passiert
oft, wenn Katzen blind werden.
Ich bleibe still und beobachte, wie sie immer schneller im Kreis
geht. Ich spüre die Sonne auf einer Wange.
Das macht sie jeden Tag, fügt die Schnur hinzu. Nach dem
Fressen.
Die Krüppelkatze geht blind und starr weiter, atmet den Schleim
ein. Sie dreht noch eine Runde und stößt ein raues Miauen aus;
dann bleibt sie stehen, fällt in sich zusammen, kauert sich hin,
fängt wieder an, mit dem Kopf zu schlagen; sie sagt, ja, ja, so ist
es, so muss es gehen.
Die Schnur geht auf die Nr. 130 in der Via Sciuti zu. Ich drehe
mich um und folge ihr ins Haus. Der von der tief stehenden Sonne
überflutete Asphalt ist aus Metall, bei jedem Schritt meine ich
einzusinken.
Später trete ich auf den Balkon und halte noch einmal nach der
Krüppelkatze im Garten Ausschau. Von hier aus ist sie ein dunkler
Stein; die anderen Katzen halten sich von ihr fern, machen einen
Bogen, um ihr nicht zu nah zu kommen.
Die Sonne ist jetzt eine trockene Lunge, teilt sich den Himmel
mit dem Mond und der Dämmerung, die dünn herabsinkt, die
Risse auf der Fahrbahn erfasst, die Flecke des Öls, das aus Motoren
tropft, das Gekritzel der Bremsspuren, die am Stamm von
Besenstielen gestützten Bäumchen.
Gestern ist hier unten ein kleiner Junge auf ein Auto zugegangen,
das gerade geparkt hatte. In Dialekt hat er von dem Fahrer Geld
gefordert; der hat ihm gesagt, dass er verschwinden soll, er würde
ihm nichts geben. Der Junge hat auf das Auto gezeigt, hat noch
einmal gefragt, ist stehen geblieben und hat gewartet. Als der Mann
den Schlüssel ins Schloss gesteckt hat, um die Tür abzuschließen,
hat der Junge von einem kleinen Baum in der Nähe einen Ast abge-
brochen, auf die Scheinwerfer und Fenster eingeschlagen, dann den
Ast weggeworfen, sich über einen Reifen gebeugt und durch das
Profil hindurch mit den Zähnen Löcher in den Schlauch gebissen.
Schließlich hat er sich mit ölverschmiertem Gesicht auf den Mann
gestürzt und ihn in die Wangen und die Stirn gebissen.
Als ich die Harfenmusik aus dem Wohnzimmer höre, gehe ich
wieder hinein, um mir Intervallo anzusehen. Das ist als Pausenfüller
gedacht, als Flicken zwischen einer Sendung und der nächsten.
Doch für mich ist es Hypnose.
Die gewölbte Brücke von Apecchio, das Visso-Tal mit verstreuten,
hellen Häusern hier und da. San Ginesio, Gratteri, Pozza di
Fassa. Die Fassaden von Sutri, der weiße Brunnen von Matelica.
Für jede Ansichtskarte ein paar Sekunden, dann Überblendung
und eine neue Karte. Das ewige ländlich-idyllische Italien, errichtet
auf grauem, von Hand behauenem Stein, geschaffen aus Trockenmauern,
geschmückt mit Efeu und Moos, bewohnt nur von
Oskern und Etruskern, einfach, bäuerlich, die Toten ruhen auf
Dorffriedhöfen, Kies zwischen den Gräbern, Knirschen und der
Duft von Gladiolen, im Kies die Beeren der Zypressen, der klare
Himmel, die Rosen. Trugbilder von Landschaften, Täuschung der
nationalen Wahrnehmung. Das Pittoreske, das Lokale, das Prämoderne,
das Unverfälschte. Das schöne halb analphabetische
Italien, das aus Schicklichkeit die Grammatik ignoriert.
Bis vor einem Jahr gab es auch noch Carosello, das Röntgenbild
der Freude. Geblieben ist Intervallo, das langsame Karussell des
Vergessens, eine Puppenstube im Fernsehen.
Dann fangen die Abendnachrichten an. Sie berichten aus Rom.
Von einem Hinterhalt, gestern, in der Via Acca Larentia. Von Schüssen.
Es gab zwei Tote, ein Polizist hat eine Person verletzt. Man sieht
eine mit einem weißen Tuch zugedeckte Leiche. Die Opfer sind
jung und blass, ihre Gesichtszüge wie Kritzeleien im Licht.
Im Fernsehen ist Rom ein Tier. Von oben gefilmt sehen die Häuser
und Straßen aus wie ein Rücken aus Stein. Ein mineralisches
Tier. Mit Toten drin. Die es hervorbringt oder vielleicht anzieht.
Auf jeden Fall stirbt man nur in Rom. Also nehme ich die Toten
von Rom, ziehe sie einen nach dem anderen heraus - aus der Via
Acca Larentia und aus all den anderen Straßen - und bringe sie in
das Italien, das es nicht gibt. Ein Toter liegt auf dem Kiesbett unter
der Brücke von Apecchio, einer hängt an den Zinnen des Castello
di Caccamo, einer treibt leblos im Gewässer von Civitanova Marche,
und ein anderer klemmt zwischen den Felsen der Nekropolis
von Pantalica. Ich gebe Italien seine Toten zurück.
Die Schnur kommt, sagt mir, dass wir bald zu Abend essen.
»Bin ich je in Rom gewesen?«, frage ich sie.
»Gleich nach der Geburt«, antwortet sie.
»Und dann?«
»Dann nicht mehr. Ich bin auch nie wieder da gewesen.«
»Kann ich dahin?«
»Warum?«
Darauf habe ich keine präzise Antwort, also sage ich nichts.
»Allein nicht«, sagt sie noch.
»Können wir dahin?«, frage ich genauer.
Sie starrt auf den Bildschirm, hebt einen Finger zum Mund,
knabbert an der Nagelhaut herum.
»Vielleicht«, sagt sie.
»Wann?«
»Wir können es Ostern versuchen.«
Die Schnur starrt immer noch auf den Bildschirm, sie spricht
mit mir, ohne sich zu mir umzudrehen.
»Bin ich schon mal in Apecchio gewesen?«, frage ich.
»Nein«, sagt sie. »Kenne ich nicht. Wo ist das?«
»Ist nicht wichtig«, sage ich.
»Willst du dahin?«
»Nein.«
»Warum willst du nach Rom?«, fragt sie noch einmal.
»Wegen der Toten«, rutscht es mir heraus.
»Was?«, fragt sie, dreht sich um und sieht mich an, die Kuppe
des Ringfingers zwischen den Zähnen.
»Weil ich es nicht kenne«, sage ich.
Als der Stein nach Hause kommt, sind der Lappen und ich schon
im Bett. Wir liegen nicht im Bett, sondern sitzen darauf; er im
Schlafanzug, ich angezogen. Die Betten stehen hintereinander an
einer Wand des Zimmers. Sie passen perfekt hinein. Sie sind gleich.
Ich und der Lappen, wir sind nicht gleich; ich bin entwickelt, er
ist winzig und natürlich; ich despotisch, er demokratisch und
kompromisslerisch.
Während der Stein zum Abendessen in die Küche geht, hören
ich und der Lappen Radio, stecken die Finger in die grob gewebte
Wolldecke und schließen sie zur Faust, weil wir dieses Gefühl des
Gefesseltseins mögen.
Der Stein kommt ins Zimmer, die Lippen noch feucht vom
Essen. Er macht das Radio aus, nimmt ein Buch von der Konsole
und setzt sich zwischen uns. Das Buch ist groß, mit einem
festen Einband, wie lackiert. Man sieht einen blonden, zarten
Knaben, der in Tierfelle gehüllt ist, die Brust glatt, der Blick
himmelblau und entrückt. Er spielt Harfe, zu seinen Füßen ein
Schaf mit einem törichten Blick. Im Hintergrund Jesus bei seinem
Einzug in Jerusalem; um ihn herum die weiß gekleidete,
ihn verehrende Menge. Oben, in Blockschrift , DIE GRÖSSTE
GESCHICHTE ALLER ZEITEN. Die grafische Synthese der
Spiritualität aus der Sicht der Edizioni Paoline. Mildes Mahnen.
Sanft-strenge Langeweile. Mitleid erregende Einfalt. Die Religion
in Pastell.
Die Pfeiler meines jungen, tapferen Atheismus.
Schon als wir noch nicht lesen konnten, hat der Stein uns aus
der Bibel vorgelesen. Er tut es nicht, weil er gläubig ist, und auch
nicht zur Ergänzung des Katechismusunterrichts oder aus Respekt
vor der Heiligen Schrift. Er tut es aus Gewohnheit. Um nichts zu
versäumen. Wegen der stillen Kraft der Trägheit, die unser Familienleben
regiert. Nur dass er schlecht liest, mit demütigem Eifer
und einer schwankenden Stimme, die sich bei den Vokalen spreizt.
Während der Lappen sich auf dem Bett mit den Füßen zum Kissen
ausstreckt, nehme ich meine Zuhörposition ein: Rücken gerade,
Nacken gegen die Wand, Arme verschränkt, Beine im Schneider-
sitz: unbequem, aber konsequent; ich erschaffe mir eine atheistische
Aureole.
