Die Melodie der Luft
Roman
'Um seine Ehe zu retten und endlich sich selbst zu verstehen, fährt Jonas von Illinois nach Nashville, Tennessee. Dreißig Jahre zuvor machten sich seine Eltern, Einwanderer aus Äthiopien, in dieselbe Richtung auf eine verspätete Hochzeitsreise, nach vielen...
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Produktinformationen zu „Die Melodie der Luft “
'Um seine Ehe zu retten und endlich sich selbst zu verstehen, fährt Jonas von Illinois nach Nashville, Tennessee. Dreißig Jahre zuvor machten sich seine Eltern, Einwanderer aus Äthiopien, in dieselbe Richtung auf eine verspätete Hochzeitsreise, nach vielen Jahren der Trennung. Wonach suchten sie damals, mitten im Herzen Amerikas? Wovon träumten sie und weshalb haben sie sich nicht geliebt? Was wird bleiben von ihrer gemeinsamen Zeit? Ort für Ort erobert sich Jonas das mögliche Leben seiner Eltern, eine Melodie der Erinnerung, die ihm niemand mehr nehmen kann. In dichten poetischen Bildern erzählt Dinaw Mengestu von der Sehnsucht des Menschen nach Heimat und danach, nicht verloren zu gehen.
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Die Melodie der Luft von Dinaw Mengestu1
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Vom Haus meiner Eltern in Peoria, Illinois, bis nach Nashville, Tennessee, waren es siebenhundertachtundsiebzig Kilometer, eine Entfernung, die sich in einem sieben Jahre alten roten Monte Carlo bei einer Geschwindigkeit von etwa fünfundneunzig Stundenkilometern in acht bis zwölf Stunden zurücklegen ließ, je nachdem, wie viele Hinweisschilder einen Abstecher zu historisch bedeutenden Stätten empfahlen oder wie oft meine Mutter Mariam aufs Klo musste. Sie nannten die Reise Urlaub, aber nur deshalb, weil sie sich unwohl mit dem Ausdruck honeymoon fühlten. Darin hatten sich zwei völlig eigenständige Wörter zusammengetan, die sie als einzelne zwar verstanden, die in ihrer Verbindung aber etwas Verschwenderisches anzudeuten schienen, das meine Eltern nicht annehmen konnten. Sie waren kein frisch verheiratetes Paar - die dreijährige Trennung hatte sie zu Fremden werden lassen. Sie unterhielten sich im Flüsterton, halb auf Amharisch, halb auf Englisch, als könnte jedes zu laut gesprochene Wort verraten, dass sie sich im Grunde nie verstanden hatten: In Wahrheit hatte der eine den anderen nie kennengelernt.
Eine neue Sprache zu erlernen war letzten Endes nicht anders, als zu lernen, sich wieder in seinen Ehemann zu verlieben, dachte Mariam. Wenn sie morgens vor dem Badezimmerspiegel stand, sagte sie oft mit einer für ihr Empfinden fast fehlerfreien Aussprache: »Männer können merkwürdig sein. Ehefrauen sind anders.« Diesen Spruch hatte sie von einer der Frauen in der Baptistenkirche, in die sie und ihr Mann jetzt gingen. Nach dem Gottesdienst hatten ein paar Frauen auf dem Parkplatz zusammengestanden, und eine hatte sich an Mariam gewandt und gesagt: »Warten Sie nur ab. Sie werden schon sehen. Männer können sehr merkwürdig sein. Ehefrauen sind einfach anders.«
Damals hatte sie die Äußerung einfach fast wortgenau wiederholt: »Ja. Das stimmt. Männer können wirklich merkwürdig sein«, denn nur so konnte sie sicher sein, dass sie von allen verstanden wurde. Was sie eigentlich hatte sagen wollen, war viel komplizierter und beinhaltete eine ganze Reihe von erheblichen Unterschieden, die man in jeder Hinsicht als unüberbrückbar bezeichnen musste. Trotzdem hatte sie seit ihrer Ankunft in Amerika sechs Monate zuvor alles dafür getan, Neues über ihren Mann zu lernen, zum Beispiel, warum er Selbstgespräche führte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und warum er an manchen Tagen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, zehn oder zwanzig Minuten lang im Auto in der Auffahrt sitzen blieb, während sie durch die Wohnzimmergardinen spähte. Manchmal wachte er nachts auf und verließ das Schlafzimmer, leise, um sie nicht aufzuwecken, was ihm jedoch nie gelang, denn in den meisten Nächten bekam