Die Quellen der Sehnsucht
Ellen Alpsten wurde in Kenia geboren. Hier erzählt sie die wahre Geschichte einer großen Liebe.
Auf einem Sklavenmarkt des osmanischen Reichs "kauft" der wohlhabende britische Gentleman Sam die...
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Produktinformationen zu „Die Quellen der Sehnsucht “
Ellen Alpsten wurde in Kenia geboren. Hier erzählt sie die wahre Geschichte einer großen Liebe.
Auf einem Sklavenmarkt des osmanischen Reichs "kauft" der wohlhabende britische Gentleman Sam die temperamentvolle Florence, um sie in die Freiheit zu entlassen. Doch Florence bleibt bei ihm. Gemeinsam gehen sie nach Ostafrika, um die sagenumwobenen Quellen des Nils zu finden.
Lese-Probe zu „Die Quellen der Sehnsucht “
Die Quellen der Sehnsucht von Ellen Alpsten1. Kapitel
Heute Nacht oder nie, dachte Florence, als sie hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloss ihres Käfigs drehte. Am Himmel war die silberne Sichel des Mondes deutlich sichtbar: So, wie sie es von den Flaggen und den Spitzen der Minarette kannte. War es dieser Mond, Suleimans Mond, dessen Licht ihr zur Flucht, zur Freiheit, verhelfen sollte?
Suleiman legte gerade seine Hände um die Stäbe der eisernen Tür und rüttelte daran, um sicherzustellen, dass der Käfig sich nicht öffnete. Er machte einen zufriedenen Laut, er brummte zufrieden, hängte sich den Schlüssel an seinen Gürtel neben den Krummdolch, die Pistole und das Pulverhorn und wandte sich ab. Im Davongehen warf er sich eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund, kaute und spuckte dann die Schalen aus.
Vom Ufer der Donau her stieg der Abendwind auf. Florence fröstelte. Suleiman schlug einige Male mit der Gerte gegen den Schaft seiner Stiefel, um seine Hunde bei Fuß zu rufen. Müde trotteten sie neben ihm über die Erde, deren Farbe Florence an den Saft Roter Beete erinnerte. Das Fell hing ihnen über den mageren Leib. Florence lehnte sich gegen die Stangen des Zwingers und stieß dabei gegen ihre Nachbarin. Die Frau knurrte sie an und verkroch sich noch weiter unter ihre löchrige Decke. Wie viele
Frauen waren sie wohl?, versuchte Florence zu schätzen. Vierzig, fünfzig Mädchen und Weiber vielleicht? Nur die Glücklichsten unter ihnen hatten sich genug Platz um die Feuerstelle in der Mitte des Käfigs erkämpft, wo sie liegen und schlafen konnten. Die anderen wärmten sich gegenseitig. Florence wollte nicht schlafen. Sie wartete auf ihre Stunde. Heute Nacht oder nie, dachte sie erneut. Das ist meine letzte Gelegenheit. Die Flucht ist noch das kleinere Übel.
Alles ist besser als
... mehr
dieses Leben, und das, was mir hier in Widdin bevorsteht. Der Abendstern erschien zwischen den Wolkenfetzen am Himmel. Er wirkte einsam. Aus dem Käfig der Männer, der dicht neben dem Frauenzwinger stand, durchbrachen nun Lieder die Stille des Abends. Sie klangen traurig, auch wenn Florence die Worte nicht verstand. Die meisten der Sklaven kamen vom Nil. Ihre Haut war so dunkel wie das Gefieder der Raben, die in den Wipfeln der wenigen Bäume um das Lager lauerten und auf ihren Anteil des Abendessens warteten.
Die Lieder mischten sich mit Rufen und Gelächter. Trotz ihres Leides schienen die schwarzen Männer noch zu Scherzen aufgelegt, dachte Florence. Am Leben zu sein war ihnen offenbar Grund genug zur Freude. Seit einer Woche lagerten sie nun vor Widdin. Kerben am Holz der Käfigstangen zählten die Tage, die seither vergangen waren. In etwas mehr als zwei Wochen sollte dort einer der größten Märkte des Jahres stattfinden, Deshalb war Florence zusammen mit vielen anderen Sklaven in einem langen Zug nach Widdin gebracht worden.
Um ihren Hals hatte sie eine »Spange« getragen: Ein Joch aus Holz, von dem eine Kette herabhing, die über ihre Brust und ihren Bauch führte, wo ihr die Hände vor dem Leib gebunden waren. Die Füße schmerzten ihr immer noch von dem langen Marsch. An ihren Zehen und Sohlen hatten sich Blasen gebildet. Florence hatte sich trotz der Spange gebückt, hatte an ihnen gekratzt, damit die Wunden sich entzündeten. Sie war bereit, alles zu tun, um den Zug aufzuhalten alles, um auf dem Markt nicht verkauft zu werden. Doch Suleiman hatte sie dabei beobachtet und war zornig geworden.
»Mädchen, wenn du nicht auf dich achtest, bekommst du es mit mir zu tun. Ich will einen guten Preis für dich erzielen, ist das klar? Wer hat schon Ware wie dich zu bieten? Wenn wir Glück haben, schickt der Sultan selber seine Einkäufer! Wenn ich richtig gehört habe, wird diesmal kein zweites weißes Mädchen mit blondem Haar auf dem Markt angeboten.«
Er hatte sie einige Male grob hin und her geschüttelt, und sie war in den Matsch der Straße gefallen. Suleiman aber hatte sie nicht getreten, sondern nur drohend seinen Gewehrkolben geschwenkt. Das war ihr Drohung genug gewesen: Sie war ohne Widerspruch aufgestanden.
Florence hasste Schusswaffen. Gewehre hatten sie aus ihrer Heimat verjagt, Gewehre hielten sie in Suleimans Haus gefangen, Gewehre trieben sie nach Widdin, als seien sie und die anderen Sklaven keine Menschen, sondern eine Herde Kühe. Suleiman hatte die Waffe noch einmal gehoben, und Florence wurde klar, weshalb er sie nicht schlug: Sie sollte auf dem Markt nicht mit grünen und blauen Flecken zur Schau gestellt werden.