Eines Abends, beim Vorlesen, hat der Lappen auf das kleine
Stück Wand gezeigt, an das ich mich lehnte. Ich habe mich umgedreht,
und genau auf der Höhe meines Nackens war ein ovaler,
glänzender Fleck, der sich von einer intensiveren Mitte her zu
einem pfirsichfarbenen Ton abschwächte, bevor er in das Weiß
des Putzes überging. Das war der Druck meines Hinterkopfs, die
langsame Korrosion des Zuhörens. So pflege ich, wenn ich abends
den Nacken gegen die Wand lehne, meine Aureole. Eher noch:
meinen Nimbus. Denn nimbatus, sagt die Schrift, ist das Wort, das
den Heiligen mit Strahlenkranz bezeichnet. Und Nimbus - ›kleine
Wolke‹, ›Kreis aus duftiger Luft‹ - ist das Wort, das meine natürliche
übernatürliche Umhüllung beschreibt.
Gestern haben wir vom Propheten Jona gehört, der drei Tage
im Bauch eines Wals bleibt und erfüllt von Worten ist, als er
heraus kommt. Heute hören wir von Hesekiel, dem Propheten
des Glanzes. Er ist in ein blaues Gewand gekleidet, leuchtend
und herrlich. Sein Kopf ist mit einem gelben Tuch bedeckt, sein
Bart und seine Augenbrauen sind weiß. Hesekiel ist der Seher, der
Bildmächtige, der reine und wahnsinnige Alte. Auch ich - der
reine und wahnsinnige Junge - möchte durch die Welt ziehen und
predigen, erfüllt von Worten wie Jona, voller Bilder wie Hesekiel,
meiner Redelust freien Lauf lassen, diesem Fieber in der Kehle.
Vor einigen Monaten, bei den Prüfungen der fünften Klasse, als
ich erzählte und das Erzählen mich beflügelte, sich selbst beflü-
gelte und mich berauschte und der Boden des Klassenzimmers
um mich herum von Sonne überflutet war - Gugliotta, Chiri,
D'Avenia und alle anderen saßen in ihren Bänken und hörten
mir still zu, und in meiner Gesäßtasche war ein Stapel kostbarer
Bildchen, das schwarze Gesicht von Beppe Furino gegen eine
Pobacke gedrückt -, hatte ich das Gefühl, endlos weitermachen
zu können und dass die Sprache eine Epidemie wäre, vor der es
keine Rettung gibt. Ich sprach weiter, fest in der Sonne und in
der Wahrnehmung der anderen, beschrieb Naturwissenschaften
und Geografie, überschritt freudig Grenzen, ließ mich fortreißen,
bis die Lehrerin mich entschärfte, indem sie mir mit einem
Lächeln eine Hand in Höhe des Herzens auflegte und sagte: Du
bist mythopoetisch.
Ich setzte mich wieder hin, noch mit dem Wohlgefühl und dem
Unbehagen über ihre mageren Finger auf meiner Brust. Während
ein Mitschüler meinen Platz am Pult einnahm und sich zu
verhaspeln begann, fragte ich leise Chiri und D'Avenia. Keiner
kannte das Wort. Zu Hause schlug ich dann nach. Mythopoetisch.
Erfinder von Worten. Und ich war zufrieden. Dankbar und
bewegt. Anerkannt.
Auch jetzt, während der Stein liest, bin ich mythopoetisch, weil
ich Phänomene in Worte verwandele. Die exakten Begriff e kenne
ich aus der Enzyklopädie Il Modulo und aus den Ricerche-Heft en
der Edizioni Salvadeo. Dünn, hellgelb, die Fotos in Farbe. Auf
der Rückseite des Fotos der Text, der es beschreibt. Informationen,
präzise Termini. Jede Nummer ist einem Thema gewidmet.
Tiere. Geschichte. Himmel und atmosphärische Phänomene.
Meer. Naturwissenschaft und Technik. Tropische Pflanzen. Mit
der Schere schneidet man die Bilder aus und klebt sie am Rand
ins Heft, sodass man das Foto anheben und den Text auf der
Rückseite lesen kann; dann spielt man bis zum Abend mit dem
Klebstoff an den Fingern.
Während der Lappen mit dem Kopf auf die Buchseiten sinkt
und die Stimme des Steins die Sätze weiterhin deformiert herausbringt,
arbeite ich an der Vertiefung meines Nimbus und konzentriere
mich auf das Weidenkörbchen, in dem nicht mehr benutztes
Spielzeug liegt - die zylindrische Form, die herausstehenden Faserfragmente
-, auf die unterschiedlichen Weißtöne des lackierten
Bücherregals, auf die Dagobert-Duck-Puppe mit dem Überrock
aus abgegriffenem Gummi, auf das zu einem schäbigen Rosa verblasste
Bambi, auf das Bildchen mit dem lockigen Knaben, der eine
kitschige Blume in den Händen hält und mich anlächelt.
Den Nacken gegen die Wand gepresst, ist mein Kopf übervoll
mit Wörtern, ganzen Sätzen, die Blitze ausstoßen, und ich muss in
Gedanken aufzählen, was ich sehe: den Kleiderständer mit Jacken,
den grünen Filzhut eines besiegten Cowboys, den Grubenhelm
mit dem kaputten Lämpchen, und dann die flammende Maserung
der Tür, die Astknoten hier und da und die zehn Zentimeter lange
Schramme, die ich vor ein paar Tagen mit dem Stacheldraht neben
der Klinke eingeritzt habe.
Auf dem Höhepunkt, im Triumph der Sprache, ströme ich über.
»Nein«, sage ich und löse mit einem Mal den Nacken von der
Wand, und es scheint mir kein Wort, sondern eine Pforte.
Der Lappen rührt sich und schaut mich an: eine sanft e Enttäuschung,
friedlich. Der Stein hört auf zu lesen.
»Was ist los?«, fragt er.
»Nichts«, sage ich. »Ich hab das nicht verstanden.«
Er sieht mich prüfend an, dann liest er weiter: »Um zu beweisen,
dass Gott die Macht hat, den Toten das Leben zurückzugeben,
erzählte der Prophet: ›Der Herr brachte mich im Geist hinaus und
versetzte mich mitten in eine Ebene. Sie war voll von Gebeinen. Er
fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig
werden? Sprich als Prophet über diese Gebeine und sag zu
ihnen: So spricht Gott, der Herr: Ich selbst bringe Geist in euch,
dann werdet ihr lebendig.‹ In der Vision gehorchte der Prophet,
und Knochen rückten an Knochen, darüber liefen Nerven, wuchs
Fleisch, streckte sich Haut, und Geist drang in sie ein, und sie
wurden Menschen.«
Ich rücke näher und strecke den Kopf nach dem aufgeschlagenen
Buch aus. Auf dem Bild ist eine Ebene, auf der weiße verrenkte
Skelette verstreut sind. Im Hintergrund, in massives Blutrot
getaucht, ein sehr kleiner Hesekiel. Ich lege auch um ihn herum die
Toten von Rom, verteile sie über die Ebene, bedecke sie mit weißen
Tüchern, doch Hesekiel prophezeit, und sie schlüpfen darunter hervor,
erheben sich, klopfen sich den Staub ab und gehen davon.
Der Stein legt das Buch beiseite und steht auf, um das Päckchen
Zigaretten zu holen, das er auf dem Schreibtisch gelassen
hat. Während der Lappen unter die Decken schlüpft , das Licht
löscht und einschläft, zündet der Stein sich eine MS an und bleibt
da - die Hosen braun, der Pullover braun, ein Unterarm, der dia-
gonal über der Brust liegt, der Ellbogen in der anderen Hand, die
Zigarette zum Mund geführt und dann wieder von ihm gelöst, die
Finger, die sachte die Wange berühren, die große Brille mit dem
schwarzen Gestell.
Als er das Zimmer verlassen hat, entkleide ich mich, ziehe meinen
hellblauen abgetragenen Schlafanzug an, schlüpfe unter die
Decke und lösche ebenfalls das Licht auf dem Nachttisch.
Mir ist warm, ich schiebe Laken und Decke weg bis ans
Fußende vom Bett, ziehe Hose und Unterhose zu den Knöcheln
hinunter, rolle das Oberteil zum Hals hoch, lasse die Kühle an
meine Haut.
Im Dunkeln, in der Stille, die nur von dem fast nicht wahrnehmbaren
Atmen des Lappens durchdrungen wird, spanne ich
die Kiefer an, lasse die Kehle erstarren, treibe den Krampf in den
Brustkorb und den Unterleib, löse die Arme von den Seiten und
drehe die Handflächen nach oben, winkle die Beine mit den Knien
nach außen an, spüre den Hunger nach Luft, ich bin verkrüppelt
und angestochen: Wie in jeder Nacht seit ein paar Wochen spiele
ich die mythische Infektion, probe, simuliere und stelle mir vor,
wie der Tetanus in mir Gestalt annimmt.
Dann sinke ich in Schlaf, noch ganz am Anfang und völlig
erschöpft .
Der Gott der Infektionen
7. Februar 1978
Vor zwei Monaten, im Dezember, war ich auf dem Land.
