Die Stadt der toten Seelen

Wagen des Mannes stand vor dem Haus. Sie h tte den Weg zum Seeufer einschlagen k nnen, in der Hoffnung, dass jemand aus der Stadt sie vom anderen Ufer aus sehen w rde, doch der See ist zu breit. Sie sp rt die Kluft, die sich zwischen ihr und der Sicherheit auftut, f hlt sich verloren in dieser Weite. Ihre einzige Hoffnung ist der Highway, der Richtung Norden durch den Wald f hrt.

Sie erinnert sich an den Blick ihres Verfolgers, den sie beinahe umgerannt h tte, als sie in dem bauf lligen Haus um die Ecke bog. Panik erkannte sie darin. Und Misstrauen. Genau das f hlte sie auch. Funkelnde Augen in verdreckter Umgebung. Ein schwacher Glanz unter seiner offenen Jacke, wo sich das Licht in seiner Waffe spiegelte, die im Halfter unterhalb seiner Schulter steckte. "Ich bin Polizist." Er sprach mit fremdem Akzent, und seine nach oben kippende Stimme verriet ihn. Sie h rte ihn vor berraschung schwer ausatmen, als sie die Beherrschung verlor und losrannte, als sie sich bewusst wurde, wie allein sie war.

Mit brennenden Muskeln lief sie eine leichte Steigung hinauf, den Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Abgehackt st t sie den Atem aus, versucht, nicht auf ihren m den K rper zu achten, sondern weiterzurennen. H rt ber dem Dr hnen des Blutes in ihren Ohren nicht einmal mehr die Schritte des Mannes.

Ein schwarzer Blitz explodiert vor ihr, und pl tzlich schmeckt sie Erde, sp rt tote Bl tter an ihrer Wange. Nebel in ihrem Kopf. In ihrem Mund ein warmer Geschmack nach Kupfer, der Schmerz eines herausgebrochenen Zahnes raubt ihr fast die Sinne, w hrend sie versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Ein schweres Gewicht auf ihrem R cken hindert sie daran, Arme und Beine f hlen sich an wie Gummi.

Als sie den Mund ffnet und die ersten T ne eines Schreis aus ihrer Kehle brechen, packt eine Hand ihr Haar und rei t ihren Kopf nach hinten. Ein Schmerz, als w rden tausend kleine Nadeln ihre Kopfhaut durchbohren, dann kaltes, d nnes, scharfes Metall an ihrem Hals.

In der Millisekunde, die das Messer braucht, um eine rote Linie ber ihre Kehle zu ziehen, denkt sie an ihre Eltern, die ihr zuwinken, als sie im Taxi zum Flughafen f hrt. Sie denkt an ihre zweij hrige Cousine Charlie, die mit ihren Geburtstagsgeschenken spielt. Sie stellt sich ihre Freunde vom College vor, wei , dass sie sich nicht mit ihnen ber ihren Abschluss freuen kann. Sie versucht, sich an alle zu erinnern. Ein letztes Mal.

Aus ihren durchtrennten Adern spritzt Blut ber den Waldboden und ffnet den Weg, auf dem ihre Seele folgen kann.

Ein schreiendes Baby.

Ein Foto in einem Jahrbuch.

Ein Gesicht auf einem Milchkarton.

Ein Name auf einem Grabstein.

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Ein H rsaal, mehr oder weniger wie alle anderen auch. Reihen mit gepolsterten B nken ziehen sich nach oben bis zu einer niedrigen, breiten Fensterfront und umrunden das Podium wie die Sitze in einem r mischen Amphitheater. Vierzig, vielleicht f nfzig M nner und Frauen verteilen sich auf den ersten sechs Reihen im Auditorium - und sind sehr konzentriert, wie ich am siert feststelle. W rde ich diese Pr sentation am College halten, w rden sich alle in die hinteren Reihen dr ngen, und nur die H lfte der Sch ler w rde wirklich zuh ren. Hier sind alle Augen entweder auf den Sprecher neben mir oder auf die Notizbl tter vor ihnen gerichtet. Die Zeiten ndern sich.

"Ihre Lehrer auf der Akademie haben Ihnen vielleicht erz hlt, dass es, grob gesagt, zwei Arten von Verd chtigen gibt", doziert Robin Garrett, der Mann neben mir. Mein Chef und ein Freund, mit dem ich zuf llig zusammenarbeite. "Da sind diejenigen, die sich einfach nur von ihrem schlechten Gewissen befreien wollen. Auch wenn es eine Weile dauert, bis Sie ihnen alles aus der Nase gezogen haben, gestehen sie letztendlich, weil sie sich jemandem anvertrauen wollen. Dann sind da noch diejenigen, die sich bedeckt halten und nichts rausr cken."