»Steh auf! Meinst du, wir haben Zeit zu verlieren? Bei Allah, ich verkaufe dich an den ersten stinkenden Schafhirten, wenn du dich nicht beeilst!«
Mit diesen Worten hatte er sie auf die Füße gezwungen, sich auf sein Maultier gesetzt und war wieder an die Spitze der Karawane geritten.
Florence spürte erneut diese dumpfe Wut in sich aufsteigen. Wut, die gemischt war mit Furcht. Furcht vor dem Unbekannten, das vor ihr lag. Kein stinkender Schafhirte und auch kein Sultan sollte sie auf dem Markt ersteigern. Wenn die Versteigerung in zwei Wochen begann, wollte sie bereits frei und weit entfernt von Widdin sein.
Frei: Beinahe fürchtete sie das Wort selber. Was sollte sie, einmal aus ihrer Gefangenschaft entkommen, mit dieser Freiheit anfangen?
Heute Nacht oder nie. Ich darf nicht hassen, dachte sie. Ich darf meine Kraft nicht auf Suleiman verschwenden, ermahnte sie sich. Ich darf nur an den heutigen Abend denken nicht an mehr! Sie drückte ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe und beobachtete, wie sich die Dunkelheit langsam über die Ebene legte. Händler aus vielen Ländern hatten auf den Wiesen vor der Stadt ihr Lager aufgeschlagen zwischen Weizenfeldern und den Amselfelder Weinbergen, die wohl bald abgeerntet werden mussten.
In Widdin selber war angeblich jedes Gasthaus vollständig ausgebucht, denn die Käufer waren aus der gesamten Türkei und auch dem Mittleren Osten angereist, das hatte Florence einen der Händler sagen hören. Männer, Frauen und Kinder aller Rassen und jeden Alters wurden auf dem Markt zum Kauf angeboten.
Die Stadt an einer Biegung der Donau wirkte beeindruckend: Zahlreiche Türme, Minarette und Zinnen ragten hoch über die Stadtmauer aus rotem Lehm und Gesteinsbrocken hinaus und gewährten den Türken in der Festung einen weiten Blick über die Ebenen des Balkans. Wie es wohl innerhalb der Stadtmauern aussah?
Florence war sich sicher, dass auch hier Sittenlosigkeit und Verbrechen um sich griffen, wie in allen Ecken des Osmanischen Reiches. Auf ihrem Zug nach Widdin waren sie Milizen auf Patrouille begegnet, die mit ihren hängenden Schnurrbärten und verfilzten Haaren unter den roten Kappen Furcht erregend aussahen. Albaner, hatte Suleiman nur gesagt, und er hatte ausgespuckt. Ein Schauer überkam Florence. Die Decke um ihre Schultern wollte nicht recht wärmen.
Der Stoff roch wie Suleimans Wolfshunde, wenn sie im See gebadet hatten. Dennoch zog sie das Tuch enger um ihre Schultern. Die Kälte kam aus ihrem Inneren. Sie ließ den Blick schweifen. Wanderbüsche wurden vom Nachtwind über die Felder getrieben. Florence hörte die Glocken der Schaf- und Ziegenherden, die zum Schutz vor Wölfen, Bären und Adlern in ihre Pferche an den Stadtmauern getrieben wurden.
Die Hirten pfiffen und jagten die Tiere mit schnalzenden Lauten und leichten Rutenschlägen vor sich her. Von den Minaretten der Stadt riefen die Muezzine wenige Augenblicke später zum Gebet.
»Allah ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet«.
Ihr gefiel der raue, kehlige Ruf immer wieder aufs Neue, wie auch der Gedanke an das gleichmäßige Gebet, das den Geist reinigte. Florence senkte den Kopf und ließ die Worte in Wellen über sich hinweg gleiten ... Dann verebbten die Rufe.
Auf der Ebene hallte ihr Schweigen nach, ehe das Leben wieder begann. Der Nachtwächter blies in sein Horn, die Tore der Stadt schlossen sich. Die Händler erhoben sich nach ihrem Gebet.
Sie falteten lachend und schwatzend die Teppiche zusammen und verbeugten sich noch einmal in Richtung Mekka. Im Lager flammten nun die ersten Feuer auf. Der Duft von Hammelfleisch, gesalzenen Okraschoten und frisch gebackenen Brotfladen zog zu ihr herüber.
Florences Magen knurrte. Sie kannte all diese Köstlichkeiten aus der Zeit, in der sie in Suleimans Küche gearbeitet hatte. Die Frauen in der Zelle hatten heute Abend jedoch nur hartes Brot und Ayran bekommen. Die gesäuerte und gesalzene Schafsmilch wollte ihr wieder aufsteigen.
Ein Säugling in ihrem Käfig begann zu weinen. Die Mutter gab ihm die Brust und summte dabei ein leises Lied. Florence wandte den Blick ab. Nach dem, was Suleimans Freund, der sich »der Doktor« nannte, ihr angetan hatte, würde sie selber keine Kinder mehr haben können. Es wurde Nacht. Der Abendstern hatte mittlerweile Gesellschaft bekommen. Wolken hingen am Himmel, so violett und verformt wie die samtenen Kissen in Suleimans Rauchzimmer.
Die Stimmen der Händler wurden nun lauter. Sie hatten fertig gegessen und getrunken und begannen nun wie üblich die Würfel- oder Backgammon-Spiele. Natürlich würden sie sich auch heute wieder um die Gewinne streiten. Gut, dachte Florence. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann sollte Suleiman kommen und sie zu sich in sein Zelt holen. Sie schloss die Augen, vergrub ihr Gesicht in ihren schmalen Händen und begann ein Gebet zu flüstern, an das sie sich nur noch in Bruchstücken erinnern konnte. Vielleicht konnte es in dieser Stunde der Not auch ihren Geist reinigen.
»Vater Unser, der Du bist im Himmel ...«
Sie stockte. Die Wolken hatten den Platz mittlerweile in völlige Dunkelheit getaucht.
»Unser täglich Brot gib uns heute ...«
Sie dachte an ihr karges Abendmahl, das ihr noch im Magen lag.
»Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...«
In Suleimans Zelt konnte man in dem flackernden Licht einen Schatten umherwandern sehen. Alles Wasser der Donau und des Bosporus konnte ihn nicht mehr von seiner Schuld reinwaschen. Florence versuchte, sich an die letzten Worte des Gebetes zu erinnern.
