Die Pferdezauberin
''Ein behutsam und mit viel Freiraum für die Empfindungen des Lesers erzählte Geschichte.''
Süddeutsche Zeitung
Die Pferdezauberin von Barbara Dimmick
LESEPROBE
Ein wirklich schwarzesPferd hat kein einziges braunes Haar. Was die meisten Leute für Schwarz halten,ist normalerweise Kastanienbraun oder Schwarzbraun. Aber dieses Jungpferd hierwar ein echter Rappe - vollkommen schwarz mit einer weißen schiefen Blesse undvier eleganten weißen Fesseln. Ansonsten stimmte gar nichts: Er war drei Jahrealt, bald vier. Inzwischen hätte er eigentlich richfigausgewachsen sein sollen, so daß der Widerrist dieKruppe überragte. Doch das war nicht der Fall.
»Da hat man ja beijedem Schritt das Gefühl, bergab zu reiten«, entfuhr es mir.
Der Besitzer war so umdie Dreißig. Er war gut zwölf bis fünfzehn Zentimetergrößer als ich, und unter den Ärmeln seiner schmutzigen Strickjacke lugtenbreite, blasse Handgelenke hervor. Sein dünnes blondes Haar, das er im Nackenlang trug, wurde langsam schütter und legte eine hohe, verletzlich wirkendeStirn frei. Die randlose Brille saß leicht schief auf seiner Nase. Er hießPierce. Gerade hatten wir beide die Pferde nachdraußen gelassen und lehnten jetzt am Zaun der Pferdekoppel, den letztenHalfter noch in der Hand. Eine große kastanienbraune Stute wieherte laut,schlug aus und jagte dann mit ein paar schnellen Sprüngen über die Koppel. Dieanderen schnaubten und galoppierten hinterher. Der Rappe bemühte sichverzweifelt mitzuhalten. Pierce verfolgte jede seiner Bewegungen sokonzentriert, daß mir meine Bemerkung über denKörperbau des Pferdes fast leid tat.
»Alliehatte vor, dieses Frühjahr mit seinem Training zu beginnen«, sagte er mitmatter Stimme. »Sie hat ihm ein Jahr Schonfrist gegeben.«
Ich wußtenicht, wer Allie war, und fragte auch nicht danach.
Pierce beobachtete dasPferd noch eine Weile, dann sah er auf die Uhr. Es war Viertel nach sieben, undmein Vorstellungsgespräch hatte sich darin erschöpft, dieses kleine Gestüt mitseinem gemütlichen Stall und den planlos aufgestellten Zäunen zu besichtigenund ihm bei der Arbeit zu helfen. Um halb sechs hatten wir angefangen. Er hattemir erzählt, daß er an der High-SchoolMedien- und Kornmunikationswissenschaftenunterrichtete, für die Pferde so gut wie keine Zeit hatte, und ich mehr oderweniger ganz auf mich allein gestellt sein würde, bis im Juni die Ferienbegannen. Erst dann würde er mir vielleicht helfen können.
Der Morgen war frischund kühl. Die sechs Pferde trabten übermütig davon, das Gras auf ihren Hufenwar naß. Wir hatten ihnen Hafer und Wasser gegeben,und währenddessen hatte mir Pierce alles erklärt und gezeigt. Er konnte nochnicht lange mit Pferden zu tun haben, denn das wenige, was er mir sagte, warmir seit meiner Jugend vertraut.
Die Pferde kamen nocheinmal im Galopp an uns vorbei und fegten dann durch ein Gatter, das hinaus aufeine Weide führte. Der Rappe versuchte trabend Schritt zu halten. Von hintenkonnte ich sehen, daß seine Sprunggelenke merkwürdigverdreht waren und er mit dem linken Bein bei jedem Schritt humpelte. SeinRumpf wirkte jedoch muskulös und fest. Vermutlich, weil er sich so anstrengen mußte, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.
»Jedenfalls hat erMuskeln«, sagte ich.
»Alliehat ihn immer gemocht«, sagte Pierce. »Vom Augenblick seiner Geburt an. Erheißt Twister.«
Ich bemerkte, wie erdas Pferd anstarrte. Der Halfter hing schlaff an seiner Hand herunter.
»Na, was meinen Sie,Natalie? Schon irgendeine Idee?«
»Hängt davon ab, wasSie vorhaben.«
»Machen Sie etwas ausihm. Das war Allies Wunsch.«Dabei wandte er sich ab, bekreuzigte sich hastig und warf mir ein seltsamesGrinsen zu. »Die Wünsche der Toten sind uns Befehl«, meinte er, und ich fragtemich, ob er gleich in Tränen ausbrechen oder lockere Sprüche klopfen würde.
Wir blieben noch eineWeile stehen, wobei wir wegen der morgendlichen Kälte von einem Bein aufsandere traten, und sahen den Pferden zu. Dann war Alliealso tot, dachte ich. Wer auch immer sie gewesen sein mochte. Pierce schiennicht weiter darauf eingehen zu wollen, und das war auch gut so: Ich wollte dieGeschichte gar nicht hören. Auf alle Fälle hatte der Rappe keine Chance. Beidiesen Sprunggelenken!
Ich überlegte, ob esklug war, den Job anzunehmen, und sei es nur für kurze Zeit. Zuvor hatte Piercegesagt, daß die Reitstunden am Samstag vor demMemorial Day am 30. Mai beginnen sollten. Bis zum Schuljahresende würden sienur am Wochenende und während des Sommers dann auch an den anderen fünfWochentagen stattfinden. Aufs Unterrichten hatte ich keine Lust - dabei konnteich meine Fähigkeiten nicht weiterentwickeln. Trotzdem war es sicher sinnvoll,zumindest so lange zu bleiben, bis ich wieder Boden unter den Füßen hatte.
Ich blickte zum Himmelhinauf, zu diesem Blau, das sich über den satten, sanften, so vertrauten HügelnPennsylvanias ausbreitete. Wie weit mochte ich wohl von Bethlehem entferntsein? Hundertdreißig Kilometer? Ich war aus Ohio gekommen und hatte den Jobsüdlich von Pittsburgh abgelehnt - zu viele reiche Kinder und nicht genügendgute Pferde im Stall. Dann hatte ich mich bei einem Zuchtgestüt in den LaurelHighlands vorgestellt, aber die Stelle war tags zuvor vergeben worden. Und sowar ich weiter nach Osten gereist.
Als wir fertig waren,schien Pierce wie selbstverständlich davon auszugehen, daßich den Job annehmen würde. Er ging rasch die Straße hinunter, die zu seinemHaus führte, und zwanzig Minuten später kam er in einem schwarzen,breitschultrig geschnittenen Anzug mit tiefroter Krawatte wieder heraus. Ausirgendeinem Grund hatte ich etwas anderes erwartet, etwas weniger Exotisches.Vielleicht Kord oder Tweed. Sein Haar war mit Gel nach hinten gekämmt, dochselbst von der Schwelle des Stalls aus konnte ich die sanfte Tolle erkennen,die sich nach der Pause mit Sicherheit selbständig machen würde. SeinToyota-Transporter ratterte über die Straße des Reiterhofs und bog dann rechtsab, in Richtung Shipville. Ich fragte mich, ob erseinen Schülern gegenüber eher zu Freundlichkeit oder Grausamkeit neigte.
© Econ & ListVerlag
Übersetzung: Christiane Bergfeld, Dorle Merkel, Elfriede Peschel
- Autor: Barbara Dimmick
- 1999, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Econ TB.
- ISBN-10: 3612276603
- ISBN-13: 9783612276605
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