Die meisten Interessenten, die an diesem tr ben Donnerstagabend Anfang November hier erschienen sind, um unseren weisen Worten zu lauschen, sind Auszubildende an der Bostoner Polizeiakademie. Der Rest sind frischgebackene Polizeibeamte, die ein oder zwei Stunden ihrer Freizeit opfern, um ihre Verhaftungsquote in die H he und ihre Bef rderung zum Detective voranzutreiben.

"Diejenigen, die schlie lich zusammenbrechen und Ihnen alles verraten, was sie wissen, sind kein Problem", f hrt Rob fort. "Es ist die zweite Gruppe, egal, ob es sich um erfahrene Kriminelle oder nur um Dickk pfe handelt, an denen Sie sich die Z hne ausbei en."

Wenn ich w hrend Robs einzelnen Atempausen genau lausche, h re ich, sogar ber dem Summen des Projektors, der die Wand hinter uns beleuchtet, wie der Hagel gegen die Fenster prasselt. Bei jeder Windb noch st rker. Rhythmisch wie ein schlagendes Herz oder wie hundert Stundengl ser, die alle auf einmal umgedreht werden.

"Alex wird gleich ber Verh rtechniken und dar ber referieren, wie Sie Ihr Verhalten dem einzelnen Verd chtigen anpassen. Das ist sein Metier. Meines ist die richtige Vorbereitung, um Ihre Erfolgschancen zu maximieren, egal, ob Sie es auf ein Gest ndnis oder nur auf Informationen abgesehen haben."

Hin und wieder halten wir solche Vortr ge. Das Police Department von Boston bezahlt uns eine kleine, aber angemessene Summe, um vor diesen Anf ngern bei der Streifenpolizei oder den Sch lern, die begierig darauf sind, bald ihre Marke in der Hand zu halten, unsere abendlichen Vorlesungen zu halten. Wir bauen auf unserer Erfahrung auf
- Rob als ehemaliger FBI-Agent im Au endienst, ich als Exspezialist beim NCAVC, dem Nationalen Zentrum zur Analyse von Gewaltverbrechen. Damit pflegen wir einerseits unser gutes Verh ltnis zum Police Department von Boston, das im Gegenzug etwas besser ausgebildete Polizisten bekommt. Alle sind gl cklich.

"Ihre Chance, dem ganzen Quatsch und den L gen Einhalt zu gebieten, die man Ihnen vorsetzen will, steigt wesentlich, wenn Sie im Vorfeld und bevor es berhaupt zum Gespr ch kommt, gen gend relevante Beweise und Informationen gesammelt haben. Sie k nnen einem Verd chtigen sogar weismachen, Sie w ssten mehr, als dies tats chlich der Fall ist - ein kleiner Trick, damit er sich verr t." Er macht eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. "Sie m ssen es nur richtig anstellen."

Rob dr ckt eine Taste auf seinem Laptop, woraufhin die Farbe auf der Leinwand hinter mir wechselt. Ich wei , ohne hinzuschauen, dass er ein Bild des dreiundzwanzigj hrigen Bernard Leon zeigt, der vor zwei Jahren in Phoenix wegen Mordes angeklagt war. Jetzt folgt Robs Teil der Vorstellung. Danach wird er den Zuh rern zwei Beispiele pr sentieren, bei denen die Polizei ihren Fall allein auf einem Gest ndnis aufbaute. Einmal mit Erfolg, einmal ohne. Nach der Geschichte der verpfuschten Ermittlungen im Fall Leon wird er ihnen von Dan Rothman erz hlen, einem Berufsverbrecher, der verd chtigt wurde, einen Juwelierladen in Detroit berfallen zu haben. Der Detective, der ihn schlie lich zu einem Gest ndnis n tigte, wurde daraufhin bef rdert.

Ich versuche unauff llig, auf meine Uhr zu schauen. Wie berall in Boston ist auch dies ein Nichtrauchergeb ude. Ich muss warten, bis wir am Ende der Vorlesung die blichen Fragen beantwortet und die Plaudereien hinter uns gebracht haben, bevor ich mir eine Zigarette anstecken kann. Seit neuestem versucht meine Freundin, mich zu berzeugen, dass drei ig St ck am Tag zu viel sind, aber bisher ohne Erfolg. Ich habe einfach nicht die Willenskraft, auch wenn die Bereitschaft, damit aufzuh ren, langsam steigt. Schlie lich wird es immer schwieriger, woanders als zu Hause zu rauchen.