Maja, die Magd ihrer Eltern in Ungarn, hatte es mit ihr vor dem Zubettgehen gebetet, damals, vor so langer Zeit. Auch während der großen Unruhen von 1848 hatte Maja dieses Gebet geflüstert, als sie Florence unter ihrem Rock versteckt hatte. Die Dunkelheit dieser Glocke aus Stoff hatte sie schützend umgeben. Eine Dunkelheit, die nach Kartoffelsuppe mit Pfefferwürsten und den Kampfersäcken in Majas Kleidertruhe gerochen hatte.
Die Dunkelheit hatte Majas Stimme gedämpft, als sie während des Überfalls der Partisanen gebetet hatte. Florence erinnerte sich nicht nur an dieses geweinte Gebet. Sie erinnerte sich auch an die Schüsse, die Schreie, die Messer, die Leichen, das Feuer. An den scheinbar endlosen Marsch an Majas Hand, an die vielen Häuser in den zahlreichen Städten, in denen Maja gearbeitet hatte, ehe der Krieg sie wieder einholte und sie als Flüchtlinge in Suleimans Hände gefallen war.
Maja war sofort weiterverkauft worden. Damals war Florence noch ein Kind gewesen, heute kannte sie ihr genaues Alter nicht mehr. Sechzehn, siebzehn Jahre vielleicht? Sie versuchte, sich mit den anderen Mädchen zu vergleichen, doch keine von ihnen war weiß oder war Florence ähnlich. Florence suchte noch nach den letzten Worten des Gebets.
»Denn Dein ist das Reich und die Kraft, und die Herrlichkeit, Amen«, schloss sie beinahe erleichtert. An all das, was ihre Welt zerstört hatte, konnte sie sich genau erinnern, nicht aber an diese Welt selber. Sogar Majas Gesicht, breit und gutmütig, jedoch vom Leben zerfurcht, war aus ihrer Erinnerung verschwunden. Geblieben war ihr nur ihr eigener Name, Florence Finnian von Sass.
Sie sah hinüber zu Suleimans Zelt, dann nach oben in den Himmel. Pass auf, Mond! Morgen wirst du uns als freie Menschen sehen.
»Bezen, bist du wach?«, flüsterte Florence in einfachem Türkisch, das sie inzwischen aufgeschnappt hatte. Sie streckte den Arm über den Körper einer anderen Frau hinweg, um Bezen an der Schulter zu berühren. Diese blickte auf.
Florence verspürte Mitleid, als sie ihr ins Gesicht sah und strich ihr übers Haar. Suleiman hatte Bezen gestern Nacht in sein Zelt geholt, und jetzt war eines ihrer Augenlider geschwollen.
»Bist du bereit?«, fragte Florence leise. Bezen nickte. Sie wollte lächeln, fasste sich aber nur an den Mundwinkel.
»Bist du denn bereit? Es wird nicht leicht werden«, warnte Bezen. »Heute wird es das letzte Mal sein, dass er mich berührt, das schwöre ich bei Gott. Er säuft sich danach immer völlig besinnungslos, dann kann ich ihm den Schlüssel abnehmen, sobald er einschläft. Bleib bloß wach und warte auf mich!«, ermahnte Florence ihre Freundin. Bezen lachte.
»Ich will vor dem Markt bestimmt keinen Schönheitsschlaf halten. Ich werde auf dich warten, keine Angst!«
Florence strich Bezen liebevoll über das Haar. In diesem Augenblick hörten sie ein Pfeifen. Suleiman hatte sich vom Lagerfeuer erhoben, und seine Hunde folgten ihm augenblicklich bei Fuß. Er trat an den Käfig und hantierte mit seinem Schlüsselbund. Suleiman war schon jetzt so betrunken, dass er das Schloss zwei Mal verfehlte, ehe er es mit dem Schlüssel fand. Er fluchte leise.
Als sich die Tür öffnete, hoben einige der Mädchen den Kopf. Sie erhofften sich wohl Vorteile davon, das Bett mit den Händlern zu teilen.
Wir werden ja doch alle verkauft, dachte Florence nur. Suleiman schnalzte mit der Zunge und deutete dann mit dem Kinn in Florences Richtung. Diese erhob sich ohne zu zögern, nickte Bezen rasch zu und stieg über die anderen Frauen hinweg, die ihr murrend Platz machten. Suleiman griff Florence am Arm und zog sie hinter sich her. Als sie sich noch einmal nach Bezen und den anderen umdrehte, hatte das Dunkel der Nacht bereits den Käfig und seine Insassen geschluckt.
Das Feuer in der Mitte von Suleimans Zelt war bereits bis auf die glühende Asche niedergebrannt. Dennoch herrschte unter dem gewachsten Leinentuch zwischen den Birkenpfeilern eine angenehme Wärme, die Florence wie eine Liebkosung empfand. Auf einer Reisetruhe, die Suleiman auch als Schreibunterlage diente, brannten drei Kerzen in einem Messingständer. Eine Rolle Papier lag offen darauf, beschwert mit einer Feder.
Die Tinte daran schien eingetrocknet, nachlässig war Sand über den Brief gestreut worden.
Daneben sah Florence einen Holzteller voll Gebäck, das nur aus Zuckersirup und Pistazien zu bestehen schien ... In einer hohen Kupferkanne mit langem Schnabel und tiefem, rundem Bauch dampfte frisch gebrühter Kaffee.
Florence schnupperte wie sehr sehnte sie sich nach dem heißen, bitteren Geschmack. Eine alte Dienerin rollte gerade einen Teppich vor dem Feuer aus. »Mach, dass du wegkommst!«, rief Suleiman und jagte sie mit einem Fußtritt davon.
Florence blieb am Eingang des Zeltes stehen. Zwar hielt sie die Augen gesenkt, sie verfolgte aber jede von Suleimans Bewegungen. Sie beobachtete, wie er seinen Gürtel mit dem Dolch, der Pistole und dem Schlüsselbund neben sein Kissen auf der niederen Bettstatt ablegte. Suleiman streckte sich. Er löste den Gurt seiner Wickeljacke und streifte sie ab. Sein Bauch hing nun in Ringen über den Bund seiner Hose. Als er ihren Blick bemerkte, lachte er laut auf.