Mariam kaum ein Auge zu. Er legte sich dann nackt aufs Sofa im Wohnzimmer, bis er irgendwann ein leises, weinerliches Stöhnen von sich gab, und dann kam er zurück ins Bett und schlief fest bis zum nächsten Morgen. Meine Mutter lernte diese Dinge und bewahrte sie in einem Winkel ihres Gehirns auf, der in ihrer Vorstellung eigens dafür gedacht war, Informationen über ihren Mann zu speichern. Auf gleiche Weise zwang sie sich, neue englische Wörter auszuprobieren und neue englische Sätze zu bilden, denn so, wie es in ihrem Gehirn einen Platz für ihren Mann gab, gab es auch einen für die englische Sprache, einen für ausländisches Essen und noch einen für die Namen und Straßen in ihrer direkten Umgebung. Sie lernte: »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«. Außerdem lernte sie einzelne Wörter wie »verstreut«, »gewissenhaft« und »sarkastisch«. Sie lernte die Vergangenheitsform. Zum Beispiel: »Gestern war ich müde« anstatt: »Ich bin müde gestern« oder: »Gestern müde ich bin«. Sie lernte, dass die Russell Street die Garfield Avenue kreuzte, die weiter auf die Main Street führte, der man bis zur I 74 folgen konnte, die einen nach Westen oder Osten überall dort hinbrachte, wo man hinwollte. Irgendwann würde all das einen Sinn ergeben. Verben würden am richtigen Platz stehen, Sarkasmus würde komisch sein, die Stadt vertraut: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Ehemann, all das ließ sich begreifen, wenn man nur die nötige Geduld aufbrachte.
Zum damaligen Zeitpunkt ihrer Ehe waren sie länger voneinander getrennt als zusammen gewesen. Sie zählte die Tage, indem sie einige Monate aufrundete und andere abrundete. Auf jeden Tag, den sie gemeinsam verbracht hatten, kamen 3,78 Tage, die sie getrennt gewesen waren. Für sie war das eine Schuld, die getilgt werden musste, auch wenn offenblieb, wer wem etwas schuldig war. Leidet der am stärksten, der zurückgelassen wird, oder der, der allein in die Welt hinausgeschickt wird, um Nahrung zu beschaffen und ein neues Leben aufzubauen? Eigentlich hatte sie Zahlen immer verabscheut, aber da ihr die meisten englischen Wörter, die sie hörte, weiterhin entgingen, gaben die Zahlen ihr nun Trost, und sie suchte überall nach Gelegenheiten, um etwas zusammenzuzählen. Im Lebensmittelladen rechnete sie, noch bevor sie zur Kasse ging, aus, was der Einkauf kosten würde. Eine Dose Erbsen: achtundsiebzig Cent; ein Päckchen Salz: neunundvierzig Cent; eine Tüte Zwiebeln: ein Dollar zehn. Die lächelnden Gesichter an der Kasse hatten immer ein paar Worte für sie übrig, bevor die Summe genannt wurde. Sie verstand keines dieser Wörter, aber was machte das schon? Sie wusste sowieso nicht, wie man sich für ein Kompliment bedankte oder eine scherzhafte Bemerkung machte, und auch die Bedeutung von »Zwei zum Preis von einem« war ihr fremd. Aber sie wusste, welche Zahl am Ende herauskam, und dieses Wissen, das keine Übersetzung brauchte, bedeutete Macht und erfüllte sie mit einem Stolz, wie sie ihn seit ihrer Ankunft in diesem Land nicht mehr verspürt hatte. Es gab ihr einen kurzen Augenblick lang das Gefühl, sie sei eine Frau, die man ernst zu nehmen hatte, eine Frau, die eines Tages von anderen Leuten beneidet werden würde.
Sie erfuhr nie, was ihr Mann in den drei Jahren der Trennung eigentlich durchgemacht hatte, und sie versuchte auch nie, es sich vorzustellen. Sag oft genug Amerika, mach dir ein Bild davon, und heraus kommt ein Maisfeld mit ein paar Wolkenkratzern in der Mitte und Hunderten von herumfahrenden Autos. Das einzige Foto, das sie in den drei Jahren von ihm erhalten hatte, zeigte ihn, halb aus der offenen Tür gelehnt, auf dem Fahrersitz eines großen Autos. Die eine Hand lag am Steuer, die andere ruhte auf seinem Schenkel. Er sah stattlich aus und würdevoll, der Schnurrbart ordentlich gestutzt, das dicke krause Haar zu einer vollkommenen Kugel modelliert, was auf fast unheimliche Weise die Ähnlichkeit seines Kopfes mit dem Globus auf der Kommode ihres Vaters betonte.