Ich blicke nach hinten zu den Fenstern. Ein Meter hoch, zwei Meter breit. Schwarze, briefschlitzgro e ffnungen in die Dunkelheit. Winzige silberne Punkte glitzern dahinter, die eher an einen Sternenhimmel in der dunklen Nacht als an die Lichter der Stadt erinnern, die sich in den an der Scheibe hinablaufenden Tropfen spiegeln. Meine Gedanken schweifen ab, w hrend ich die unz hligen Tropfen beobachte, die im Nichts verschwinden. Ich muss einkaufen und W sche waschen. Ich denke bers Wochenende nach.

"Und jetzt wird Alex Rourke auf die unterschiedlichen Verh rtechniken eingehen", beendet Rob seinen Vortrag und holt mich in die Gegenwart zur ck. "Alex, die B hne geh rt dir."

Ich erhebe mich und spule im Kopf kurz meinen Vortrag ab. Etwa einhundert Augen blinzeln mir entgegen, als ich beginne.

Eineinhalb Stunden sp ter haben die letzten Neuzug nge der Bostoner Polizei den H rsaal verlassen, so dass Rob und ich einpacken und nach Hause gehen k nnen. Ich habe gerade meinen Laptop in die Aktentasche gesteckt, als die Seitent r wieder ge ffnet wird und Lieutenant Aidan Silva eintritt, ein Mann, der was B renhaftes an sich hat. Wuscheliges, kastanienbraunes Haar passend zu einem buschigen Bart, beides durch sein fortgeschrittenes Alter leicht grau gesprenkelt, dazwischen eine kr ftige Nase und zwei dunkle, tief liegende Augen. Wie und wann er und Rob Freunde wurden, wei ich nicht. Silva reicht seine Tatze zuerst Rob, dann mir.

"Ich wei nicht, was deine Leute denen ins Essen getan haben, Aidan", meint Rob, w hrend er unsere Aufzeichnungen in eine Tasche stopft, "aber am Ende haben die ein paar richtig intelligente Fragen gestellt. Haben mich eiskalt erwischt."

Silva zeigt seine Z hne, w hrend er grinst. "Ich habe geh rt, dass einige von ihnen sogar beim Laufen Kaugummi kauen k nnen", erwidert er. "W re gut, wenn das nicht der Anfang von einer neuen Entwicklung ist, sonst bin ich in ein paar Jahren berfl ssig."

"Das gilt f r uns beide. Dann landen wir gemeinsam im Altenheim. Alex kann sich um uns k mmern und uns immer die neue Sports Illustrated vorbeibringen. Warum bist du eigentlich hier?"

"Jolene hat beschlossen, f r den Samstagabend ein paar Leute zum Essen einzuladen", erz hlt Aidan. "Ich wollte schauen, ob ihr beide Zeit habt. Sie will nicht, dass es eine Polizeiversammlung wird, so dass ich so viele befreundete Nichtpolizisten zusammentrommeln muss, wie ich kann. Andernfalls muss ich mich mit den Nachbarn unterhalten." Er erschaudert.

"Klingt gut", sagt Rob. "Wie ist's mit dir, Alex?"

Ich zucke mit den Schultern. "Muss ich erst abkl ren. Gemma kommt morgen Abend, also liegt's an ihr, ob wir dabei sind oder nicht."

"Also, wenn sie Samstag Lust hat, mit uns was zu trinken, dann bei mir um acht", entgegnet Silva. "Wir sehen uns, oder auch nicht."

Ich winke ihm nach, als er gem tlich zur T r hinausschlendert, dann sehe ich mich um, ob wir auch nichts vergessen haben. Rob und ich gehen auf den Parkplatz hinaus, ziehen aber automatisch die K pfe ein, als wir uns, den Schutz des Geb udes verlassend, der Gewalt der Elemente aussetzen.

"Hast du heute Abend noch was vor?", fragt Rob, ungeachtet dessen, dass uns beiden das Wasser in den Kragen und unters Hemd l uft.

"Hab noch zu tun", antworte ich und streiche mein Haar zur ck, das an meiner Stirn klebt. "Muss die Wohnung in Ordnung bringen, bevor Gemma kommt."

"Verausgabe dich nicht. Du hast gleich morgen fr h als Erstes ein Treffen mit einem Klienten."

Ich verziehe das Gesicht, als h tte ich Schmerzen, bevor ich zu meinem Wagen eile. Selbst in diesem Regenguss macht die 69er Stingray Corvette eine gute Figur - ein Benzin saufendes St ck Geschichte, das ich in Boston nur selten fahre. Die rennbootartigen Umrisse passen hervorragend in diese nasse Umgebung. Ich tauche in das wohlige Innere ab und bleibe einen Moment sitzen, reibe mir das Wasser aus den Augen, w hrend ich versuche, mir warme Gedanken zu machen. Vor mir l uft der Regen an der Windschutzscheibe hinab, vermischt mit schmelzenden Eiskristallen. Nur verschwommen erkenne ich Robs R cklichter, bevor sie v llig verschwunden sind.

