Die Kolonie
Siebzehn Autoren folgen der Einladung von Mr. Whittier, zwölf Wochen lang in einer Künstlerkolonie zu leben und in dieser Oase der Kreativität ein Meisterwerk zu verfassen. Doch was wie das Paradies klingt, entwickelt sich schnell zu einer wahren Hölle: Die Kolonie ist ein altes Filmtheater - ohne fließend Wasser, ohne Heizung oder Elektrizität. Auch Lebensmittel sind nicht ausreichend vorhanden. Und es gibt keine Fluchtmöglichkeit, da Mr. Whittier jeden Ausgang zumauern lässt, sobald die Schriftsteller eingetroffen sind. Drei Monate müssen die Männer und Frauen in diesem Gefängnis ausharren, Hunger und Durst ertragen, der Enge und der Dunkelheit trotzen. Ein Albtraum, dem keiner gewachsen ist und der schließlich die niedrigsten Instinkte der Eingeschlossenen weckt. Am Ende hat jeder nur noch ein Ziel vor Augen: das nackte Überleben.
Vom Autor des weltweiten Erfolgs »Fight-Club«. Eine schockierende, provokante Abrechnung mit den Exzessen der modernen Gesellschaft.
Einmal mehr beweist Palahniuk: Die Hölle, das sind wir selbst.
Vom Autor des weltweiten Erfolgs "Fight-Club". Eine schockierende, provokante Abrechnung mit den Exzessen der modernen Gesellschaft.
Einmal mehr beweist Palahniuk: Die Hölle, das sind wir selbst.
"Ein lobenswert unbarmherziger Autor, der Inhalt wie Form nicht nur beherrscht, sondern jedes Mal neu für sich selbst erschafft." - Die Berliner Literaturkritik
"Palahniuk ist ein Könner auch der leisen Töne, weiß zuweilen mit einer fast minimalistischen Prosa zu überzeugen." - Süddeutsche Zeitung
"Wissen muss man eigentlich nur, dass Chuck Palahniuk seit einigen Jahren zu den absoluten Kultfiguren der US-Literaturszene zählt, dass er wahrscheinlich einer der zehn besten derzeit lebenden Autoren ist, und dass er etliche Romane geschrieben hat, die es verdient hätten, ebenso kongenial verfilmt zu werden wie die Geschichte von Tyler Durden und seinem privaten Schlägerclub (Fight Club)." - Wiener
Die Kolonie von Chuck Palahniuk
LESEPROBE
Alsder Bus an der Kreuzung hält, wo Genossin Snarkyhatte warten wollen, steht sie dort in einer Flakweste - dunkel oliv - undausgebeulter Tarnhose, die Aufschläge hochgerollt,darunter Infanteriestiefel. Zu beiden Seiten ein Koffer. Mit der schwarzen,straff über den Schädel gezogenen Baskenmütze könnte sie sonst wer sein.
»Eswar ausgemacht . . .«, sagt Sankt Prolapsin das Mikrofon, das über seinem Steuerrad hängt.
UndGenossin Snarky sagt: »Gut.«Sie bückt sich und schnallt einen Gepäckanhänger von einem der Koffer ab.Genossin Snarky stopft den Anhänger in ihre olivgrüneTasche, nimmt den zweiten Koffer und steigt in den Bus. Der andere Kofferbleibt auf dem Bordstein, verlassen, verwaist, allein, und Genossin Snarky setzt sich und sagt: »Okay.«
Siesagt: »Fahr.«
Wiralle hinterließen an diesem Morgen Nachrichten. Vor Sonnenaufgang. Schlichenauf Zehenspitzen mit unseren Koffern dunkle Treppen hinunter, dann durch dunkleStraßen, Müllwagen unsere einzige Gesellschaft. Die Sonne haben wir nichtaufgehen sehen.
NebenGenossin Snarky saß Graf Schandmaul und schrieb ineinen Notizblock, seine Augen huschten hin und her zwischen ihr und seinemKugelschreiber.