Als sie das Foto zum ersten Mal sah, glaubte sie nicht, dass es sich um sein Auto handelte. Sie dachte, er hätte es zufällig am Straßenrand stehen sehen und die Gelegenheit ergriffen anzugeben, und so ungefähr war es auch gewesen. Aber das hielt sie nicht davon ab, das Foto ihrer Mutter, ihren Schwestern und Freundinnen zu zeigen und »Yosef Auto« auf die Rückseite zu schreiben, in Englisch. Sie rechnete damit, dass irgendwann mehr Fotos kommen würden: Fotos, die ihn vor einem großen Haus mit Garten zeigten, Fotos von ihm in Anzug und mit Aktentasche; und als dann später die Tage, Wochen und Monate sich immer weiter angehäuft hatten und aus zwei Jahren fast drei geworden waren, wartete sie auf Bilder, die ihn mit einer Frau im Arm und zwei kleinen Kindern an seiner Seite zeigen würden. Letzteres hatte sie insgeheim seit dem Tag seines Weggangs befürchtet, denn wer hatte schon von einem Mann gehört, der auf seine Ehefrau wartete? So lief das nicht auf der Welt. Männer traten in dein Leben und blieben nur, solange du sie halten konntest. Sie gab den Kindern sogar Namen: Der Junge hieß Adam und das Mädchen Sarah, Namen, die sie für ihre eigenen Kinder nie ausgesucht hätte, denn es waren typische, gewöhnliche Namen, und Mariams Kinder würden, wenn es so weit war, ganz besonders heißen.
Als keine Fotos dieser Art kamen, wollte sie ihm schreiben und ihn um ein Foto bitten, das ihn auf einem Platz oder in einer Grünanlage zeigte, in der Mitte irgendeines Ortes, an dem er nur eine unbedeutende Rolle spielte.
»Zeig mir ein Bild, auf dem du etwas tust«, hatte sie ihm schreiben wollen, aber das traf es nicht genau. In Wahrheit wollte sie ein Foto, auf dem sie ihn in voller Lebendigkeit sah - wie er atmete, sich bewegte, lachte, sein Leben ohne sie lebte.
Vom Haus meiner Eltern in Peoria, Illinois, bis nach Nashville, Tennessee, waren es siebenhundertachtundsiebzig Kilometer, eine Entfernung, die sich in einem sieben Jahre alten roten Monte Carlo bei einer Geschwindigkeit von etwa fünfundneunzig Stundenkilometern in acht bis zwölf Stunden zurücklegen ließ, je nachdem, wie viele Hinweisschilder einen Abstecher zu historisch bedeutenden Stätten empfahlen oder wie oft meine Mutter Mariam aufs Klo musste. Sie nannten die Reise Urlaub, aber nur deshalb, weil sie sich unwohl mit dem Ausdruck honeymoon fühlten. Darin hatten sich zwei völlig eigenständige Wörter zusammengetan, die sie als einzelne zwar verstanden, die in ihrer Verbindung aber etwas Verschwenderisches anzudeuten schienen, das meine Eltern nicht annehmen konnten. Sie waren kein frisch verheiratetes Paar - die dreijährige Trennung hatte sie zu Fremden werden lassen. Sie unterhielten sich im Flüsterton, halb auf Amharisch, halb auf Englisch, als könnte jedes zu laut gesprochene Wort verraten, dass sie sich im Grunde nie verstanden hatten: In Wahrheit hatte der eine den anderen nie kennengelernt.