Außerhalb von Palermo, an der Straße, die nach Messina führt. Ich
war mit der Schnur, dem Stein und dem Lappen da. Wir waren mit
dem weißen Fiat 127 rausgefahren. Der Stein musste sich Grundstücke
für seine Arbeit anschauen. Aus dem Auto ausgestiegen,
bohrte ich mit der Spitze meiner Turnschuhe ein paar Löcher in
die weiche, braune Erde, dann hob ich den Blick: Dreißig Meter
entfernt war der Stacheldrahtzaun. Er trennte ein Feld vom
nächsten. Er stand aufrecht, war horizontal gespannt, gehalten
von Pflöcken aus grauem Holz, ungefähr einen Meter über der
Erde. Schwarz, unterbrochen von den Knoten mit den Stacheln,
wie eine fortlaufende, enge Schrift. Ich ging hin und berührte
ihn: Er war hart, düster. Der Wind brachte ihn zum Schwingen.
Zwischen den Feldern, an einem Pfosten, lagen kleine, vom Rost
zerfressene Stücke; ich nahm mir zwei davon: das eine zusammengedreht,
das andere leicht gebogen. Ich schlug sie gegeneinander,
damit die Erde abfiel. Sie waren wunderschön. Rötlich, blutig. Ich
wandte mich um und sah in der Ferne den Stein, der mit der
Schnur sprach, der Lappen lehnte am Auto und las einen Comic.
Zart und knotig waren die beiden Stücke. Ich versteckte sie in der
Jackentasche und kehrte um.
Im Auto dachte ich an Tetanus, den Gott der Infektionen, an
die Angst vor Tetanus, an die Schnur, die mir sagt, ich solle nichts
anfassen, nicht zu nah drangehen, wegbleiben, Abstand halten;
die mich streng anschaut, wenn ich einen Hund streichle, weil er
mich beißen wird, und in jedem Hund ist die Tollwut, der Schaum
und das Irresein, wie in Eisen, zerbröckelt zu Körnchen aus Rost,
das psychopathische Bakterium, der Mikroorganismus, der uns
hasst, das Monster, der Zerstörer, und Eisen ist überall, Rost verschlingt
die Dinge und die Körper, Rost ist im Besteck und im
Fleisch, das wir essen, er gelangt in unseren Mund und zersetzt
uns von innen, im Speichel und im Magen, erfüllt uns, wächst in
uns, breitet sich in unserem Körper aus.
Mit der Wange am Fenster und der Hand in der Tasche presste
ich mir einen Stachel in die Handfläche, bis es wehtat; dann
verringerte ich den Druck, zog den Reißverschluss der Tasche
wieder zu und richtete meinen Blick auf die Lichter des Abends.
Später hörte ich mit dem Kopf im Nimbus zu, wie der Stein las.
Als er gegangen war, löschte ich das Licht auf dem Nachttisch,
in dem ich ganz hinten die beiden Stücke Stacheldraht versteckt
hatte, wartete, bis der Lappen einschlief, zog die Hosen runter,
schob das Oberteil hoch, und, halb nackt, im Dunkeln, setzte
ich zum ersten Mal die Krämpfe in Szene, die Sehnsucht nach
der Infektion.
Am Morgen des 7. Februar fällt der Unterricht aus, weil Karneval
ist. Ich bleibe zu Hause und bin unruhig. Weil es noch früh ist und
ich auf den Nachmittag und das Auflodern des Abends warte. Ich
verliere ein wenig Zeit mit Ahnungen, dann verlasse ich das Haus,
gehe die Via Sciuti in Richtung der Via Notarbartolo hinunter,
doch Laufen genügt nicht, das brennende Gefühl wie von Nesseln
in meinem Bauch wird nicht besser.
Hin und wieder, besonders im Sommer, hat die Schnur Nesselsucht.
Sie leidet unter Nesselsucht, doch sie genießt sie auch.
Sie schwelgt in der Nesselsucht. Sie bekommt überall große rote
Flecke, auf den Armen und auf den Beinen, vor allem auf den
Beinen, innen, und zieht nur leichte Sommerkleider an, damit die
Haut atmen kann und der Schmerz gelindert wird. Sie holt alle
Kleider aus dem Schrank und breitet sie nacheinander auf dem
Bett aus, betrachtet sie, berührt sie mit den Fingern, beurteilt sie,
sondert sie aus. Sie untersucht den Inhalt des Kühlschranks, jedes
Fach, sieht sich jedes Lebensmittel einzeln an, ruhig, doch streng,
unbeugsam, und stellt sich vor, mit dieser Ordnung der Welt ein
bisschen Sinn zurückzugeben. Aus dem Arzneischränkchen holt
sie eine Packung nach der anderen hervor, liest die Beipackzettel,
ruft ihren Bruder an, der Arzt ist, macht sich Notizen in einem
Kalender von 1973. Dann lässt sie das Brennen trübselig über sich
ergehen, halb ohnmächtig in ihrem Sessel, die Glieder weit vom
Leib gestreckt, redet über Madenwürmer, über endokrine Störungen,
über ihre eigenen Qualen. Die Schnur ist allergisch gegen
sich selbst, gegen ihren Atem. Dagegen, auf der Welt zu sein. Mit
mir zusammenzuleben, mit dem Stein und dem Lappen. Und
indem sie sich dagegen wehrt, hat sie diese Krankheit auch auf
mich übertragen.
Ich biege nach links ab, komme in die Via Nunzio Morello.
Fast an der Ecke, hinter der Kirche San Michele, ist das Schreibwarengeschäft.
Der Inhaber leidet auch unter Krämpfen. Aber das
ist nicht Tetanus und auch nicht Nesselsucht, ich glaube, es ist
ein Hirnschaden. Seine Bewegungen sind krampfhaft gewunden,
wenn er spricht, kommt ein Schrei heraus, dann sehe ich seine
fleischige Zunge, das violette Zungenbändchen. Wenn ich in die
Via Nunzio Morello gehe, bin ich mittlerweile davon überzeugt,
dass er Nunzio Morello ist. Dass es sein Name ist.
Ich trete ein, er steht hinter der Ladentheke. Normalerweise
frage ich ihn nach Rubbelbildchen. Heute nicht. Ich schaue ihm
in die Augen, zeige auf ein Glas, er windet sich wie ein Reptil,
dann greift er danach, stellt es auf den Tresen. Schnaufend
schraubt er den Deckel auf, steckt die Hand hinein, wühlt darin
herum, holt einen Gummiball heraus. Er ist blau, marmoriert,
sieht aus wie der Himmel. Ich lege die Münzen auf die Theke
und gehe.
Ich gehe schnell, unruhig, die Adern voller Keime. Hinter dem
Kiosk vor der Kirche mache ich halt und nehme den Ball fest in
die Faust. Er ist hart, kompakt. Macht meine Handfläche glücklich.
Das perfekte Geschenk für später, wenn ich zwischen meiner
Angst und meinem Begehren schwanke. Mich ihr zu nähern, mit
ihr zu sprechen. Die Regel zu brechen, die ich mir auferlegt habe:
sie mir weiter aus der Ferne vorzustellen.
Ich setze den Heimweg fort, gehe am Haus vorbei, biege nach
links ab und komme in die Via Cilea. Zum Zoogeschäft . Ich
trete ein und grüße. Um mich herum Rassekatzen, schwarze
Zwergpudel ohne Augen, Cockerspanielwelpen, die sich auf die
Ohren treten, ein paar Küken, die schrecklichen Kanarienvögel.
Ich gehe zum Aquarium. Beobachte, wie sich die Fische in dem
Unterwasserblau bewegen, betrachte meine Gesichtszüge, die
20 sich hinter der Scheibe auflösen, im Blubbern der Bläschen, die
langsam vom Belüftungsstein hochsteigen, durch meine Haare
schwimmen mikroskopisch kleine, leuchtende Fische. Meine
Haare sind dicht, fest, hellbraun, hier und da flackert es blond
auf, einzelne Strähnen platt auf der Stirn, weil der Stein morgens
vor der Schule versucht, mir einen Scheitel zu ziehen, während
ich an der Hand schnüffele, die meinen Kopf hält, um mich zu
kämmen, die dicke Haut, der gute Geruch von rotem Ziegelstein,
bei dem mir übel wird.
Plötzlich erhöht sich der Druck der Belüftungspumpe und
schleudert mein Gesicht davon: Ich verwandle mich in eine flüssige
Wolke. Ich sage Auf Wiedersehen, gehe hinaus und weiter
durch die Februarstraßen, zwischen den winterlichen Überresten
der verdorrten Bougainvillea, den rötlichen Blüten, die überall
in den Regenpfützen am Rand des Bürgersteigs verfaulen. Weiter
gehe ich so voran, vermesse die Zeit mit dem Raum, doch mir
scheint, ich stehe still. Ich beschleunige, dann noch mehr, eile in
Richtung Schule, und irgendwann laufe ich, den Ball fest in der
Hand, das Herz im Brustkorb, die Ellbogen, die die Luft hinter mir
durchstoßen, die Knie, die sich kräftig heben. Ich renne, zerbeiße,
schlucke den Wind, und im Lauf bin ich makellos. Als ich stehen
bleibe, um wieder zu Atem zu kommen, studiere ich den Raum.
Auf der einen Seite der Piazza De Saliba ist meine Mittelschule,
auf der anderen der riesige offene Platz. Gestern habe ich hier
ein Wettrennen mit Scarmiglia gemacht. Er heißt Dario, Dario
Scarmiglia, aber er nennt sich nur Scarmiglia. Sehr dunkles Haar,
ein kluger Kopf. Er spricht wenig, macht einem nie Mut. Wir sind
in einer Klasse; er lernt, ist gut, aber ohne sich dem Lehrplan
zu unterwerfen, mit einem Denken, das scharf in die Gegenwart
eindringt. Auch er ist, wie ich, düster und ideologisch.
