Die Lilien von Frankreich
Es hatte geregnet an jenem Morgen in Paris. Von ihremFenster aus gesehen schimmerte das Wasser in den Pfützen wie Blut. Sein Blut.
Er schien so immer wieder zu sterben, in diesem Herbst in Paris:Ludwig von Orleans, der Bruder des Königs, welchen das Volk von Paris hintervorgehaltener Hand der Hexerei und des Diebstahls bezichtigt hatte. Die vonJohann ohne Furcht, dem Herzog von Burgund, gedungenen Mörder hatten ihm vorseinem Tod vor sechs Jahren die linke Hand abgeschlagen. Seit diesem Mordherrschte kein Frieden mehr im Land, das sich ohnehin schon der Angriffe derEngländer unter ihrem neuen König Heinrich dem Fünften erwehren mußte.
Das schmutzige Wasser floß durch die tiefen Rinnsteine vor denhochgelegten Schwellen der stattlichen Häuser an den Boulevards, auf den dichtbebauten Brücken und nahm all den Unrat der Nacht mit sich fort. Das flacheGrau des wolkigen Septemberhimmels erinnerte Isabeau an ein unreines Laken.Die Glocken von Notre-Dame schlugen jene Stunde zwischen dem Gestern und Heute,die frei von jeder Erinnerung und jeder Furcht sein sollte, jene Stunde desinneren Friedens. Isabeau jedoch fühlte sich bereits voller Furcht undZweifel. Die Stadt erwachte: Wem gehörte sie, wem gehorchte sie heute? Gotthatte sein Gesicht abgewandt, von diesem Haus, von diesem Reich, von diesemJahrhundert. Bei ihrem Einzug in Paris vor vielen Jahren hatte man ihr eingoldenes Schiff als Tafelschmuck überreicht: das Sinnbild von Paris.
»Fluctuat nec mergitur!Von Fluten umspült, geht es doch nicht unter ...«, murmelte sie,als sie jetzt so aus dem Fenster sah. Paris stand mittlerweile das Wasser biszum Hals, dachte sie: Einen Steuermann gab es auf diesem Schiff schon langenicht mehr, sondern nur noch Rabauken, die sich an Bord blutig schlugen. Wermachte sich das Ruder nicht alles streitig: ihr Vetter Johann ohne
Und sie selbst? Wer war sie heute? Die Gemahlin des krankenKönigs, Gott beschütze ihn? Die Regentin für ihren leichtlebigen Sohn Ludwig,den Dauphin? Die Königin von Frankreich, frei und stolz? Oder etwa: eineGefangene?
Die Vorstadt Saint-Antoine erwachte vor den hohen Mauern, denweiten Gärten und den Hunderten von Fenstern des Hotel Saint-Paul mit demanbrechenden Tag zum Leben: Karren ratterten über das grobe Pflaster inRichtung der île de la Cité, wo heute auf der Place du Parvis der Marktstattfinden sollte. Die ärmeren Bauern, die schon viele Stunden Fußmarsch hintersich hatten, hatten im Morgengrauen vor den Mauern der Stadt warten müssen. Nunwurden die Tore der Mauer, der Enceinte von Karl demFünften, geöffnet und die Ketten von den Straßen und der Seine gezogen. Aufihrem Weg zum Markt zwangen vor Karren gespannte Maultiere und Esel die Fußgängerbeiseite, und die ärmeren Bauern fluchten derb und warfen zur VergeltungPferdeäpfel hinter den Kutschern her. Fliegende Händler bauten ihre Stände ausgewachstem Tuch auf und schürten das Feuer an, um mit Rosinen gefüllte Äpfel zubacken und Fladen mit zuvor in den Wäldern der Herren gestohlenem Wild zugaren. Die Schmiede brüllten sich den Ruß der Nacht von der Stimme, der Bäckerfächelte geschickt den Duft der warmen Brotlaibe in die Menge, und dieKesselflicker schlugen gegen ihre Ware, daß es dröhnte. Die Schneider rolltendas beste und farbigste Tuch aus, die Schreiber wärmten Siegelwachs undspitzten die Federn, die Tischler und Schnitzer schärften die Sägen, prüftenden Hobel und wetzten den Stahl. Vom Hof der Wunder, der Cour desMiracles nahe der Porte Saint-Denis, und auch aus dem Gewirr derKatakomben zogen die Gaukler, die Schmutzpoeten, die falschen wie die echtenVerkrüppelten, die Bettler und die Taschendiebe aus. Das dichte Gedränge aufder Place du Parvis vor der Kirche versprach ihnen ein gutes Geschäft. DerKüster von Notre-Dame mußte heute wirklich mit seinem ganzen massigen Gewichtin den Glockenseilen hängen, denn sonst hörte man das Läuten doch nicht sodeutlich bis ins Hotel Saint-Paul! wunderte sich Isabeau. An den Klöstern, wie demCouvent Sainte-Croix de la Bretonnerie oder dem Couvent des Bernardins auf deranderen Seite der Seine, öffneten sich die Klappen, um ausgesetzte Kinderaufzunehmen und ungesäuertes Brot und ein Gebräu, mehr Wasser als Suppe, andie Kranken und die Bedürftigen auszuteilen: Weshalb hatte Paris heute nur soviele von ihnen? wunderte sich Isabeau. Frauen eilten über die Höfe durch dieGassen, um Wasser aus den Brunnen zu schöpfen, um Grieß und Hafer an denMühlen zu erstehen oder das Bier für die Morgensuppe zu besorgen. Wie einfachihr Leben doch schien!
Mit einem Mal raffte Isabeau sich auf. Der anbrechende Tag schienihr neue Kraft zu geben: Königin oder Gefangene, heute, an diesem Tag? Wiekonnte sie es nur zulassen, daß die Entscheidung darüber nicht in ihren Händenlag? Sollte sie nicht eher über das Schicksal der Burgunder und derArmagnacs entscheiden als andersherum? Leichter gesagt als getan! Sie preßte einenAugenblick die Hände auf den Steinsims vor den Fenstern ihrer Kemenate im HotelSaint-Paul: Ihre Knöchel traten weiß unter ihrer Haut hervor, die eigentlich zudunkel für die einer Königin war.
Hinter ihr raschelte es nun leise. Sie wandte sich um undsah, wie die junge Hofdame Jehanne de Giac sich auf ihrem Lager vor dem Kaminder Kemenate umdrehte. Das Mädchen schlief dort so fest, daß sie nicht einmalerwacht war, als ein Page Isabeau im Morgengrauen ihr Frühstück gebrachthatte. Der Wein jedoch hatte trotz all der beigefügten Gewürze sauer geschmeckt.Der Kellermeister sollte dafür gestäupt werden. (...)
© Eichborn AG, Frankfurt am Main, Februar 2005
- Autor: Ellen Alpsten
- 2005, 355 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Eichborn
- ISBN-10: 3821809558
- ISBN-13: 9783821809557
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Lilien von Frankreich".
Kommentar verfassen