Eine neue Sprache zu erlernen war letzten Endes nicht anders, als zu lernen, sich wieder in seinen Ehemann zu verlieben, dachte Mariam. Wenn sie morgens vor dem Badezimmerspiegel stand, sagte sie oft mit einer für ihr Empfinden fast fehlerfreien Aussprache: »Männer können merkwürdig sein. Ehefrauen sind anders.« Diesen Spruch hatte sie von einer der Frauen in der Baptistenkirche, in die sie und ihr Mann jetzt gingen. Nach dem Gottesdienst hatten ein paar Frauen auf dem Parkplatz zusammengestanden, und eine hatte sich an Mariam gewandt und gesagt: »Warten Sie nur ab. Sie werden schon sehen. Männer können sehr merkwürdig sein. Ehefrauen sind einfach anders.«
Damals hatte sie die Äußerung einfach fast wortgenau wiederholt: »Ja. Das stimmt. Männer können wirklich merkwürdig sein«, denn nur so konnte sie sicher sein, dass sie von allen verstanden wurde. Was sie eigentlich hatte sagen wollen, war viel komplizierter und beinhaltete eine ganze Reihe von erheblichen Unterschieden, die man in jeder Hinsicht als unüberbrückbar bezeichnen musste. Trotzdem hatte sie seit ihrer Ankunft in Amerika sechs Monate zuvor alles dafür getan, Neues über ihren Mann zu lernen, zum Beispiel, warum er Selbstgespräche führte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und warum er an manchen Tagen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, zehn oder zwanzig Minuten lang im Auto in der Auffahrt sitzen blieb, während sie durch die Wohnzimmergardinen spähte. Manchmal wachte er nachts auf und verließ das Schlafzimmer, leise, um sie nicht aufzuwecken, was ihm jedoch nie gelang, denn in den meisten Nächten bekam Mariam kaum ein Auge zu. Er legte sich dann nackt aufs Sofa im Wohnzimmer, bis er irgendwann ein leises, weinerliches Stöhnen von sich gab, und dann kam er zurück ins Bett und schlief fest bis zum nächsten Morgen. Meine Mutter lernte diese Dinge und bewahrte sie in einem Winkel ihres Gehirns auf, der in ihrer Vorstellung eigens dafür gedacht war, Informationen über ihren Mann zu speichern. Auf gleiche Weise zwang sie sich, neue englische Wörter auszuprobieren und neue englische Sätze zu bilden, denn so, wie es in ihrem Gehirn einen Platz für ihren Mann gab, gab es auch einen für die englische Sprache, einen für ausländisches Essen und noch einen für die Namen und Straßen in ihrer direkten Umgebung. Sie lernte: »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«. Außerdem lernte sie einzelne Wörter wie »verstreut«, »gewissenhaft« und »sarkastisch«. Sie lernte die Vergangenheitsform. Zum Beispiel: »Gestern war ich müde« anstatt: »Ich bin müde gestern« oder: »Gestern müde ich bin«. Sie lernte, dass die Russell Street die Garfield Avenue kreuzte, die weiter auf die Main Street führte, der man bis zur I 74 folgen konnte, die einen nach Westen oder Osten überall dort hinbrachte, wo man hinwollte. Irgendwann würde all das einen Sinn ergeben. Verben würden am richtigen Platz stehen, Sarkasmus würde komisch sein, die Stadt vertraut: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Ehemann, all das ließ sich begreifen, wenn man nur die nötige Geduld aufbrachte.
Zum damaligen Zeitpunkt ihrer Ehe waren sie länger voneinander getrennt als zusammen gewesen. Sie zählte die Tage, indem sie einige Monate aufrundete und andere abrundete. Auf jeden Tag, den sie gemeinsam verbracht hatten, kamen 3,78 Tage, die sie getrennt gewesen waren. Für sie war das eine Schuld, die getilgt werden musste, auch wenn offenblieb, wer wem etwas schuldig war. Leidet der am stärksten, der zurückgelassen wird, oder der, der allein in die Welt hinausgeschickt wird, um Nahrung zu beschaffen und ein neues Leben aufzubauen? Eigentlich hatte sie Zahlen immer verabscheut, aber da ihr die meisten englischen Wörter, die sie hörte, weiterhin entgingen, gaben die Zahlen ihr nun Trost, und sie suchte überall nach Gelegenheiten, um etwas zusammenzuzählen. Im Lebensmittelladen rechnete sie, noch bevor sie zur Kasse ging, aus, was der Einkauf kosten würde. Eine Dose Erbsen: achtundsiebzig Cent; ein Päckchen Salz: neunundvierzig Cent; eine Tüte Zwiebeln: ein Dollar zehn. Die lächelnden Gesichter an der Kasse hatten immer ein paar Worte für sie übrig, bevor die Summe genannt wurde. Sie verstand keines dieser Wörter, aber was machte das schon? Sie wusste sowieso nicht, wie man sich für ein Kompliment bedankte oder eine scherzhafte Bemerkung machte, und auch die Bedeutung von »Zwei zum Preis von einem« war ihr fremd. Aber sie wusste, welche Zahl am Ende herauskam, und dieses Wissen, das keine Übersetzung brauchte, bedeutete Macht und erfüllte sie mit einem Stolz, wie sie ihn seit ihrer Ankunft in diesem Land nicht mehr verspürt hatte. Es gab ihr einen kurzen Augenblick lang das Gefühl, sie sei eine Frau, die man ernst zu nehmen hatte, eine Frau, die eines Tages von anderen Leuten beneidet werden würde.