Wir starteten vom Gittertor der Schule und mussten bis zum
Ende des Platzes rennen. Eine Art, unsere Verbindung zu artikulieren,
sie zu skandieren. Kampfgeist, Hierarchien, die Art, wie
auch durch uns die Welt ihre Regeln konsolidiert. Hundert Meter
weiter, am Ende des Platzes, unser Schiedsrichter, Massimo Bocca,
der für mich nur Bocca ist, das Bo mit weit geöffnetem Mund
ausgesprochen. Trotz seines Umfangs klein, fett, eine Fleischkugel.
Auch Bocca ist in einer Klasse mit mir. Bocca, Scarmiglia und ich.
Klar denkend, abgesondert, feindselig. Elfjährige Zeitungsleser,
Fernsehnachrichtenschauer. Beobachter des politischen Geschehens.
Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster. Präadoleszente
Außenseiter.
Aus der Ferne musste Bocca das Startzeichen geben, indem
er mit den Armen wedelte. Leicht nach vorn gebeugt, ein Bein
angewinkelt und das andere bereit loszurennen, warteten Scarmiglia
und ich auf das Signal. Aus den Augenwinkeln sah ich,
dass er konzentriert war, die Lippen halb geschlossen hatte.
Als Bocca die Luft dreimal zerfetzt hatte, warfen wir uns nach
vorn, ganz eng aneinander, einer den Atem des anderen spürend,
die Körper ähnlich, wie Zwillinge im Aufbau von Knochen
und Muskeln. Fast sofort lockerte sich meine Kehle, ich
musste lachen, und Scarmiglia hängte mich zwei Meter ab. Also
strengte ich mich an und holte ihn wieder ein. Aber ich konnte
nicht aufhören ihn anzusehen, meinen Lauf dem seinen anzupassen.
Plötzlich fiel mir ein, wie er mir vor Kurzem, auf dem
Nachhauseweg von der Schule, erzählt hatte, dass Haie in Afrika
Haustiere sind, wie bei uns Hunde, und dass jedes Haus an der
afrikanischen Küste einen aus langen Holzpfählen bestehenden
Käfig im Meer hat, in dem ein kleiner Hai gehalten wird, damit
er nicht in den Ozean davonschwimmt. Er erzählte mir das in
einem vollkommen ernsthaften Ton, wie immer, und ich hatte
keine Zweifel gehegt. Meinerseits hatte ich es tags drauf anderen
weitergesagt und versucht, die Geschichte im gleichen Ton zu
erzählen. Sie hatten sich über mich lustig gemacht. Als ich jetzt,
mitten im Lauf, an die Haie und die Blamage dachte, brach ich
in Lachen aus und wurde langsamer, während Scarmiglia Bocca
erreichte, an ihm vorbeilief und sich umschaute, um mich außer
Atem anzusehen. Als ich, mit tränenden Augen und das Gesicht
noch vor Lachen verzogen, ebenfalls das Ziel erreichte, baute
Scarmiglia sich vor mir auf, fixierte mich, sagte: »Arschloch!«
22 und ging weg, ohne sich umzudrehen.
Die Piazza De Saliba ist jetzt leer. Ich kehre um. Gehe wieder
durch die Via Cilea und bleibe vor dem Zoogeschäft stehen. Ich
sehe mich im Schaufenster an. Den Pullover aus kratziger Wolle.
Den steifen Kragen am Hemd. Den Gürtel aus grobem Leinen mit
der emaillierten Schnalle, auf die ein Auto gemalt ist. Die Hosen
aus blauem Cord mit Flicken auf den Löchern. Die grünbraunen
Turnschuhe.
Ich spiele wieder mit dem Ball herum, einfach so, werfe ihn
gegen die Scheibe, bombardiere mir das Gesicht, die Tiere in
den Boxen schrecken auf und starren mich vorwurfsvoll an - die
Cockerspaniel stumm, die Zwergpudel übelnehmerisch, die Kanarienvögel
flattern im Käfig hin und her, um mich zu verurteilen,
bis die Eigentümerin aus der Tür tritt und mir sagt, ich soll damit
aufhören; unter einem Himmel, an dem sich schwarze Wolken
türmen und der aus jeder Straße einen dunklen Gang macht, reibe
ich zerknirscht den Ball und gehe heimwärts und dann weiter,
zurück in die Via Nunzio Morello. Als ich in den Schreibwaren-
laden komme, blättert Nunzio Morello eine Zeitschrift durch, die
auf der Theke liegt, die Hand, breit wie das Blatt eines Ruders,
fährt methodisch zwischen die Seiten, während der Mund sich
verzieht und Töne der Konzentration von sich gibt. Ohne etwas
zu sagen, lege ich den Ball neben die aufgeschlagene Zeitschrift ;
die Kugel rollt einen Moment über die Risse im Holz, ein dummes
Hin und Her; dann, ganz ruhig, stabilisiert sie sich. Ich zeige
auf das Regal mit den Rubbelbildern: der übliche Utopismus im
Tausch gegen die lauwarmen guten Intentionen. Meine systematische
Feigheit.
Nunzio Morello zeichnet schreckliche Bewegungen in die Luft ,
schiebt mir die Bögen mit den Schlachtfeldern und die transparenten
Blätter mit den Bildchen der Krieger zu; er nimmt den
Ball und legt ihn zurück in das Glas; ich schaue einen Moment
lang dem Blau nach, das sich langsam entzieht, das Geschenk, das
verschwindet. Gedemütigt durch meinen Sinneswandel gehe ich
nach Hause.
Am Nachmittag ziehe ich ein paar Fotos aus Schubladen. Sie
sind fast alle aus den letzten beiden Jahren. Einige habe ich mit
der Polaroid 1000 geschossen. Mir gefällt das Zischen, wenn
der Abzug aus der Kamera kommt, das Warten darauf, dass er
trocknet, das Blasen, damit es schneller geht, wie sich das Bild
abzeichnet, das nie ganz scharf wird, sondern immer vorher auf
hört: blass, gelbstichig, flaschengrün; die Gesichter immer krank,
immer mitgenommen.
Ich schaue mir einen Schnappschuss von meinem Geburtstag
vor zwei Jahren an. Da ist Chiri, da ist Gugliotta, da ist D'Avenia,
in einem matten nachmittäglichen Licht. Auch sie matt. Da bin
ich, die Nase kraus gezogen, man sieht auch den Kopf der Schnur.
Da ist die Torte mit Erdbeeren und Sahne, die weiß-blaue Tüte
Acqua Fabia, da sind die roten Plastikbecher, die Bildchen an der
Wand. Unsere braunen Pullis, unsere elenden Nickis, die Hörner
hinter dem Kopf, die Geste von Fonzie mit dem Daumen, das
Victory-Zeichen, Mittel- und Zeigefinger gestreckt. Da ist das
Lächeln, der Flicken am Ellbogen von Gugliottas Pullover, der
sich um D'Avenias Hals legt, D'Avenia, der nach Luft schnappt
und lacht - die Augen rot, die Pupillen glühend.
Die Schnur stellt den Topf auf das Mäuerchen mit dem blassgrünen
Eisengitter. Während sie mir den Rücken zuwendet, berühre
ich das Eisengitter mit der Zunge, ich schmecke das Chlor des
alten Lacks, den Rost, drehe mich um und schlucke. Ich nehme
mit dem Löffel eine kleine Menge Nudeln mit Fleisch, gehe damit
auf die verkrüppelte Katze zu, kauere mich neben sie und lasse
sie das Fressen riechen. Sie kommt mit ihrem entstellten Gesicht
näher, die Nase verschwindet im Dampf, dann nimmt sie mit zwei
Zähnen einen Klumpen schwarzes Fleisch und fängt an, daran zu
nagen. Die Schnur gibt mir ein Zeichen, sie nicht anzufassen, sagt,
ich soll alles ausschütten und weggehen. Also mache ich einen
kleinen Vulkan aus den Nudeln; die Krüppelkatze nimmt es mit
der Nase wahr, nagt dann hartnäckig weiter an dem Fleischklum-
pen, schiebt jeden Brocken durch die kaputten Zähne, windet den
Kopf, um das Fleisch kleinzukriegen und zu schlucken, um die
Nahrung in Blut zu verwandeln. Als sie fertig ist, kauert sie sich
mit der Schnauze auf die Erde, vor den feuchten kleinen Vulkan,
das verehrungswürdige Götzenbild. Sie hat keinen Hunger mehr,
durch den Fächer ihrer Rippen dringt ein asthmatisches Pfeifen.
Ich berühre sie mit der Spitze des Löffels, sie regt sich nicht, ihrer
Kehle entweicht ein Gurren, wie bei einer Taube. Sie schafft es
noch zu gähnen, macht das Maul auf und schnappt nach Luft .
Dann sackt sie endgültig zusammen, den Kopf in der Mitte eines
Lichtflecks.
Hinter mir die letzten Kratzgeräusche des Schöpflöffels im Topf.
Seit Jahren macht die Schnur um diese Zeit im Garten vor dem
Haus den Topf mit dem Schöpfl öffel leer - eine eifrige Bewegung
von Schulter Arm Hand -, lässt auf der Erde kleine Nudelhaufen
wachsen, ruft, indem sie mit der Zunge schnalzt, wirft einen Blick
in die Runde, um zu sehen, ob es so gut ist, ob es reicht, wäh-
rend die Katzen sich aus allen Richtungen zum Fressen schleppen.
