Die Hauptsachen
DieHauptsachen von Martin Amis
LESEPROBE
Eine der kürzesten dieser Affären - eine der zeitlich amstärksten kondensierten - war der Anlaß, daß ich wieder einmal meine Mutterbesuchte; das war 1977, nicht lange nach ihrer widerwilligen Rückkehr nachEngland. Ich sagte, ich wolle ihr eine Geschichte erzählen. Und ein Fotozeigen.
»Ja, Liebes.«
Vor knapp drei Jahren, sagte ich, hätte ich eine Affäre mit einer jungen Fraugehabt, Lamorna mit Namen. Sie sei damals und sei noch immer mit einem sehrviel älteren Mann verheiratet, Patrick, mit dem ich eine Zeitlang flüchtigbekannt gewesen sei (»Er hatte was mit Gully, Mum«, sagte ich. Gully hatte ichmeinen ersten Roman gewidmet, und jetzt, da ihr die Sache etwas bekanntervorkam, konnte meine Mutter lächeln). Patrick und Lamorna, fuhr ich fort, seiennicht gut miteinander ausgekommen, und sexuell habe sich zu der Zeit in ihrerEhe nichts getan.
»Ja, Liebes.«
Ich sagte, Lamorna und ich seien immer noch Freunde, und kürzlich hätte ichmich mit ihr zum Lunch getroffen... Ich erzählte meiner Mutter nicht, daßLamorna mich mit ihrer Einstellung und ihrem Äußeren beeindruckt hatte - mitihrer Schönheit, mit ihrem klaren Verstand. Lamorna war manisch-depressiv - einZustand, der von einem Psychologen einmal, gewagt, aber denkwürdig, als derArnold Schwarzenegger unter den psychischen Störungen beschrieben wurde. Früherhatte ich sie oft in einem Zustand medikamentös gedämpfter Unruhe erlebt,gedanklich konfus und offenbar bedrängt von kleinen Ängsten, kleinen Feinden.An diesem Tag beim Lunch war ich es, der unruhig war (wegen einer aktuellenHerzensangelegenheit); und Lamorna schlug vor, ich solle mir etwas Unkompaktesbestellen, ein Stew oder ein Frikassee vielleicht, statt mich an einmonolithisches Steak oder Schnitzel zu wagen. Mit innerer Unruhe kannte siesich aus. Mit innerer Unruhe kannte sie sich sehr gut aus... Bei dem Restauranthandelte es sich um das alte Bertorelli s in Queensway, gegenüber derBuchhandlung (beide gibt es seit langem nicht mehr, wie der Erzähler von Moneywenig bekümmert feststellt), und zwischen all dem dunklen Holz und den hellenTischdecken machte Lamorna einen wunderbar frischen Eindruck. Ich bemerkte, wieüblich, mit obsessiver Aufmerksamkeit ihre gesunden und hübschen Zahnreihen;als sie in ihren Tarama-Toast biß, erschienen kleine rosa Stückchen in denschmalen Spalten zwischen ihren Zähnen. Noch nie war sie mir stärker undglücklicher erschienen. Ich glaubte, sie sei endlich im Gleichgewicht. Aber daswar ein Irrtum: ein gewaltiger Irrtum.
»Sie hat von ihrer Tochter erzählt. Und dann hat sie mir das Foto gezeigt, Mum.Sie hat es mir geschenkt.«
»Ja, Liebes.«
Ich nahm es aus der Tasche. Es zeigte ein zweijähriges Mädchen in einemdunklen, um die Brust gesmokten Blümchenkleid mit kurzen Puffärmeln und rosaBesatz. Die Kleine hatte feines blondes Haar. Ihr Lächeln wirkte in sichgekehrt: vergnügt, aber stillvergnügt.
Meine Mutter riß es mir aus der Hand.
»Lamorna sagt, ich sei der Vater. Was meinst du, Mum?«
Sie sah sich das Bild aus verschiedenen Entfernungen an. Sie hielt es aufArmeslänge von sich weg und rückte mit der freien Hand ihre Brille zurecht.Dann besah sie es ganz aus der Nähe. Ohne aufzublicken, sagte sie: »Ohne jedenZweifel.«
Lamorna war noch einige Monate entfernt. Ich saß an meinem Schreibtisch impalacio (das Gebäude hatte etwas Unbewegliches, wie es dem Verfallvorauszugehen pflegt), und mir lag das Fehlen einer anderen Blutsverwandten aufder Seele. Auf der Seele? In der Seele. Irgendwo weit hinten drin.