UndGenossin Snarky beugt sich zur Seite und sagt: »MeineAugen sind grün, nicht braun, und mein Haar ist von Natur aus so kastanienbraun.« Sie sieht, er schreibt grün, und sagt: »Und ich habeein Tattoo auf der Arschbacke, eine kleine rote Rose.« Ihr Blick senkt sich auf das silberne Diktiergerät in seinerHemdtasche, das winzige Mikrofon daran, und sie sagt: »Schreib nicht: Haaregefärbt. Frauen tönen ihr Haar oder hellen es auf.« Neben ihnen sitzt Mr. Whittierund hält sich mit zitternden fleckigen Händen am verchromten Rahmen seineszusammengeklappten Rollstuhls fest. Neben ihm sitzt Mrs. Clark, ihre Brüste sogroß und schwer, dass sie beinah in ihrem Schoß ruhen. Genossin Snarky wirft einen Blick darauf, lehnt sich an den grauenFlanellärmel des Grafen Schandmaul und sagt: »Reine Zierde, nehme ich an. Undohne Nährwert . . .«
Daswar der Tag, an dem wir unseren letzten Sonnenaufgang verpassten.
Ander nächsten dunklen Kreuzung, wo Schwester Vigilante wartet, hält sie ihredicke schwarze Armbanduhr hoch und sagt: »Wir hatten vier Uhr fünfunddreißigabgemacht.« Sie tippt mit der anderen Hand auf dasUhrglas und sagt: »Jetzt haben wir vier Uhr neununddreißig . . .«
SchwesterVigilante, sie hat ein Etui aus unechtem Leder dabei, mit Riemengriff und einerper Druckknopf verschließbaren Klappe, die die Bibel darin schützt. EineHandtasche nur zu dem Zweck, das Wort Gottes mit sich herumzuschleppen. Überallin der Stadt warteten wir auf den Bus. An Straßenkreuzungen, aufHaltestellenbänken, bis Sankt Prolaps vorfuhr.
Mr. Whittier ziemlich weit vorn mitMrs. Clark. Graf Schandmaul. Genossin Snarky undSchwester Vigilante.
SanktProlaps zieht den Hebel, der die Falttür öffnet, undam Bordstein steht die kleine Miss Rotz. Die Ärmel ihres Pullovers vollgestopft mit schmutzigen Papiertaschentüchern. Sie hebtihren Koffer, und der rattert wie Popcorn in der Mikrowelle. Auf jederTreppenstufe rattert der Koffer laut wie fernes Maschinengewehrfeuer, und MissRotz sieht zu uns hoch und sagt: »Meine Pillen.« Sieschüttelt den Koffer geräuschvoll und sagt: »Vorrat für drei Monate . . .«
Deswegensollte jeder nur eine bestimmte Menge Gepäck mitnehmen. Damit wir allereinpassen.
DieAbmachung lautete: pro Person ein Koffer, aber Mr. Whittierhatte nicht gesagt, wie groß oder was für einer. Als Lady Tramp an Bord stieg,trug sie einen Diamantring von der Größe eines Popcornkorns, in der Hand eineHundeleine, an der Leine ein Lederkoffer auf Rollen.
Sieschwenkt die Hand, der Ring funkelt, und Lady Tramp sagt: »Das ist mein Mann, eingeäschertund zu einem dreikarätigen Diamanten zusammengepresst . . .«
GenossinSnarky beugt sich über den Notizblock, in den GrafSchandmaul schreibt, und sagt: »Facelifting in einem Wort.« Ein paar Straßen weiter, ein paar Ampeln und Kreuzungen weiter,wartet der Killerkoch, er trägt einen Alukoffer, in dem sich, wie von der Handeines Origami-Meisters zu Quadraten gefaltet, seineweißen Unterhosen, T-Shirts und Socken befinden. Außerdem ein Set Küchenmesser.Darunter eine dicke Lage fest gebündelter Hundertdollarscheine. Der ganzeAlukoffer so schwer, dass er ihn mit beiden Händen in den Bus wuchten muss.
DerBus fuhr weiter, unter einer Brücke durch und um einen Park herum, und hielt aneiner Stelle, wo niemand zu warten schien. Dann aber trat der Mann, den wirMissing Link nannten, aus dem Gebüsch. Er hatte einen prallen schwarzenMüllsack in den Armen, mehrfach aufgeplatzt, so dass die karierten Flanellhemdendarin zu sehen waren.