Dann geht sie zurück, den verkrusteten Schöpflöffel in der einen
Hand, den Topf in der anderen: Schwert und Schild.
Jetzt ist sie fertig und hat sich auf eine kleine Bank gesetzt;
sie ruht sich aus. Unauffällig ziehe ich das Stück Stacheldraht
aus der Jackentasche und presse die Stacheln in den Rücken
der Krüppelkatze, da, wo sie kein Fell mehr hat. Die Haut wird
kurz eingedrückt, glättet sich dann wieder; die Katze regt sich
nicht, ihr Kopf schwankt ein wenig, das ist alles. Ich verstärke
den Druck, und die verkrüppelte Katze schüttelt sich, eine kurze
Nervenkrise, ein Aufzucken stumpfer Entrüstung, das nach ein
paar Sekunden erlahmt, und sie versinkt wieder in ihrer alten
Haltung.
Ich stehe auf, stecke den Stacheldraht in die Tasche, gehe weg,
und da ertönt hinter mir ein grauenhafter Schrei. Ich drehe mich
um, und die Krüppelkatze steht auf allen vieren, tut einen Schritt,
dann noch einen, und bei jeder Bewegung fällt ihr der Kopf nach
vorn, um dann wieder zurückzuschnellen und zu erzittern. Sie
fängt an, im Kreis zu gehen, und miaut erneut, angewidert.
Sie ist verrückt geworden, sagt die Schnur hinter mir. Das passiert
oft, wenn Katzen blind werden.
Ich bleibe still und beobachte, wie sie immer schneller im Kreis
geht. Ich spüre die Sonne auf einer Wange.
Das macht sie jeden Tag, fügt die Schnur hinzu. Nach dem
Fressen.
Die Krüppelkatze geht blind und starr weiter, atmet den Schleim
ein. Sie dreht noch eine Runde und stößt ein raues Miauen aus;
dann bleibt sie stehen, fällt in sich zusammen, kauert sich hin,
fängt wieder an, mit dem Kopf zu schlagen; sie sagt, ja, ja, so ist
es, so muss es gehen.
Die Schnur geht auf die Nr. 130 in der Via Sciuti zu. Ich drehe
mich um und folge ihr ins Haus. Der von der tief stehenden Sonne
überflutete Asphalt ist aus Metall, bei jedem Schritt meine ich
einzusinken.
Später trete ich auf den Balkon und halte noch einmal nach der
Krüppelkatze im Garten Ausschau. Von hier aus ist sie ein dunkler
Stein; die anderen Katzen halten sich von ihr fern, machen einen
Bogen, um ihr nicht zu nah zu kommen.
Die Sonne ist jetzt eine trockene Lunge, teilt sich den Himmel
mit dem Mond und der Dämmerung, die dünn herabsinkt, die
Risse auf der Fahrbahn erfasst, die Flecke des Öls, das aus Motoren
tropft, das Gekritzel der Bremsspuren, die am Stamm von
Besenstielen gestützten Bäumchen.
Gestern ist hier unten ein kleiner Junge auf ein Auto zugegangen,
das gerade geparkt hatte. In Dialekt hat er von dem Fahrer Geld
gefordert; der hat ihm gesagt, dass er verschwinden soll, er würde
ihm nichts geben. Der Junge hat auf das Auto gezeigt, hat noch
einmal gefragt, ist stehen geblieben und hat gewartet. Als der Mann
den Schlüssel ins Schloss gesteckt hat, um die Tür abzuschließen,
hat der Junge von einem kleinen Baum in der Nähe einen Ast abge-
brochen, auf die Scheinwerfer und Fenster eingeschlagen, dann den
Ast weggeworfen, sich über einen Reifen gebeugt und durch das
Profil hindurch mit den Zähnen Löcher in den Schlauch gebissen.
Schließlich hat er sich mit ölverschmiertem Gesicht auf den Mann
gestürzt und ihn in die Wangen und die Stirn gebissen.
Als ich die Harfenmusik aus dem Wohnzimmer höre, gehe ich
wieder hinein, um mir Intervallo anzusehen. Das ist als Pausenfüller
gedacht, als Flicken zwischen einer Sendung und der nächsten.
Doch für mich ist es Hypnose.
Die gewölbte Brücke von Apecchio, das Visso-Tal mit verstreuten,
hellen Häusern hier und da. San Ginesio, Gratteri, Pozza di
Fassa. Die Fassaden von Sutri, der weiße Brunnen von Matelica.
Für jede Ansichtskarte ein paar Sekunden, dann Überblendung
und eine neue Karte. Das ewige ländlich-idyllische Italien, errichtet
auf grauem, von Hand behauenem Stein, geschaffen aus Trockenmauern,
geschmückt mit Efeu und Moos, bewohnt nur von
Oskern und Etruskern, einfach, bäuerlich, die Toten ruhen auf
Dorffriedhöfen, Kies zwischen den Gräbern, Knirschen und der
Duft von Gladiolen, im Kies die Beeren der Zypressen, der klare
Himmel, die Rosen. Trugbilder von Landschaften, Täuschung der
nationalen Wahrnehmung. Das Pittoreske, das Lokale, das Prämoderne,
das Unverfälschte. Das schöne halb analphabetische
Italien, das aus Schicklichkeit die Grammatik ignoriert.
Bis vor einem Jahr gab es auch noch Carosello, das Röntgenbild
der Freude. Geblieben ist Intervallo, das langsame Karussell des
Vergessens, eine Puppenstube im Fernsehen.
Dann fangen die Abendnachrichten an. Sie berichten aus Rom.
Von einem Hinterhalt, gestern, in der Via Acca Larentia. Von Schüssen.
Es gab zwei Tote, ein Polizist hat eine Person verletzt. Man sieht
eine mit einem weißen Tuch zugedeckte Leiche. Die Opfer sind
jung und blass, ihre Gesichtszüge wie Kritzeleien im Licht.
Im Fernsehen ist Rom ein Tier. Von oben gefilmt sehen die Häuser
und Straßen aus wie ein Rücken aus Stein. Ein mineralisches
Tier. Mit Toten drin. Die es hervorbringt oder vielleicht anzieht.
Auf jeden Fall stirbt man nur in Rom. Also nehme ich die Toten
von Rom, ziehe sie einen nach dem anderen heraus - aus der Via
Acca Larentia und aus all den anderen Straßen - und bringe sie in
das Italien, das es nicht gibt. Ein Toter liegt auf dem Kiesbett unter
der Brücke von Apecchio, einer hängt an den Zinnen des Castello
di Caccamo, einer treibt leblos im Gewässer von Civitanova Marche,
und ein anderer klemmt zwischen den Felsen der Nekropolis
von Pantalica. Ich gebe Italien seine Toten zurück.
Die Schnur kommt, sagt mir, dass wir bald zu Abend essen.
»Bin ich je in Rom gewesen?«, frage ich sie.
»Gleich nach der Geburt«, antwortet sie.
»Und dann?«
»Dann nicht mehr. Ich bin auch nie wieder da gewesen.«
»Kann ich dahin?«
»Warum?«
Darauf habe ich keine präzise Antwort, also sage ich nichts.
»Allein nicht«, sagt sie noch.
»Können wir dahin?«, frage ich genauer.
Sie starrt auf den Bildschirm, hebt einen Finger zum Mund,
knabbert an der Nagelhaut herum.
»Vielleicht«, sagt sie.
»Wann?«
»Wir können es Ostern versuchen.«
Die Schnur starrt immer noch auf den Bildschirm, sie spricht
mit mir, ohne sich zu mir umzudrehen.
»Bin ich schon mal in Apecchio gewesen?«, frage ich.
»Nein«, sagt sie. »Kenne ich nicht. Wo ist das?«
»Ist nicht wichtig«, sage ich.
»Willst du dahin?«
»Nein.«
»Warum willst du nach Rom?«, fragt sie noch einmal.
»Wegen der Toten«, rutscht es mir heraus.
»Was?«, fragt sie, dreht sich um und sieht mich an, die Kuppe
des Ringfingers zwischen den Zähnen.
»Weil ich es nicht kenne«, sage ich.
Als der Stein nach Hause kommt, sind der Lappen und ich schon
im Bett. Wir liegen nicht im Bett, sondern sitzen darauf; er im
Schlafanzug, ich angezogen. Die Betten stehen hintereinander an
einer Wand des Zimmers. Sie passen perfekt hinein. Sie sind gleich.
Ich und der Lappen, wir sind nicht gleich; ich bin entwickelt, er
ist winzig und natürlich; ich despotisch, er demokratisch und
kompromisslerisch.
Während der Stein zum Abendessen in die Küche geht, hören
ich und der Lappen Radio, stecken die Finger in die grob gewebte
Wolldecke und schließen sie zur Faust, weil wir dieses Gefühl des
Gefesseltseins mögen.
Der Stein kommt ins Zimmer, die Lippen noch feucht vom
Essen. Er macht das Radio aus, nimmt ein Buch von der Konsole
und setzt sich zwischen uns. Das Buch ist groß, mit einem
festen Einband, wie lackiert. Man sieht einen blonden, zarten
Knaben, der in Tierfelle gehüllt ist, die Brust glatt, der Blick
himmelblau und entrückt. Er spielt Harfe, zu seinen Füßen ein
Schaf mit einem törichten Blick. Im Hintergrund Jesus bei seinem
Einzug in Jerusalem; um ihn herum die weiß gekleidete,
ihn verehrende Menge. Oben, in Blockschrift , DIE GRÖSSTE
GESCHICHTE ALLER ZEITEN. Die grafische Synthese der
Spiritualität aus der Sicht der Edizioni Paoline. Mildes Mahnen.