... Es gab viele Gründe, warum meine Mutter so gern in Spanien lebte, und nichtder geringste von ihnen war der, daß man in den meisten Apotheken rezeptfreiSpeed kaufen konnte. Nach einiger Zeit wurde der von ihr bevorzugte Stoffrezeptpflichtig; also mußte sie zehn Schichten Kleider anziehen, insKrankenhaus gehen und
die Übergewichtige simulieren (im Winter kein Problem, aber nicht
so einfach während der afrikanischen Hitze im Juli und August). Für sie war dieDroge vor allem ein Mittel zur Arbeitseinsparung. Man wußte immer, wenn Mum wasgenommen hatte, denn dann wurde das Haus plötzlich zum Schauplatzgroßangelegter Putzaktionen und Möbelrückereien. Und man sah sie singend vonZimmer zu Zimmer gehen, mit einem Sofa unter dem einen Arm und einem Tischunter dem anderen. Und bei der Gelegenheit im Sommer, von der ich jetztspreche, traf ich sie wieder einmal bei einer größeren Säuberung an - gründlichwie immer, aber nicht mit der sonst üblichen Lebensfreude. Ich glaube, ichfragte sie, ob ihr der Stoff ausgegangen sei. Sie erinnerte mich daran, daß wirmeine Tante Miggy zu einem kurzen Besuch erwarteten. Und natürlich wollte meineMutter das Haus für ihre Schwester so schön wie möglich herausputzen. Wirsagten nichts mehr.
Der Besuch meiner Tante gab mir Anlaß, über den unverstehbar gräßlichen Vorfallim vorigen Dezember nachzudenken - falls dieses Wort das von mir benötigte ist:Kann man über etwas nachdenken, was man nicht verstehen kann? Ich glaube nicht,daß man das kann. Beziehungsweise ich glaube nicht, daß man das tut.
Wie üblich in diesen Jahren verbrachte ich Heiligabend damit, daß ich zunächstalle meine Weihnachtsgeschenke einkaufte, dann mit dem weißen Mini (der inmindestens 50 Prozent aller Fälle ansprang) in ganz London herumfuhr, um meineSchwester, meinen Bruder und vielleicht die Freundin meines Bruders abzuholen,und schließlich, den Wagen voller Geschenke, Flaschen, Chipstüten, Bierdosenund Joints, das große Haus nördlich von Barnet ansteuerte und mich dabei wieein Vampir fühlte, der in seinem vollgestopften Sarg ein Wettrennen mit demSonnenaufgang macht, um vor dem Morgengrauen sein Schloß zu erreichen.Weihnachten war in England eine finstere Zeit, vom 24. Dezember bis Ende Januar(so kam es einem vor) gingen überall die Lichter aus, so daß die ganze Welt soschwarz war wie Aberdeen.
Das Haus am Hadley Common war eine Zitadelle ausschweifender Solvenz - nichtnur zu Weihnachten, sondern an jedem Wochenende. Man spürte deutlich, hier gabes unerschöpfliche Vorräte, einen Weinkeller, ein Faß Malzwhisky, eine riesigeSpeisekammer: hier war man sicher vor Schneestürmen und Streiks. Ich glaube, eswar an diesem Weihnachtsmorgen, daß alle vier Amis, mit Frühstückstabletts aufdem Schoß, Die Reise zum Mittelpunkt der Erde sahen - danach wurde der Pubbesucht, und dann gab es das tagelange, das wochenlange Lunch. Und Kingsley wardas Zentrum aller Heiterkeit und guten Laune, ein Motor des Frohsinns... Ichfühlte mich in diesem Haus so sicher - und anderswo natürlich so unsicher -,daß mich jedesmal in leises Grauen beschlich, wenn ich am Sonntag abend, anirgendeinem Sonntagabend ins Auto stieg und mich auf den Weg zur Autobahnmachte, auf den Weg zum Montag, zu meiner Wohnung, der winzigen Wohnung, zurStraße, zur Arbeit, zum Alltagstrott, zur Welt da draußen. Ein Grauen, das nachdiesem endlosen Weihnachten - diesem Bündel von Sonntagen, von Sonntagen inzweiter und dritter Potenz - noch sehr viel stärker war. Und mehr noch: in derWelt da draußen fehlte jetzt jemand. Am Abend des 27. Dezember 1973 ist meineKusine Lucy Partington verschwunden.