»Komm rein, du kennst dich doch aus! Eigentlich schade, dass ich dich verkaufen muss. Ich habe mich an dich gewöhnt, Florence. Obwohl du mir schon zu alt bist, mittlerweile. Ich mag meine Mädchen jung und knackig.«
Florence rührte sich nicht. Suleiman ging zu seiner Reisetruhe und nahm ein Stück Gebäck von dem Tablett und kam auf sie zu.
»Hier. Ich weiß, dass du in meinen Küchen immer davon gegessen hast.« Florence zögerte einen Augenblick, nahm sich dann das Gebäck und schob es in den Mund. Sie konnte ihre Gier nicht verbergen. Es schmeckte, als ob eine Kugel aus Licht in ihrem Mund zersprang.
Suleiman lachte wieder. Er stand nun nahe vor ihr und griff ihr in die Haare. Mit einem Ruck zog er ihren Kopf nach hinten.
»Du hast immer gewusst, dass ich dich eines Tages verkaufen muss, nicht wahr? Ich kann mir Wohltätigkeit nicht leisten.«
Florence nickte. In seinen Augen tanzte der Teufel der Trunkenheit. Der Gott der Türken hatte ganz recht, wenn er ihnen den Alkohol verbot. Ein nüchterner Suleiman war zu ertragen. Oder hatte sie nur gelernt, ihn zu ertragen? Sie erinnerte sich noch an den Abend, als er zum ersten Mal in das Viertel der Christen gegangen war, um dort zu trinken. Es war der Abend des Tages gewesen, an dem sein kleiner Sohn unter die Räder eines Marktkarrens geraten war.
Der Junge war nicht wieder aufgestanden. Nach seiner Rückkehr aus dem Christenviertel war Suleiman nicht mehr derselbe gewesen. Nun griff er ihr fester in die Haare. Florence unterdrückte einen Schmerzenschrei.
Suleiman fuhr fort: »Aber du bist mir teuer, Florence. So teuer, dass hoffentlich nun auch jemand für dich ein hübsches Sümmchen bezahlen wird.« Er hielt kurz inne.
»Bin ich dir auch teuer?« Seine Stimme klang nun, als sei er den Tränen nahe. Wieder nickte Florence und schluckte ihre Tränen hinunter: Es war keine Lüge. Suleiman mochte ein Teufel sein, doch zumindest kannte sie ihn gut genug, um ihn einschätzen zu können.
Was erwartete sie, falls ihr die Flucht gelang? Welches Schicksal lag vor ihr, sollte sie doch auf dem Markt verkauft werden? Würde sie die Kraft aufbringen können für das, was Bezen und sie vorhatten? Unvermittelt presste Suleiman seine Lippen auf ihre. Florence schmeckte seinen von Schnaps scharfen Atem.
»Ich will nicht«, sagte sie. Suleiman drückte sie nur in die Knie. Was auch immer mit dir geschehen wird, Florence verletzen können sie nur deinen Körper, nicht deine unsterbliche Seele, vergiss das nie. Das waren Majas letzte Worte gewesen, ehe auch sie in die Sklaverei geführt worden war.
Als er endlich von ihr abgelassen hatte, sank Florence nach hinten auf den Teppich. Sie wagte es nicht, auszuspucken. Im Zorn konnte Suleiman furchtbar sein, das konnte sie nicht riskieren.
Denn sie musste leben, um zu fliehen: Heute Nacht. Indessen drehte sich Suleiman um und ging zu der Truhe, um eine Lade zu öffnen. Eine Karaffe mit Pflaumenschnaps kam zum Vorschein, die er ansetzte und in einem Zug halb leer trank.
»Teufelszeug«, hörte Florence ihn murmeln, als er die Karaffe zurück in die Lade stellte. Suleiman ließ sich seufzend auf seine Bettstatt mit den Fuchsfellen und wollenen Decken fallen, so, als sei Florence nicht mehr da. Doch dann drehte er sich zu ihr und sagte die Worte, die sie zu hören gehofft hatte: »Leg dich hier neben mich, Mädchen. Ich will in der Nacht nicht frieren.«
Dabei klopfte er neben sich auf das Polster. Florence gehorchte. Suleiman legte den Arm um sie und drückte sie an sich. Sie ließ es geschehen und konnte den Rauch der Lagerfeuer und den Schweiß des Tages an seiner Haut riechen, obwohl er am Morgen das Badehaus in Widdin besucht hatte.
Es dauerte nicht lange, und er schnarchte mit offenem Mund. Speichel lief ihm vom Mundwinkel über das Kinn. Florence kauerte neben ihm auf dem Bett. Sie sah ihn an. War er nun eingeschlafen?
Sie wagte es kaum, zu atmen. Vorsichtig löste sie seinen Arm von ihrer Schulter.
Er grunzte nur und drehte sich auf die Seite. Sie blickte in sein vom Kissen zerdrücktes Gesicht. Die Schatten ließen es wie zerschlagen wirken, wie die Gesichter der Männer, die sich auf dem Marktplatz für Geld verprügeln ließen. Nach einer Weile bewegte sie ihre Hand langsam, ganz vorsichtig, hin zu dem Schlüsselbund, der dicht neben der Wand an Suleimans anderer Seite lag.
Ihre Finger legten sich um das kalte Metall. Jetzt! Suleiman drehte sich auf die andere Seite, und Florence fuhr zurück. Sie blieb still sitzen. Als er wieder zu schnarchen begann, griff sie noch einmal
zu. Dieses Mal ohne zu zögern. Florence löste den Schlüsselbund von dem Gurt, an dem er befestigt war, und stand leise auf. Ihr Blick fiel auf das Tablett mit dem Gebäck.
Für die kommenden Stunden würde sie viel Kraft brauchen. Florence nahm sich erst ein, dann zwei Küchlein von dem Teller. Anschließend schlüpfte sie, ohne Suleiman noch einmal anzusehen, auf leisen Sohlen aus dem Zelt. Die Wolken hatten das Licht der Sterne und des Mondes inzwischen vollständig erstickt. Die Maultiere und Pferde standen dicht aneinandergereiht und mit gesenkten Köpfen in ihrem Gatter.