Sanft-strenge Langeweile. Mitleid erregende Einfalt. Die Religion
in Pastell.
Die Pfeiler meines jungen, tapferen Atheismus.
Schon als wir noch nicht lesen konnten, hat der Stein uns aus
der Bibel vorgelesen. Er tut es nicht, weil er gläubig ist, und auch
nicht zur Ergänzung des Katechismusunterrichts oder aus Respekt
vor der Heiligen Schrift. Er tut es aus Gewohnheit. Um nichts zu
versäumen. Wegen der stillen Kraft der Trägheit, die unser Familienleben
regiert. Nur dass er schlecht liest, mit demütigem Eifer
und einer schwankenden Stimme, die sich bei den Vokalen spreizt.
Während der Lappen sich auf dem Bett mit den Füßen zum Kissen
ausstreckt, nehme ich meine Zuhörposition ein: Rücken gerade,
Nacken gegen die Wand, Arme verschränkt, Beine im Schneider-
sitz: unbequem, aber konsequent; ich erschaffe mir eine atheistische
Aureole.
Eines Abends, beim Vorlesen, hat der Lappen auf das kleine
Stück Wand gezeigt, an das ich mich lehnte. Ich habe mich umgedreht,
und genau auf der Höhe meines Nackens war ein ovaler,
glänzender Fleck, der sich von einer intensiveren Mitte her zu
einem pfirsichfarbenen Ton abschwächte, bevor er in das Weiß
des Putzes überging. Das war der Druck meines Hinterkopfs, die
langsame Korrosion des Zuhörens. So pflege ich, wenn ich abends
den Nacken gegen die Wand lehne, meine Aureole. Eher noch:
meinen Nimbus. Denn nimbatus, sagt die Schrift, ist das Wort, das
den Heiligen mit Strahlenkranz bezeichnet. Und Nimbus - ›kleine
Wolke‹, ›Kreis aus duftiger Luft‹ - ist das Wort, das meine natürliche
übernatürliche Umhüllung beschreibt.
Gestern haben wir vom Propheten Jona gehört, der drei Tage
im Bauch eines Wals bleibt und erfüllt von Worten ist, als er
heraus kommt. Heute hören wir von Hesekiel, dem Propheten
des Glanzes. Er ist in ein blaues Gewand gekleidet, leuchtend
und herrlich. Sein Kopf ist mit einem gelben Tuch bedeckt, sein
Bart und seine Augenbrauen sind weiß. Hesekiel ist der Seher, der
Bildmächtige, der reine und wahnsinnige Alte. Auch ich - der
reine und wahnsinnige Junge - möchte durch die Welt ziehen und
predigen, erfüllt von Worten wie Jona, voller Bilder wie Hesekiel,
meiner Redelust freien Lauf lassen, diesem Fieber in der Kehle.
Vor einigen Monaten, bei den Prüfungen der fünften Klasse, als
ich erzählte und das Erzählen mich beflügelte, sich selbst beflü-
gelte und mich berauschte und der Boden des Klassenzimmers
um mich herum von Sonne überflutet war - Gugliotta, Chiri,
D'Avenia und alle anderen saßen in ihren Bänken und hörten
mir still zu, und in meiner Gesäßtasche war ein Stapel kostbarer
Bildchen, das schwarze Gesicht von Beppe Furino gegen eine
Pobacke gedrückt -, hatte ich das Gefühl, endlos weitermachen
zu können und dass die Sprache eine Epidemie wäre, vor der es
keine Rettung gibt. Ich sprach weiter, fest in der Sonne und in
der Wahrnehmung der anderen, beschrieb Naturwissenschaften
und Geografie, überschritt freudig Grenzen, ließ mich fortreißen,
bis die Lehrerin mich entschärfte, indem sie mir mit einem
Lächeln eine Hand in Höhe des Herzens auflegte und sagte: Du
bist mythopoetisch.
Ich setzte mich wieder hin, noch mit dem Wohlgefühl und dem
Unbehagen über ihre mageren Finger auf meiner Brust. Während
ein Mitschüler meinen Platz am Pult einnahm und sich zu
verhaspeln begann, fragte ich leise Chiri und D'Avenia. Keiner
kannte das Wort. Zu Hause schlug ich dann nach. Mythopoetisch.
Erfinder von Worten. Und ich war zufrieden. Dankbar und
bewegt. Anerkannt.
Auch jetzt, während der Stein liest, bin ich mythopoetisch, weil
ich Phänomene in Worte verwandele. Die exakten Begriff e kenne
ich aus der Enzyklopädie Il Modulo und aus den Ricerche-Heft en
der Edizioni Salvadeo. Dünn, hellgelb, die Fotos in Farbe. Auf
der Rückseite des Fotos der Text, der es beschreibt. Informationen,
präzise Termini. Jede Nummer ist einem Thema gewidmet.
Tiere. Geschichte. Himmel und atmosphärische Phänomene.
Meer. Naturwissenschaft und Technik. Tropische Pflanzen. Mit
der Schere schneidet man die Bilder aus und klebt sie am Rand
ins Heft, sodass man das Foto anheben und den Text auf der
Rückseite lesen kann; dann spielt man bis zum Abend mit dem
Klebstoff an den Fingern.
Während der Lappen mit dem Kopf auf die Buchseiten sinkt
und die Stimme des Steins die Sätze weiterhin deformiert herausbringt,
arbeite ich an der Vertiefung meines Nimbus und konzentriere
mich auf das Weidenkörbchen, in dem nicht mehr benutztes
Spielzeug liegt - die zylindrische Form, die herausstehenden Faserfragmente
-, auf die unterschiedlichen Weißtöne des lackierten
Bücherregals, auf die Dagobert-Duck-Puppe mit dem Überrock
aus abgegriffenem Gummi, auf das zu einem schäbigen Rosa verblasste
Bambi, auf das Bildchen mit dem lockigen Knaben, der eine
kitschige Blume in den Händen hält und mich anlächelt.
Den Nacken gegen die Wand gepresst, ist mein Kopf übervoll
mit Wörtern, ganzen Sätzen, die Blitze ausstoßen, und ich muss in
Gedanken aufzählen, was ich sehe: den Kleiderständer mit Jacken,
den grünen Filzhut eines besiegten Cowboys, den Grubenhelm
mit dem kaputten Lämpchen, und dann die flammende Maserung
der Tür, die Astknoten hier und da und die zehn Zentimeter lange
Schramme, die ich vor ein paar Tagen mit dem Stacheldraht neben
der Klinke eingeritzt habe.
Auf dem Höhepunkt, im Triumph der Sprache, ströme ich über.
»Nein«, sage ich und löse mit einem Mal den Nacken von der
Wand, und es scheint mir kein Wort, sondern eine Pforte.
Der Lappen rührt sich und schaut mich an: eine sanft e Enttäuschung,
friedlich. Der Stein hört auf zu lesen.
»Was ist los?«, fragt er.
»Nichts«, sage ich. »Ich hab das nicht verstanden.«
Er sieht mich prüfend an, dann liest er weiter: »Um zu beweisen,
dass Gott die Macht hat, den Toten das Leben zurückzugeben,
erzählte der Prophet: ›Der Herr brachte mich im Geist hinaus und
versetzte mich mitten in eine Ebene. Sie war voll von Gebeinen. Er
fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig
werden? Sprich als Prophet über diese Gebeine und sag zu
ihnen: So spricht Gott, der Herr: Ich selbst bringe Geist in euch,
dann werdet ihr lebendig.‹ In der Vision gehorchte der Prophet,
und Knochen rückten an Knochen, darüber liefen Nerven, wuchs
Fleisch, streckte sich Haut, und Geist drang in sie ein, und sie
wurden Menschen.«
Ich rücke näher und strecke den Kopf nach dem aufgeschlagenen
Buch aus. Auf dem Bild ist eine Ebene, auf der weiße verrenkte
Skelette verstreut sind. Im Hintergrund, in massives Blutrot
getaucht, ein sehr kleiner Hesekiel. Ich lege auch um ihn herum die
Toten von Rom, verteile sie über die Ebene, bedecke sie mit weißen
Tüchern, doch Hesekiel prophezeit, und sie schlüpfen darunter hervor,
erheben sich, klopfen sich den Staub ab und gehen davon.
Der Stein legt das Buch beiseite und steht auf, um das Päckchen
Zigaretten zu holen, das er auf dem Schreibtisch gelassen
hat. Während der Lappen unter die Decken schlüpft , das Licht
löscht und einschläft, zündet der Stein sich eine MS an und bleibt
da - die Hosen braun, der Pullover braun, ein Unterarm, der dia-
gonal über der Brust liegt, der Ellbogen in der anderen Hand, die
Zigarette zum Mund geführt und dann wieder von ihm gelöst, die
Finger, die sachte die Wange berühren, die große Brille mit dem
schwarzen Gestell.
Als er das Zimmer verlassen hat, entkleide ich mich, ziehe meinen
hellblauen abgetragenen Schlafanzug an, schlüpfe unter die
Decke und lösche ebenfalls das Licht auf dem Nachttisch.