GenossinSnarky, ohne den Blick von Missing Link abzuwenden, sagtzu Graf Schandmaul: »Sein Bart sieht aus wie etwas, das Hemingway zurJagd freigegeben hätte . . .«
DieTräumenden, sie würden uns für verrückt halten. Die jetzt noch im Bett lagen,sie schliefen noch eine Stunde, dann wuschen sie sich das Gesicht, unter denAchseln und zwischen den Beinen, bevor sie wie jeden Tag zur Arbeit gingen.Immer dieselbe Arbeit, dasselbe Leben, jeden Tag.
DieLeute würden Tränen vergießen, wenn sie unser Verschwinden bemerkten, aber siewürden auch Tränen vergießen, wenn wir an Bord eines Schiffes gingen, umirgendwo an einem fernen Ufer ein neues Leben zu beginnen. Auswandern.Pioniere. An diesem Morgen waren wir Astronauten. Entdecker. Wach, während sieschliefen.
DieLeute würden Tränen vergießen, dann aber würden sie wieder kellnern, Häuseranstreichen, Computer programmieren. Als Sankt Prolapsbeim nächsten Halt die Tür aufmachte, sprang eine Katze die Stufen hinauf undrannte durch den Gang zwischen den Sitzen. Der Katze folgte Direktorin Dementi undsagte: »Er heißt Cora.« Der Name der Katze war CoraReynolds. »Der Name stammt nicht von mir«, sagte Direktorin Dementi, Rock undTweedblazer voller Katzenhaare. Ein Revers stark ausgewölbt.
»EinSchulterhalfter«, sagt Genossin Snarky, dicht überdas Diktiergerät in der Hemdtasche von Graf Schandmaul gebeugt. All dies - imDunkeln flüstern, Nachrichten hinterlassen, Heimlichtuerei - war unserAbenteuer. Wenn du vorhättest, für drei Monate auf einer einsamen Insel zustranden: Was würdest du mitnehmen? Sagen wir, für Essen und Wasser wäreausreichend gesorgt, oder jedenfalls würdest du davon ausgehen. Sagen wir, dudarfst nur einen Koffer mitnehmen, weil ihr ziemlich viele sein werdet und derBus, der euch zu der einsamen Insel bringt, nur so und so groß ist.
Waswürdest du in deinen Koffer packen?
SanktProlaps hat Schachteln mit Speckchips und Käseflips mitgenommen,Finger und Kinn schon gelbrot von der Gewürzmischung. Eine knochige Hand amSteuer, kippt er sich mit der anderen die Snacks aus der Schachtel direkt insein hageres Gesicht.
SchwesterVigilante hat eine Einkaufstüte mit Kleidern mitgenommen, obendrauf eine kleineReisetasche.
Mrs. Clark beugte sich über ihre gewaltigen Brüste, wiegte siewie ein Kind in ihren Armen und fragte, ob Schwester Vigilante einenMenschenkopf mitgenommen habe.
UndSchwester Vigilante öffnete die Reisetasche so weit, dass die drei Grifflöchereiner schwarzen Bowlingkugel sichtbar wurden, und sagte: »Mein Hobby|. . .«
GenossinSnarky wendet den Blick von dem in seinen Notizblock schreibendenGraf Schandmaul ab und richtet ihn auf Schwester Vigilantesstraff geflochtenes schwarzes Haar: Keine einzige Strähne ist den Nadelnentkommen.
»Das«,sagte Genossin Snarky, »ist gefärbtes Haar.«
Beimnächsten Halt stand draußen Agent Plaudertasche mit einer Videokamera vorm Augeund filmte den ankommenden Bus. Er hatte einen Stapel Visitenkarten dabei, dieer verteilte, um zu beweisen, dass er Privatdetektiv war. Mit der Videokamera, diewie eine Maske eine Hälfte seines Gesichts verdeckte, filmte er uns, als erdurch den Gang zu einem freien Platz weiter hinten ging, und blendete alle mitseinem Scheinwerfer. Eine Straße weiter stieg der Kuppler an Bord,Pferdescheiße an den Cowboystiefeln. Strohhut in der Hand, Seesack über derSchulter, setzte er sich, schob sein Fenster auf und spuckte braunen Tabaksaftaus, der an der Stahlwand des Busses entlang nach unten segelte.