Im Dunkeln sah Florence die Pfeife der Nachtwache aufglühen und hörte den Mann lachen. Die Feuer im gesamten Lager waren bereits niedergebrannt. Vor der letzten Glut konnte sie die Rücken der Händler erkennen, die dort lagen und schliefen. Gut. Einen Augenblick lang überlegte sie, einfach fortzulaufen: Allein, ohne Bezen, und ohne noch einmal zu dem Zwinger zurückzukehren. Nein! Sie ermahnte sich: Ihre Freundin wartete schließlich auf sie.
Florence aß ein Stück Gebäck, das andere wollte sie Bezen mitbringen. Wenn sie erst frei waren, würden sie so etwas jeden Tag essen, schwor sie sich. Nur von Honig und Pistazien sollten sie leben! Dann begann sie zu laufen, über das flach gedrückte Gras hinweg. Sie spürte die scharfen Halme unter ihren nackten Füßen. Hoffentlich war Bezen wach geblieben!
Florence war am Käfig angekommen und tastete in der Dunkelheit nach dem Türschloss. Ihre Finger fanden den Riegel und auch das Schloss, das Suleiman von einem Meister in Konstantinopel hatte anfertigen lassen. Es war gut geölt, und die Feder sprang lautlos zurück, als Florence den Schlüssel zwei Mal umdrehte.
»Bezen! Wach auf! Komm, schnell, wer weiß, wie lange er schläft!«, flüsterte sie in die Dunkelheit.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Weißer Nil
Die Lieder mischten sich mit Rufen und Gelächter. Trotz ihres Leides schienen die schwarzen Männer noch zu Scherzen aufgelegt, dachte Florence. Am Leben zu sein war ihnen offenbar Grund genug zur Freude. Seit einer Woche lagerten sie nun vor Widdin. Kerben am Holz der Käfigstangen zählten die Tage, die seither vergangen waren. In etwas mehr als zwei Wochen sollte dort einer der größten Märkte des Jahres stattfinden, Deshalb war Florence zusammen mit vielen anderen Sklaven in einem langen Zug nach Widdin gebracht worden.
Um ihren Hals hatte sie eine »Spange« getragen: Ein Joch aus Holz, von dem eine Kette herabhing, die über ihre Brust und ihren Bauch führte, wo ihr die Hände vor dem Leib gebunden waren. Die Füße schmerzten ihr immer noch von dem langen Marsch. An ihren Zehen und Sohlen hatten sich Blasen gebildet. Florence hatte sich trotz der Spange gebückt, hatte an ihnen gekratzt, damit die Wunden sich entzündeten. Sie war bereit, alles zu tun, um den Zug aufzuhalten alles, um auf dem Markt nicht verkauft zu werden. Doch Suleiman hatte sie dabei beobachtet und war zornig geworden.
»Mädchen, wenn du nicht auf dich achtest, bekommst du es mit mir zu tun. Ich will einen guten Preis für dich erzielen, ist das klar? Wer hat schon Ware wie dich zu bieten? Wenn wir Glück haben, schickt der Sultan selber seine Einkäufer! Wenn ich richtig gehört habe, wird diesmal kein zweites weißes Mädchen mit blondem Haar auf dem Markt angeboten.«
Er hatte sie einige Male grob hin und her geschüttelt, und sie war in den Matsch der Straße gefallen. Suleiman aber hatte sie nicht getreten, sondern nur drohend seinen Gewehrkolben geschwenkt. Das war ihr Drohung genug gewesen: Sie war ohne Widerspruch aufgestanden.
Florence hasste Schusswaffen. Gewehre hatten sie aus ihrer Heimat verjagt, Gewehre hielten sie in Suleimans Haus gefangen, Gewehre trieben sie nach Widdin, als seien sie und die anderen Sklaven keine Menschen, sondern eine Herde Kühe. Suleiman hatte die Waffe noch einmal gehoben, und Florence wurde klar, weshalb er sie nicht schlug: Sie sollte auf dem Markt nicht mit grünen und blauen Flecken zur Schau gestellt werden.
»Steh auf! Meinst du, wir haben Zeit zu verlieren? Bei Allah, ich verkaufe dich an den ersten stinkenden Schafhirten, wenn du dich nicht beeilst!«
Mit diesen Worten hatte er sie auf die Füße gezwungen, sich auf sein Maultier gesetzt und war wieder an die Spitze der Karawane geritten.
Florence spürte erneut diese dumpfe Wut in sich aufsteigen. Wut, die gemischt war mit Furcht. Furcht vor dem Unbekannten, das vor ihr lag. Kein stinkender Schafhirte und auch kein Sultan sollte sie auf dem Markt ersteigern. Wenn die Versteigerung in zwei Wochen begann, wollte sie bereits frei und weit entfernt von Widdin sein.
Frei: Beinahe fürchtete sie das Wort selber. Was sollte sie, einmal aus ihrer Gefangenschaft entkommen, mit dieser Freiheit anfangen?
Heute Nacht oder nie. Ich darf nicht hassen, dachte sie. Ich darf meine Kraft nicht auf Suleiman verschwenden, ermahnte sie sich. Ich darf nur an den heutigen Abend denken nicht an mehr! Sie drückte ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe und beobachtete, wie sich die Dunkelheit langsam über die Ebene legte. Händler aus vielen Ländern hatten auf den Wiesen vor der Stadt ihr Lager aufgeschlagen zwischen Weizenfeldern und den Amselfelder Weinbergen, die wohl bald abgeerntet werden mussten.
In Widdin selber war angeblich jedes Gasthaus vollständig ausgebucht, denn die Käufer waren aus der gesamten Türkei und auch dem Mittleren Osten angereist, das hatte Florence einen der Händler sagen hören. Männer, Frauen und Kinder aller Rassen und jeden Alters wurden auf dem Markt zum Kauf angeboten.
Die Stadt an einer Biegung der Donau wirkte beeindruckend: Zahlreiche Türme, Minarette und Zinnen ragten hoch über die Stadtmauer aus rotem Lehm und Gesteinsbrocken hinaus und gewährten den Türken in der Festung einen weiten Blick über die Ebenen des Balkans. Wie es wohl innerhalb der Stadtmauern aussah?