Mir ist warm, ich schiebe Laken und Decke weg bis ans
Fußende vom Bett, ziehe Hose und Unterhose zu den Knöcheln
hinunter, rolle das Oberteil zum Hals hoch, lasse die Kühle an
meine Haut.
Im Dunkeln, in der Stille, die nur von dem fast nicht wahrnehmbaren
Atmen des Lappens durchdrungen wird, spanne ich
die Kiefer an, lasse die Kehle erstarren, treibe den Krampf in den
Brustkorb und den Unterleib, löse die Arme von den Seiten und
drehe die Handflächen nach oben, winkle die Beine mit den Knien
nach außen an, spüre den Hunger nach Luft, ich bin verkrüppelt
und angestochen: Wie in jeder Nacht seit ein paar Wochen spiele
ich die mythische Infektion, probe, simuliere und stelle mir vor,
wie der Tetanus in mir Gestalt annimmt.
Dann sinke ich in Schlaf, noch ganz am Anfang und völlig
erschöpft .
Der Gott der Infektionen
7. Februar 1978
Vor zwei Monaten, im Dezember, war ich auf dem Land.
Außerhalb von Palermo, an der Straße, die nach Messina führt. Ich
war mit der Schnur, dem Stein und dem Lappen da. Wir waren mit
dem weißen Fiat 127 rausgefahren. Der Stein musste sich Grundstücke
für seine Arbeit anschauen. Aus dem Auto ausgestiegen,
bohrte ich mit der Spitze meiner Turnschuhe ein paar Löcher in
die weiche, braune Erde, dann hob ich den Blick: Dreißig Meter
entfernt war der Stacheldrahtzaun. Er trennte ein Feld vom
nächsten. Er stand aufrecht, war horizontal gespannt, gehalten
von Pflöcken aus grauem Holz, ungefähr einen Meter über der
Erde. Schwarz, unterbrochen von den Knoten mit den Stacheln,
wie eine fortlaufende, enge Schrift. Ich ging hin und berührte
ihn: Er war hart, düster. Der Wind brachte ihn zum Schwingen.
Zwischen den Feldern, an einem Pfosten, lagen kleine, vom Rost
zerfressene Stücke; ich nahm mir zwei davon: das eine zusammengedreht,
das andere leicht gebogen. Ich schlug sie gegeneinander,
damit die Erde abfiel. Sie waren wunderschön. Rötlich, blutig. Ich
wandte mich um und sah in der Ferne den Stein, der mit der
Schnur sprach, der Lappen lehnte am Auto und las einen Comic.
Zart und knotig waren die beiden Stücke. Ich versteckte sie in der
Jackentasche und kehrte um.
Im Auto dachte ich an Tetanus, den Gott der Infektionen, an
die Angst vor Tetanus, an die Schnur, die mir sagt, ich solle nichts
anfassen, nicht zu nah drangehen, wegbleiben, Abstand halten;
die mich streng anschaut, wenn ich einen Hund streichle, weil er
mich beißen wird, und in jedem Hund ist die Tollwut, der Schaum
und das Irresein, wie in Eisen, zerbröckelt zu Körnchen aus Rost,
das psychopathische Bakterium, der Mikroorganismus, der uns
hasst, das Monster, der Zerstörer, und Eisen ist überall, Rost verschlingt
die Dinge und die Körper, Rost ist im Besteck und im
Fleisch, das wir essen, er gelangt in unseren Mund und zersetzt
uns von innen, im Speichel und im Magen, erfüllt uns, wächst in
uns, breitet sich in unserem Körper aus.
Mit der Wange am Fenster und der Hand in der Tasche presste
ich mir einen Stachel in die Handfläche, bis es wehtat; dann
verringerte ich den Druck, zog den Reißverschluss der Tasche
wieder zu und richtete meinen Blick auf die Lichter des Abends.
Später hörte ich mit dem Kopf im Nimbus zu, wie der Stein las.
Als er gegangen war, löschte ich das Licht auf dem Nachttisch,
in dem ich ganz hinten die beiden Stücke Stacheldraht versteckt
hatte, wartete, bis der Lappen einschlief, zog die Hosen runter,
schob das Oberteil hoch, und, halb nackt, im Dunkeln, setzte
ich zum ersten Mal die Krämpfe in Szene, die Sehnsucht nach
der Infektion.
Am Morgen des 7. Februar fällt der Unterricht aus, weil Karneval
ist. Ich bleibe zu Hause und bin unruhig. Weil es noch früh ist und
ich auf den Nachmittag und das Auflodern des Abends warte. Ich
verliere ein wenig Zeit mit Ahnungen, dann verlasse ich das Haus,
gehe die Via Sciuti in Richtung der Via Notarbartolo hinunter,
doch Laufen genügt nicht, das brennende Gefühl wie von Nesseln
in meinem Bauch wird nicht besser.
Hin und wieder, besonders im Sommer, hat die Schnur Nesselsucht.
Sie leidet unter Nesselsucht, doch sie genießt sie auch.
Sie schwelgt in der Nesselsucht. Sie bekommt überall große rote
Flecke, auf den Armen und auf den Beinen, vor allem auf den
Beinen, innen, und zieht nur leichte Sommerkleider an, damit die
Haut atmen kann und der Schmerz gelindert wird. Sie holt alle
Kleider aus dem Schrank und breitet sie nacheinander auf dem
Bett aus, betrachtet sie, berührt sie mit den Fingern, beurteilt sie,
sondert sie aus. Sie untersucht den Inhalt des Kühlschranks, jedes
Fach, sieht sich jedes Lebensmittel einzeln an, ruhig, doch streng,
unbeugsam, und stellt sich vor, mit dieser Ordnung der Welt ein
bisschen Sinn zurückzugeben. Aus dem Arzneischränkchen holt
sie eine Packung nach der anderen hervor, liest die Beipackzettel,
ruft ihren Bruder an, der Arzt ist, macht sich Notizen in einem
Kalender von 1973. Dann lässt sie das Brennen trübselig über sich
ergehen, halb ohnmächtig in ihrem Sessel, die Glieder weit vom
Leib gestreckt, redet über Madenwürmer, über endokrine Störungen,
über ihre eigenen Qualen. Die Schnur ist allergisch gegen
sich selbst, gegen ihren Atem. Dagegen, auf der Welt zu sein. Mit
mir zusammenzuleben, mit dem Stein und dem Lappen. Und
indem sie sich dagegen wehrt, hat sie diese Krankheit auch auf
mich übertragen.
Ich biege nach links ab, komme in die Via Nunzio Morello.
Fast an der Ecke, hinter der Kirche San Michele, ist das Schreibwarengeschäft.
Der Inhaber leidet auch unter Krämpfen. Aber das
ist nicht Tetanus und auch nicht Nesselsucht, ich glaube, es ist
ein Hirnschaden. Seine Bewegungen sind krampfhaft gewunden,
wenn er spricht, kommt ein Schrei heraus, dann sehe ich seine
fleischige Zunge, das violette Zungenbändchen. Wenn ich in die
Via Nunzio Morello gehe, bin ich mittlerweile davon überzeugt,
dass er Nunzio Morello ist. Dass es sein Name ist.
Ich trete ein, er steht hinter der Ladentheke. Normalerweise
frage ich ihn nach Rubbelbildchen. Heute nicht. Ich schaue ihm
in die Augen, zeige auf ein Glas, er windet sich wie ein Reptil,
dann greift er danach, stellt es auf den Tresen. Schnaufend
schraubt er den Deckel auf, steckt die Hand hinein, wühlt darin
herum, holt einen Gummiball heraus. Er ist blau, marmoriert,
sieht aus wie der Himmel. Ich lege die Münzen auf die Theke
und gehe.
Ich gehe schnell, unruhig, die Adern voller Keime. Hinter dem
Kiosk vor der Kirche mache ich halt und nehme den Ball fest in
die Faust. Er ist hart, kompakt. Macht meine Handfläche glücklich.
Das perfekte Geschenk für später, wenn ich zwischen meiner
Angst und meinem Begehren schwanke. Mich ihr zu nähern, mit
ihr zu sprechen. Die Regel zu brechen, die ich mir auferlegt habe:
sie mir weiter aus der Ferne vorzustellen.
Ich setze den Heimweg fort, gehe am Haus vorbei, biege nach
links ab und komme in die Via Cilea. Zum Zoogeschäft . Ich
trete ein und grüße. Um mich herum Rassekatzen, schwarze
Zwergpudel ohne Augen, Cockerspanielwelpen, die sich auf die
Ohren treten, ein paar Küken, die schrecklichen Kanarienvögel.
Ich gehe zum Aquarium. Beobachte, wie sich die Fische in dem
Unterwasserblau bewegen, betrachte meine Gesichtszüge, die
20 sich hinter der Scheibe auflösen, im Blubbern der Bläschen, die
langsam vom Belüftungsstein hochsteigen, durch meine Haare
schwimmen mikroskopisch kleine, leuchtende Fische. Meine
Haare sind dicht, fest, hellbraun, hier und da flackert es blond
auf, einzelne Strähnen platt auf der Stirn, weil der Stein morgens
vor der Schule versucht, mir einen Scheitel zu ziehen, während
ich an der Hand schnüffele, die meinen Kopf hält, um mich zu
kämmen, die dicke Haut, der gute Geruch von rotem Ziegelstein,
bei dem mir übel wird.