DieseSachen nahmen wir mit, um drei Monate fernab von der Welt zu existieren. AgentPlaudertasche seine Videokamera. Schwester Vigilante ihre Bowlingkugel. LadyTramp ihren Diamantring. Diese Sachen brauchten wir, um unsere Geschichten zuschreiben. Miss Rotz ihre Pillen und Papiertaschentücher. Sankt Prolaps sein Knabberzeug. Graf Schandmaul seinen Notizblockund sein Diktiergerät.
DerKillerkoch seine Messer.
Indem schlecht beleuchteten Bus beobachteten wir alle Mr. Whittier,den Betreuer des Workshops. Unseren Lehrer. Man sah die fleckige, glänzendeKuppel seines Schädels unter den wenigen, seitlich darüber gekämmten grauenHaaren. Sein Hemdkragen stand senkrecht, ein gestärkter weißer Zaun um seinendünnen, fleckigen Hals.
»DieLeute, vor denen ihr euch davonschleicht«, sagte Mr. Whittier,»wollen nicht, dass ihr was lernt. Sie wollen wissen, was sie von euch zuerwarten haben.«
Mr.Whittier sagte: »Ihr könnt nicht gleichzeitig derMensch sein, den die Leute zu kennen glauben, und der großartige Mensch, derihr werden wollt. Entweder, oder.«
DieLeute, die uns wirklich und aufrichtig lieben, sagte Mr. Whittier,die würden uns ermuntern, zu gehen. Um unseren Traum zu erfüllen. UnserHandwerk auszuüben. Und sie würden uns lieben, wenn wir wieder zurückkämen.
Indrei Monaten.
Dasbisschen Leben, das wir wagten.
Daswir riskierten.
DieseZeit wäre unser Einsatz, den wir auf unsere Fähigkeit setzen, ein Meisterwerkzu erschaffen. Eine Kurzgeschichte, ein Gedicht, ein Drehbuch oder eineBiographie, etwas, das unserem Leben einen Sinn verleihen würde. EinMeisterwerk, mit dem wir uns aus der Sklaverei unserer Ehegatten oder Eltern oderArbeitgeber loskaufen könnten. Das uns die Freiheit geben würde.
Wirfahren durch leere, dunkle Straßen. Miss Rotz fischt ein feuchtes Taschentuchaus ihrem Ärmel und schneuzt sich die Nase. Sieschnieft und sagt: »Als ich da weggeschlichen bin, hatte ich solche Angst, dasssie mich erwischen.« Sie stopft das Tuch in den Ärmelzurück und sagt: »Ich fühle mich wie|. . . Anne Frank.«
GenossinSnarky zieht den Gepäckanhänger aus ihrerJackentasche, das einzige Überbleibsel ihres zurückgelassenen Koffers. Ihreszurückgelassenen Lebens. Sie wendet den An- hängerimmer wieder hin und her, starrt ihn an und sagt: »So gesehen|. . .« Sie sagt: »AnneFrank hatte es echt gut.« Und Sankt Prolaps, den Mund voller Mais-Chips, beobachtet uns imRückspiegel, kaut Salz und Fett und sagt: »Wie bitte?«Direktorin Dementi streichelt ihre Katze. Mrs. Clark streichelt ihre Brüste.Mr. Whittier seinen verchromten Rollstuhl. Untereiner Laterne an einer Kreuzung vor uns wartet die dunkle Silhouette einesweiteren Möchtegernschriftstellers. »Anne Frank«, sagte Genossin Snarky, »musste mit ihrem Buch wenigstens nicht auf Tourgehen.«
UndSankt Prolaps tritt auf die Bremse, reißt das Steuerherum und hält am Straßenrand. ( )
©Manhattan Verlag
Übersetzung:Werner Schmitz
- Autor: Chuck Palahniuk
- 2006, 1, 471 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmitz, Werner
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: MANHATTAN
- ISBN-10: 3442546095
- ISBN-13: 9783442546091
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