Florence war sich sicher, dass auch hier Sittenlosigkeit und Verbrechen um sich griffen, wie in allen Ecken des Osmanischen Reiches. Auf ihrem Zug nach Widdin waren sie Milizen auf Patrouille begegnet, die mit ihren hängenden Schnurrbärten und verfilzten Haaren unter den roten Kappen Furcht erregend aussahen. Albaner, hatte Suleiman nur gesagt, und er hatte ausgespuckt. Ein Schauer überkam Florence. Die Decke um ihre Schultern wollte nicht recht wärmen.
Der Stoff roch wie Suleimans Wolfshunde, wenn sie im See gebadet hatten. Dennoch zog sie das Tuch enger um ihre Schultern. Die Kälte kam aus ihrem Inneren. Sie ließ den Blick schweifen. Wanderbüsche wurden vom Nachtwind über die Felder getrieben. Florence hörte die Glocken der Schaf- und Ziegenherden, die zum Schutz vor Wölfen, Bären und Adlern in ihre Pferche an den Stadtmauern getrieben wurden.
Die Hirten pfiffen und jagten die Tiere mit schnalzenden Lauten und leichten Rutenschlägen vor sich her. Von den Minaretten der Stadt riefen die Muezzine wenige Augenblicke später zum Gebet.
»Allah ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet«.
Ihr gefiel der raue, kehlige Ruf immer wieder aufs Neue, wie auch der Gedanke an das gleichmäßige Gebet, das den Geist reinigte. Florence senkte den Kopf und ließ die Worte in Wellen über sich hinweg gleiten ... Dann verebbten die Rufe.
Auf der Ebene hallte ihr Schweigen nach, ehe das Leben wieder begann. Der Nachtwächter blies in sein Horn, die Tore der Stadt schlossen sich. Die Händler erhoben sich nach ihrem Gebet.
Sie falteten lachend und schwatzend die Teppiche zusammen und verbeugten sich noch einmal in Richtung Mekka. Im Lager flammten nun die ersten Feuer auf. Der Duft von Hammelfleisch, gesalzenen Okraschoten und frisch gebackenen Brotfladen zog zu ihr herüber.
Florences Magen knurrte. Sie kannte all diese Köstlichkeiten aus der Zeit, in der sie in Suleimans Küche gearbeitet hatte. Die Frauen in der Zelle hatten heute Abend jedoch nur hartes Brot und Ayran bekommen. Die gesäuerte und gesalzene Schafsmilch wollte ihr wieder aufsteigen.
Ein Säugling in ihrem Käfig begann zu weinen. Die Mutter gab ihm die Brust und summte dabei ein leises Lied. Florence wandte den Blick ab. Nach dem, was Suleimans Freund, der sich »der Doktor« nannte, ihr angetan hatte, würde sie selber keine Kinder mehr haben können. Es wurde Nacht. Der Abendstern hatte mittlerweile Gesellschaft bekommen. Wolken hingen am Himmel, so violett und verformt wie die samtenen Kissen in Suleimans Rauchzimmer.
Die Stimmen der Händler wurden nun lauter. Sie hatten fertig gegessen und getrunken und begannen nun wie üblich die Würfel- oder Backgammon-Spiele. Natürlich würden sie sich auch heute wieder um die Gewinne streiten. Gut, dachte Florence. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann sollte Suleiman kommen und sie zu sich in sein Zelt holen. Sie schloss die Augen, vergrub ihr Gesicht in ihren schmalen Händen und begann ein Gebet zu flüstern, an das sie sich nur noch in Bruchstücken erinnern konnte. Vielleicht konnte es in dieser Stunde der Not auch ihren Geist reinigen.
»Vater Unser, der Du bist im Himmel ...«
Sie stockte. Die Wolken hatten den Platz mittlerweile in völlige Dunkelheit getaucht.
»Unser täglich Brot gib uns heute ...«
Sie dachte an ihr karges Abendmahl, das ihr noch im Magen lag.
»Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...«
In Suleimans Zelt konnte man in dem flackernden Licht einen Schatten umherwandern sehen. Alles Wasser der Donau und des Bosporus konnte ihn nicht mehr von seiner Schuld reinwaschen. Florence versuchte, sich an die letzten Worte des Gebetes zu erinnern.
Maja, die Magd ihrer Eltern in Ungarn, hatte es mit ihr vor dem Zubettgehen gebetet, damals, vor so langer Zeit. Auch während der großen Unruhen von 1848 hatte Maja dieses Gebet geflüstert, als sie Florence unter ihrem Rock versteckt hatte. Die Dunkelheit dieser Glocke aus Stoff hatte sie schützend umgeben. Eine Dunkelheit, die nach Kartoffelsuppe mit Pfefferwürsten und den Kampfersäcken in Majas Kleidertruhe gerochen hatte.
Die Dunkelheit hatte Majas Stimme gedämpft, als sie während des Überfalls der Partisanen gebetet hatte. Florence erinnerte sich nicht nur an dieses geweinte Gebet. Sie erinnerte sich auch an die Schüsse, die Schreie, die Messer, die Leichen, das Feuer. An den scheinbar endlosen Marsch an Majas Hand, an die vielen Häuser in den zahlreichen Städten, in denen Maja gearbeitet hatte, ehe der Krieg sie wieder einholte und sie als Flüchtlinge in Suleimans Hände gefallen war.
Maja war sofort weiterverkauft worden. Damals war Florence noch ein Kind gewesen, heute kannte sie ihr genaues Alter nicht mehr. Sechzehn, siebzehn Jahre vielleicht? Sie versuchte, sich mit den anderen Mädchen zu vergleichen, doch keine von ihnen war weiß oder war Florence ähnlich. Florence suchte noch nach den letzten Worten des Gebets.
»Denn Dein ist das Reich und die Kraft, und die Herrlichkeit, Amen«, schloss sie beinahe erleichtert. An all das, was ihre Welt zerstört hatte, konnte sie sich genau erinnern, nicht aber an diese Welt selber. Sogar Majas Gesicht, breit und gutmütig, jedoch vom Leben zerfurcht, war aus ihrer Erinnerung verschwunden. Geblieben war ihr nur ihr eigener Name, Florence Finnian von Sass.