Plötzlich erhöht sich der Druck der Belüftungspumpe und
schleudert mein Gesicht davon: Ich verwandle mich in eine flüssige
Wolke. Ich sage Auf Wiedersehen, gehe hinaus und weiter
durch die Februarstraßen, zwischen den winterlichen Überresten
der verdorrten Bougainvillea, den rötlichen Blüten, die überall
in den Regenpfützen am Rand des Bürgersteigs verfaulen. Weiter
gehe ich so voran, vermesse die Zeit mit dem Raum, doch mir
scheint, ich stehe still. Ich beschleunige, dann noch mehr, eile in
Richtung Schule, und irgendwann laufe ich, den Ball fest in der
Hand, das Herz im Brustkorb, die Ellbogen, die die Luft hinter mir
durchstoßen, die Knie, die sich kräftig heben. Ich renne, zerbeiße,
schlucke den Wind, und im Lauf bin ich makellos. Als ich stehen
bleibe, um wieder zu Atem zu kommen, studiere ich den Raum.
Auf der einen Seite der Piazza De Saliba ist meine Mittelschule,
auf der anderen der riesige offene Platz. Gestern habe ich hier
ein Wettrennen mit Scarmiglia gemacht. Er heißt Dario, Dario
Scarmiglia, aber er nennt sich nur Scarmiglia. Sehr dunkles Haar,
ein kluger Kopf. Er spricht wenig, macht einem nie Mut. Wir sind
in einer Klasse; er lernt, ist gut, aber ohne sich dem Lehrplan
zu unterwerfen, mit einem Denken, das scharf in die Gegenwart
eindringt. Auch er ist, wie ich, düster und ideologisch.
Wir starteten vom Gittertor der Schule und mussten bis zum
Ende des Platzes rennen. Eine Art, unsere Verbindung zu artikulieren,
sie zu skandieren. Kampfgeist, Hierarchien, die Art, wie
auch durch uns die Welt ihre Regeln konsolidiert. Hundert Meter
weiter, am Ende des Platzes, unser Schiedsrichter, Massimo Bocca,
der für mich nur Bocca ist, das Bo mit weit geöffnetem Mund
ausgesprochen. Trotz seines Umfangs klein, fett, eine Fleischkugel.
Auch Bocca ist in einer Klasse mit mir. Bocca, Scarmiglia und ich.
Klar denkend, abgesondert, feindselig. Elfjährige Zeitungsleser,
Fernsehnachrichtenschauer. Beobachter des politischen Geschehens.
Konzentriert und schonungslos. Kritisch, finster. Präadoleszente
Außenseiter.
Aus der Ferne musste Bocca das Startzeichen geben, indem
er mit den Armen wedelte. Leicht nach vorn gebeugt, ein Bein
angewinkelt und das andere bereit loszurennen, warteten Scarmiglia
und ich auf das Signal. Aus den Augenwinkeln sah ich,
dass er konzentriert war, die Lippen halb geschlossen hatte.
Als Bocca die Luft dreimal zerfetzt hatte, warfen wir uns nach
vorn, ganz eng aneinander, einer den Atem des anderen spürend,
die Körper ähnlich, wie Zwillinge im Aufbau von Knochen
und Muskeln. Fast sofort lockerte sich meine Kehle, ich
musste lachen, und Scarmiglia hängte mich zwei Meter ab. Also
strengte ich mich an und holte ihn wieder ein. Aber ich konnte
nicht aufhören ihn anzusehen, meinen Lauf dem seinen anzupassen.
Plötzlich fiel mir ein, wie er mir vor Kurzem, auf dem
Nachhauseweg von der Schule, erzählt hatte, dass Haie in Afrika
Haustiere sind, wie bei uns Hunde, und dass jedes Haus an der
afrikanischen Küste einen aus langen Holzpfählen bestehenden
Käfig im Meer hat, in dem ein kleiner Hai gehalten wird, damit
er nicht in den Ozean davonschwimmt. Er erzählte mir das in
einem vollkommen ernsthaften Ton, wie immer, und ich hatte
keine Zweifel gehegt. Meinerseits hatte ich es tags drauf anderen
weitergesagt und versucht, die Geschichte im gleichen Ton zu
erzählen. Sie hatten sich über mich lustig gemacht. Als ich jetzt,
mitten im Lauf, an die Haie und die Blamage dachte, brach ich
in Lachen aus und wurde langsamer, während Scarmiglia Bocca
erreichte, an ihm vorbeilief und sich umschaute, um mich außer
Atem anzusehen. Als ich, mit tränenden Augen und das Gesicht
noch vor Lachen verzogen, ebenfalls das Ziel erreichte, baute
Scarmiglia sich vor mir auf, fixierte mich, sagte: »Arschloch!«
22 und ging weg, ohne sich umzudrehen.
Die Piazza De Saliba ist jetzt leer. Ich kehre um. Gehe wieder
durch die Via Cilea und bleibe vor dem Zoogeschäft stehen. Ich
sehe mich im Schaufenster an. Den Pullover aus kratziger Wolle.
Den steifen Kragen am Hemd. Den Gürtel aus grobem Leinen mit
der emaillierten Schnalle, auf die ein Auto gemalt ist. Die Hosen
aus blauem Cord mit Flicken auf den Löchern. Die grünbraunen
Turnschuhe.
Ich spiele wieder mit dem Ball herum, einfach so, werfe ihn
gegen die Scheibe, bombardiere mir das Gesicht, die Tiere in
den Boxen schrecken auf und starren mich vorwurfsvoll an - die
Cockerspaniel stumm, die Zwergpudel übelnehmerisch, die Kanarienvögel
flattern im Käfig hin und her, um mich zu verurteilen,
bis die Eigentümerin aus der Tür tritt und mir sagt, ich soll damit
aufhören; unter einem Himmel, an dem sich schwarze Wolken
türmen und der aus jeder Straße einen dunklen Gang macht, reibe
ich zerknirscht den Ball und gehe heimwärts und dann weiter,
zurück in die Via Nunzio Morello. Als ich in den Schreibwaren-
laden komme, blättert Nunzio Morello eine Zeitschrift durch, die
auf der Theke liegt, die Hand, breit wie das Blatt eines Ruders,
fährt methodisch zwischen die Seiten, während der Mund sich
verzieht und Töne der Konzentration von sich gibt. Ohne etwas
zu sagen, lege ich den Ball neben die aufgeschlagene Zeitschrift ;
die Kugel rollt einen Moment über die Risse im Holz, ein dummes
Hin und Her; dann, ganz ruhig, stabilisiert sie sich. Ich zeige
auf das Regal mit den Rubbelbildern: der übliche Utopismus im
Tausch gegen die lauwarmen guten Intentionen. Meine systematische
Feigheit.
Nunzio Morello zeichnet schreckliche Bewegungen in die Luft ,
schiebt mir die Bögen mit den Schlachtfeldern und die transparenten
Blätter mit den Bildchen der Krieger zu; er nimmt den
Ball und legt ihn zurück in das Glas; ich schaue einen Moment
lang dem Blau nach, das sich langsam entzieht, das Geschenk, das
verschwindet. Gedemütigt durch meinen Sinneswandel gehe ich
nach Hause.
Am Nachmittag ziehe ich ein paar Fotos aus Schubladen. Sie
sind fast alle aus den letzten beiden Jahren. Einige habe ich mit
der Polaroid 1000 geschossen. Mir gefällt das Zischen, wenn
der Abzug aus der Kamera kommt, das Warten darauf, dass er
trocknet, das Blasen, damit es schneller geht, wie sich das Bild
abzeichnet, das nie ganz scharf wird, sondern immer vorher auf
hört: blass, gelbstichig, flaschengrün; die Gesichter immer krank,
immer mitgenommen.
Ich schaue mir einen Schnappschuss von meinem Geburtstag
vor zwei Jahren an. Da ist Chiri, da ist Gugliotta, da ist D'Avenia,
in einem matten nachmittäglichen Licht. Auch sie matt. Da bin
ich, die Nase kraus gezogen, man sieht auch den Kopf der Schnur.
Da ist die Torte mit Erdbeeren und Sahne, die weiß-blaue Tüte
Acqua Fabia, da sind die roten Plastikbecher, die Bildchen an der
Wand. Unsere braunen Pullis, unsere elenden Nickis, die Hörner
hinter dem Kopf, die Geste von Fonzie mit dem Daumen, das
Victory-Zeichen, Mittel- und Zeigefinger gestreckt. Da ist das
Lächeln, der Flicken am Ellbogen von Gugliottas Pullover, der
sich um D'Avenias Hals legt, D'Avenia, der nach Luft schnappt
und lacht - die Augen rot, die Pupillen glühend.
... weniger
Autoren-Porträt von Giorgio Vasta
Giorgio Vasta, 1970 in Palermo geboren, lebt in Turin und arbeitet als Verlagslektor. Er hat Anthologien herausgegeben und mehrere Erzählungen in renommierten Literaturzeitschriften publiziert. Sein Roman Die Glasfresser wurde unter anderem für den bedeutendsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega, nominiert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Giorgio Vasta
- 2011, 315 Seiten, 21 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Ulrich Hartmann
- Übersetzer: Ulrich Hartmann
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421044473
- ISBN-13: 9783421044471
Rezension zu „Die Glasfresser “
"Es ist ein herber, quälender, sehr pointierter Ausflug in eine Gesellschaft, die sich all ihre Monster selbst heranzüchtet." stern, 10.02.2011
Kommentar zu "Die Glasfresser"
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