Erst jetzt erwache ich mit einem Ruck aus meiner Trance und krame in meiner abgenutzten, braunen Lederjacke nach einer Zigarette.

Am n chsten Morgen treffe ich um zwei Minuten nach neun vor dem Haus ein, in dem sich unsere Firma befindet. Ein vierst ckiges rotes Backsteingeb ude, das zwar nicht unbedingt geschmackvoll ist, aber auf den Brosch ren, die Rob hin und wieder f r potenzielle Kunden zusammenstellt, einigerma en gut aussieht. In der Eingangshalle liegen, neben den hnlichen PR-Versuchen der anderen f nf hier ans ssigen Unternehmen, einige dieser Werbeschriften herum.

Robin Garrett Associates steht in gestochen scharfer Schrift auf dem Deckblatt. Zugelassene Privatermittler - Zustellungen gerichtlicher Verf gungen, Sicherheitsberatung f r Unternehmen und kriminalistische Beratung. Die meisten Brosch ren landen in den H nden von nerv sen Chefs kleiner Klitschen mit problematischen Mitarbeitern, verd chtigen Schmalspurbetr gern oder anderen Vertretern aus dem Angestelltenmilieu. Damit verdienen wir die meisten unserer Br tchen. Beim zweiten Bereich - ebenfalls einer, um den sich die Polizei selbst k mmern w rde, h tte sie nicht dringendere Probleme - geht es um vermisste Personen. In einer College-Stadt wie Boston brechen viele Studenten ihr Studium und anschlie end den Kontakt zu ihren Eltern ab, wenn diese ihre Meinung ber so ein Verhalten kundtun. Sobald sich die Wogen gegl ttet haben, ben tigen die abgewiesenen Eltern mitunter Hilfe, um ihre auf Wanderschaft befindlichen Abk mmliche ausfindig zu machen. An diesem Punkt sind dann wir gefragt.

Schlie lich gibt es noch die vermissten Personen, die nicht studieren und deren F lle weitaus schwieriger und von einer weitaus geringeren Aufkl rungsrate gekr nt sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem Fall von heute Morgen um einen solchen handelt, wenn die Vorinformationen stimmen, die unsere Sekret rin Jean telefonisch erhalten hat.

Jean hat es sich gerade erst auf ihrem Stuhl bequem gemacht, als ich aus dem Fahrstuhl trete und auf unser B ro zustrebe. Ich bezweifle, dass Rob oder einer unserer Angestellten schon da ist. "Morgen, Alex", begr t mich Jean mit einem L cheln.

"Genau den haben wir, das sp re ich f rmlich", erwidere ich. "Meine innere Uhr sagt, dass ich eigentlich noch schlafen sollte."

"Harte Nacht? Wie ist die Vorlesung gelaufen?"

"Ganz gut, wie blich. Aber ich musste noch drei Stunden lang meine Wohnung aufr umen. Bin erst um Mitternacht ins Bett."

Sie sch ttelt den Kopf. "Das n chste Mal, wenn ein Klient anruft, sage ich, dass wir so fr h keine Termine vergeben, weil unsere Mitarbeiter nicht vor Mittag aus dem Bett kommen. Ich hasse es, dich um deinen Sch nheitsschlaf zu bringen."

"Danke, Jean. H rt sich gut an. Ich werde es Rob weitersagen."

Sie lacht, als ich an ihr vorbei in unser luftiges Gro raumb ro gehe. Einigerma en ordentlich, aber trotzdem mit der Ausstattung, die f r ein stolzes Kleinunternehmen unentbehrlich ist. Ich bin etwas entt uscht, als ich feststellen muss, dass Kathryn, eine unserer Praktikantinnen - "die Kleinen" - mir zuvorgekommen ist. Das Gef hl l sst aber rasch nach, als mir klar wird, dass sie die Zeit genutzt hat, um Kaffee zu kochen. Noch bevor ich mich setze, bediene ich mich. Kaum kann ich zwischen den Papierbergen auf meinem Schreibtisch einen Platz f r meine Tasse finden, als das interne Klingelzeichen des Telefons meldet, dass meine Klientin eingetroffen ist.Ich blicke auf, als die T r am anderen Ende des B ros ge ffnet wird und eine Frau - irgendwas ber vierzig - z gernd ber die Schwelle tritt. Dunkles, leicht angegrautes Haar, streng im Nacken zusammengebunden. Brille mit Metallgestell, faltiges, fahl wirkendes Gesicht. Smaragdgr ner Wollmantel, pechschwarzer Pullover mit passender Hose. Bequeme Schuhe. Sieht alles ziemlich neu aus. ber ihrer Schulter h ngt eine braune Ledertasche.