Sie sah hinüber zu Suleimans Zelt, dann nach oben in den Himmel. Pass auf, Mond! Morgen wirst du uns als freie Menschen sehen.
»Bezen, bist du wach?«, flüsterte Florence in einfachem Türkisch, das sie inzwischen aufgeschnappt hatte. Sie streckte den Arm über den Körper einer anderen Frau hinweg, um Bezen an der Schulter zu berühren. Diese blickte auf.
Florence verspürte Mitleid, als sie ihr ins Gesicht sah und strich ihr übers Haar. Suleiman hatte Bezen gestern Nacht in sein Zelt geholt, und jetzt war eines ihrer Augenlider geschwollen.
»Bist du bereit?«, fragte Florence leise. Bezen nickte. Sie wollte lächeln, fasste sich aber nur an den Mundwinkel.
»Bist du denn bereit? Es wird nicht leicht werden«, warnte Bezen. »Heute wird es das letzte Mal sein, dass er mich berührt, das schwöre ich bei Gott. Er säuft sich danach immer völlig besinnungslos, dann kann ich ihm den Schlüssel abnehmen, sobald er einschläft. Bleib bloß wach und warte auf mich!«, ermahnte Florence ihre Freundin. Bezen lachte.
»Ich will vor dem Markt bestimmt keinen Schönheitsschlaf halten. Ich werde auf dich warten, keine Angst!«
Florence strich Bezen liebevoll über das Haar. In diesem Augenblick hörten sie ein Pfeifen. Suleiman hatte sich vom Lagerfeuer erhoben, und seine Hunde folgten ihm augenblicklich bei Fuß. Er trat an den Käfig und hantierte mit seinem Schlüsselbund. Suleiman war schon jetzt so betrunken, dass er das Schloss zwei Mal verfehlte, ehe er es mit dem Schlüssel fand. Er fluchte leise.
Als sich die Tür öffnete, hoben einige der Mädchen den Kopf. Sie erhofften sich wohl Vorteile davon, das Bett mit den Händlern zu teilen.
Wir werden ja doch alle verkauft, dachte Florence nur. Suleiman schnalzte mit der Zunge und deutete dann mit dem Kinn in Florences Richtung. Diese erhob sich ohne zu zögern, nickte Bezen rasch zu und stieg über die anderen Frauen hinweg, die ihr murrend Platz machten. Suleiman griff Florence am Arm und zog sie hinter sich her. Als sie sich noch einmal nach Bezen und den anderen umdrehte, hatte das Dunkel der Nacht bereits den Käfig und seine Insassen geschluckt.
Das Feuer in der Mitte von Suleimans Zelt war bereits bis auf die glühende Asche niedergebrannt. Dennoch herrschte unter dem gewachsten Leinentuch zwischen den Birkenpfeilern eine angenehme Wärme, die Florence wie eine Liebkosung empfand. Auf einer Reisetruhe, die Suleiman auch als Schreibunterlage diente, brannten drei Kerzen in einem Messingständer. Eine Rolle Papier lag offen darauf, beschwert mit einer Feder.
Die Tinte daran schien eingetrocknet, nachlässig war Sand über den Brief gestreut worden.
Daneben sah Florence einen Holzteller voll Gebäck, das nur aus Zuckersirup und Pistazien zu bestehen schien ... In einer hohen Kupferkanne mit langem Schnabel und tiefem, rundem Bauch dampfte frisch gebrühter Kaffee.
Florence schnupperte wie sehr sehnte sie sich nach dem heißen, bitteren Geschmack. Eine alte Dienerin rollte gerade einen Teppich vor dem Feuer aus. »Mach, dass du wegkommst!«, rief Suleiman und jagte sie mit einem Fußtritt davon.
Florence blieb am Eingang des Zeltes stehen. Zwar hielt sie die Augen gesenkt, sie verfolgte aber jede von Suleimans Bewegungen. Sie beobachtete, wie er seinen Gürtel mit dem Dolch, der Pistole und dem Schlüsselbund neben sein Kissen auf der niederen Bettstatt ablegte. Suleiman streckte sich. Er löste den Gurt seiner Wickeljacke und streifte sie ab. Sein Bauch hing nun in Ringen über den Bund seiner Hose. Als er ihren Blick bemerkte, lachte er laut auf.
»Komm rein, du kennst dich doch aus! Eigentlich schade, dass ich dich verkaufen muss. Ich habe mich an dich gewöhnt, Florence. Obwohl du mir schon zu alt bist, mittlerweile. Ich mag meine Mädchen jung und knackig.«
Florence rührte sich nicht. Suleiman ging zu seiner Reisetruhe und nahm ein Stück Gebäck von dem Tablett und kam auf sie zu.
»Hier. Ich weiß, dass du in meinen Küchen immer davon gegessen hast.« Florence zögerte einen Augenblick, nahm sich dann das Gebäck und schob es in den Mund. Sie konnte ihre Gier nicht verbergen. Es schmeckte, als ob eine Kugel aus Licht in ihrem Mund zersprang.
Suleiman lachte wieder. Er stand nun nahe vor ihr und griff ihr in die Haare. Mit einem Ruck zog er ihren Kopf nach hinten.
»Du hast immer gewusst, dass ich dich eines Tages verkaufen muss, nicht wahr? Ich kann mir Wohltätigkeit nicht leisten.«
Florence nickte. In seinen Augen tanzte der Teufel der Trunkenheit. Der Gott der Türken hatte ganz recht, wenn er ihnen den Alkohol verbot. Ein nüchterner Suleiman war zu ertragen. Oder hatte sie nur gelernt, ihn zu ertragen? Sie erinnerte sich noch an den Abend, als er zum ersten Mal in das Viertel der Christen gegangen war, um dort zu trinken. Es war der Abend des Tages gewesen, an dem sein kleiner Sohn unter die Räder eines Marktkarrens geraten war.
Der Junge war nicht wieder aufgestanden. Nach seiner Rückkehr aus dem Christenviertel war Suleiman nicht mehr derselbe gewesen. Nun griff er ihr fester in die Haare. Florence unterdrückte einen Schmerzenschrei.