Sie erfuhr nie, was ihr Mann in den drei Jahren der Trennung eigentlich durchgemacht hatte, und sie versuchte auch nie, es sich vorzustellen. Sag oft genug Amerika, mach dir ein Bild davon, und heraus kommt ein Maisfeld mit ein paar Wolkenkratzern in der Mitte und Hunderten von herumfahrenden Autos. Das einzige Foto, das sie in den drei Jahren von ihm erhalten hatte, zeigte ihn, halb aus der offenen Tür gelehnt, auf dem Fahrersitz eines großen Autos. Die eine Hand lag am Steuer, die andere ruhte auf seinem Schenkel. Er sah stattlich aus und würdevoll, der Schnurrbart ordentlich gestutzt, das dicke krause Haar zu einer vollkommenen Kugel modelliert, was auf fast unheimliche Weise die Ähnlichkeit seines Kopfes mit dem Globus auf der Kommode ihres Vaters betonte.
Als sie das Foto zum ersten Mal sah, glaubte sie nicht, dass es sich um sein Auto handelte. Sie dachte, er hätte es zufällig am Straßenrand stehen sehen und die Gelegenheit ergriffen anzugeben, und so ungefähr war es auch gewesen. Aber das hielt sie nicht davon ab, das Foto ihrer Mutter, ihren Schwestern und Freundinnen zu zeigen und »Yosef Auto« auf die Rückseite zu schreiben, in Englisch. Sie rechnete damit, dass irgendwann mehr Fotos kommen würden: Fotos, die ihn vor einem großen Haus mit Garten zeigten, Fotos von ihm in Anzug und mit Aktentasche; und als dann später die Tage, Wochen und Monate sich immer weiter angehäuft hatten und aus zwei Jahren fast drei geworden waren, wartete sie auf Bilder, die ihn mit einer Frau im Arm und zwei kleinen Kindern an seiner Seite zeigen würden. Letzteres hatte sie insgeheim seit dem Tag seines Weggangs befürchtet, denn wer hatte schon von einem Mann gehört, der auf seine Ehefrau wartete? So lief das nicht auf der Welt. Männer traten in dein Leben und blieben nur, solange du sie halten konntest. Sie gab den Kindern sogar Namen: Der Junge hieß Adam und das Mädchen Sarah, Namen, die sie für ihre eigenen Kinder nie ausgesucht hätte, denn es waren typische, gewöhnliche Namen, und Mariams Kinder würden, wenn es so weit war, ganz besonders heißen.
Als keine Fotos dieser Art kamen, wollte sie ihm schreiben und ihn um ein Foto bitten, das ihn auf einem Platz oder in einer Grünanlage zeigte, in der Mitte irgendeines Ortes, an dem er nur eine unbedeutende Rolle spielte.
»Zeig mir ein Bild, auf dem du etwas tust«, hatte sie ihm schreiben wollen, aber das traf es nicht genau. In Wahrheit wollte sie ein Foto, auf dem sie ihn in voller Lebendigkeit sah - wie er atmete, sich bewegte, lachte, sein Leben ohne sie lebte.
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Autoren-Porträt von Dinaw Mengestu
Dinaw Mengestu wurde 1978 in Äthiopien geboren, mit zwei Jahren kam er mit seiner Familie in die USA, wohin der Vater aus politischen Gründen geflohen war. Er studierte Literatur und erhielt 2006 ein Schreibstipendium von der New York Foundation for the Arts. Dinaw Mengestu hat Kurzgeschichten in Zeitschriften veröffentlicht, mit seinem ersten Roman Zum Wiedersehen der Sterne feierte er bereits Erfolge in den USA, Großbritannien und Frankreich. Dinaw Mengestu lebt in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dinaw Mengestu
- 2010, 320 Seiten, Maße: 13,4 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Volker Oldenburg
- Übersetzer: Volker Oldenburg
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 355008823X
- ISBN-13: 9783550088230
Rezension zu „Die Melodie der Luft “
»Ein anrührender, kluger Roman, den man so schnell nicht vergisst.« Der Tagespiegel, Tickets, Gerrit Bartels, 19.-25.08.10 »Auch Mengestus zweiter Roman spielt im Emigrantenmilieu. Mit Ironie und Sarkasmus stellt er die Frage nach dem vermeintlich typischen Flüchtlingsschicksal einmal anders.« Sigrid Löffler, www.dw-world.de, 27.08.10 »Ein intelligenter, vielschichtiger Gegenwartsroman« Buchmarkt, Oktober 2010
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