Wir hatten, nach spanischer Sitte, spät zu Abend gegessen, und ich war beimeiner Mutter und meiner Tante in der Küche. Sie standen an der Spüle undmachten sich irgendein heißes Getränk, während ich am Tisch saß und michunerfreulichen, wenig konstruktiven und bis zum Überdruß vertrauten Gedanken anmeine Zähne hingab; kurz zuvor hatte eine Explosion im Oberdeck dafür gesorgt,daß meine linke Nasenseite bei jeder Berührung schmerzte - und daher berührteich sie natürlich immerzu, befühlte sie, testete sie... Ich fuhr aus meinenGedanken, als ich merkte, daß die beiden Schwestern zum erstenmal in meinerGegenwart über Lucy redeten. Die Liebe zu meiner Tante hat eine lange Vorgeschichte:sie und ihre vier Kinder - insbesondere die beiden älteren, Marian und David -waren aus meiner Kindheit und frühen Jugend nicht wegzudenken, und Lucy selbststand mir immer lebhaft vor Augen. Mein Herz also war voll und ganz beteiligt.Aber wo war meine Phantasie?
Immerhin war es nicht das erstemal, daß ich das Fehlen eines Menschen erlebte.Als ich sechs Jahre alt war, fiel meine damals zweijährige Schwester vomGartentisch und landete mit dem Kopf auf dem Steinboden. Einen Tag und eine Nachtlang schwebte sie in Lebensgefahr.* In keiner Weise darauf vorbereitet, diesemoder irgendeinem anderen Tod zu begegnen, fühlte ich mich in ein düsteresGeheimnis gehüllt, in düsteres Heimlichtun und Schweigen. Dieses Gefühl desAusgeschlossenseins, des Herannahens von etwas Farb- und Lautlosem, hatte ichein zweitesmal in der Pubertät, als ich nach einer langen Trennung zu argwöhnenbegann, daß ich meinen Vater nie mehr wiedersehen würde... Aber diese beidenErfahrungen hatten mir keinen Begriff von der Tragweite der gegenwärtigenKatastrophe verschafft. Daß ich wenigstens etwas davon begriff, lag noch inweiter Ferne, nicht räumlich, sondern zeitlich. Das geschah in der Gegend vonRonda, ein paar Meilen von dort, wo wir an diesem Abend saßen, als mein dreiJahre alter Sohn, begleitet vom Hund meiner Schwiegermutter, zum »Forschen« inden Garten ging. Fünfzehn Minuten später kam der Hund zurück, allein. Und esdauerte noch ungefähr eine Stunde, bis wir das Kind gefunden hatten. Damalsbemerkte ich schon nach sehr kurzer Zeit, wie das Gefühl einer offenbar nichtmehr zu steigernden Übelkeit und Panik sich dennoch ständig weiter steigerte.Aber das war 1987, und jetzt spreche ich von war 1974.
Meine Tante lehnte an der Spüle und hielt ihr heißes Getränk mit beiden Händenan sich gedrückt. Und sie sagte mit fester und unbewegter Stimme, es vergehekeine Minute, in der sie nicht an Lucy denke und sich frage, wo sie wohl sei...Ich duckte mich innerlich davor weg - so wenig begriff ich. Ich zog den Kopfein. Ich war fast fünfundzwanzig, aber wie jung war ich da noch, wie furchtbarjung. Und wie lange das dauert, die Jugend, diese Zeit ständiger Hochstapelei,wenn man so tun muß, als verstehe man alles, während man in Wahrheit überhauptnichts versteht. Man hat überhaupt keinen Begriff von Zeit. Ich zog den Kopfein und dachte: Arme Miggy! So was Schreckliches. Sie denkt immer noch jedeMinute an Lucy, und es ist doch schon... neun Monate her.
Neun Monate?
© Hanser Buchverlage
Übersetzung: Werner Schmitz
- Autor: Martin Amis
- 2005, 455 Seiten, 16 Abbildungen, Maße: 12,6 x 19,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmitz, Werner
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446206531
- ISBN-13: 9783446206533
- Erscheinungsdatum: 19.08.2005
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Hauptsachen".
Kommentar verfassen