Suleiman fuhr fort: »Aber du bist mir teuer, Florence. So teuer, dass hoffentlich nun auch jemand für dich ein hübsches Sümmchen bezahlen wird.« Er hielt kurz inne.
»Bin ich dir auch teuer?« Seine Stimme klang nun, als sei er den Tränen nahe. Wieder nickte Florence und schluckte ihre Tränen hinunter: Es war keine Lüge. Suleiman mochte ein Teufel sein, doch zumindest kannte sie ihn gut genug, um ihn einschätzen zu können.
Was erwartete sie, falls ihr die Flucht gelang? Welches Schicksal lag vor ihr, sollte sie doch auf dem Markt verkauft werden? Würde sie die Kraft aufbringen können für das, was Bezen und sie vorhatten? Unvermittelt presste Suleiman seine Lippen auf ihre. Florence schmeckte seinen von Schnaps scharfen Atem.
»Ich will nicht«, sagte sie. Suleiman drückte sie nur in die Knie. Was auch immer mit dir geschehen wird, Florence verletzen können sie nur deinen Körper, nicht deine unsterbliche Seele, vergiss das nie. Das waren Majas letzte Worte gewesen, ehe auch sie in die Sklaverei geführt worden war.
Als er endlich von ihr abgelassen hatte, sank Florence nach hinten auf den Teppich. Sie wagte es nicht, auszuspucken. Im Zorn konnte Suleiman furchtbar sein, das konnte sie nicht riskieren.
Denn sie musste leben, um zu fliehen: Heute Nacht. Indessen drehte sich Suleiman um und ging zu der Truhe, um eine Lade zu öffnen. Eine Karaffe mit Pflaumenschnaps kam zum Vorschein, die er ansetzte und in einem Zug halb leer trank.
»Teufelszeug«, hörte Florence ihn murmeln, als er die Karaffe zurück in die Lade stellte. Suleiman ließ sich seufzend auf seine Bettstatt mit den Fuchsfellen und wollenen Decken fallen, so, als sei Florence nicht mehr da. Doch dann drehte er sich zu ihr und sagte die Worte, die sie zu hören gehofft hatte: »Leg dich hier neben mich, Mädchen. Ich will in der Nacht nicht frieren.«
Dabei klopfte er neben sich auf das Polster. Florence gehorchte. Suleiman legte den Arm um sie und drückte sie an sich. Sie ließ es geschehen und konnte den Rauch der Lagerfeuer und den Schweiß des Tages an seiner Haut riechen, obwohl er am Morgen das Badehaus in Widdin besucht hatte.
Es dauerte nicht lange, und er schnarchte mit offenem Mund. Speichel lief ihm vom Mundwinkel über das Kinn. Florence kauerte neben ihm auf dem Bett. Sie sah ihn an. War er nun eingeschlafen?
Sie wagte es kaum, zu atmen. Vorsichtig löste sie seinen Arm von ihrer Schulter.
Er grunzte nur und drehte sich auf die Seite. Sie blickte in sein vom Kissen zerdrücktes Gesicht. Die Schatten ließen es wie zerschlagen wirken, wie die Gesichter der Männer, die sich auf dem Marktplatz für Geld verprügeln ließen. Nach einer Weile bewegte sie ihre Hand langsam, ganz vorsichtig, hin zu dem Schlüsselbund, der dicht neben der Wand an Suleimans anderer Seite lag.
Ihre Finger legten sich um das kalte Metall. Jetzt! Suleiman drehte sich auf die andere Seite, und Florence fuhr zurück. Sie blieb still sitzen. Als er wieder zu schnarchen begann, griff sie noch einmal
zu. Dieses Mal ohne zu zögern. Florence löste den Schlüsselbund von dem Gurt, an dem er befestigt war, und stand leise auf. Ihr Blick fiel auf das Tablett mit dem Gebäck.
Für die kommenden Stunden würde sie viel Kraft brauchen. Florence nahm sich erst ein, dann zwei Küchlein von dem Teller. Anschließend schlüpfte sie, ohne Suleiman noch einmal anzusehen, auf leisen Sohlen aus dem Zelt. Die Wolken hatten das Licht der Sterne und des Mondes inzwischen vollständig erstickt. Die Maultiere und Pferde standen dicht aneinandergereiht und mit gesenkten Köpfen in ihrem Gatter.
Im Dunkeln sah Florence die Pfeife der Nachtwache aufglühen und hörte den Mann lachen. Die Feuer im gesamten Lager waren bereits niedergebrannt. Vor der letzten Glut konnte sie die Rücken der Händler erkennen, die dort lagen und schliefen. Gut. Einen Augenblick lang überlegte sie, einfach fortzulaufen: Allein, ohne Bezen, und ohne noch einmal zu dem Zwinger zurückzukehren. Nein! Sie ermahnte sich: Ihre Freundin wartete schließlich auf sie.
Florence aß ein Stück Gebäck, das andere wollte sie Bezen mitbringen. Wenn sie erst frei waren, würden sie so etwas jeden Tag essen, schwor sie sich. Nur von Honig und Pistazien sollten sie leben! Dann begann sie zu laufen, über das flach gedrückte Gras hinweg. Sie spürte die scharfen Halme unter ihren nackten Füßen. Hoffentlich war Bezen wach geblieben!
Florence war am Käfig angekommen und tastete in der Dunkelheit nach dem Türschloss. Ihre Finger fanden den Riegel und auch das Schloss, das Suleiman von einem Meister in Konstantinopel hatte anfertigen lassen. Es war gut geölt, und die Feder sprang lautlos zurück, als Florence den Schlüssel zwei Mal umdrehte.
»Bezen! Wach auf! Komm, schnell, wer weiß, wie lange er schläft!«, flüsterte sie in die Dunkelheit.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Weißer Nil
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Autoren-Porträt von Ellen Alpsten
Ellen Alpsten wurde 1971 in Kenia geboren und verbrachte dort ihre Kindheit und Jugend. Ende der siebziger Jahre kehrte sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurück und studierte Jura, Philosophie, Politik und Wirtschaft in Köln und Paris. Neben dem Schreiben war sie schon als Journalistin, Botschaftsmitarbeiterin, TV-Produzentin und Moderatorin tätig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ellen Alpsten
- 408 Seiten, Maße: 13 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003940
- ISBN-13: 9783868003949
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